Das Überraschendste beim gegenwärtigen Sozialabbau ist die relative Ruhe, mit der die Betroffenen und selbst die Gewerkschaften die Demontage der sozialen Sicherungssysteme hinnehmen. Noch zu Zeiten der Kohl-Regierung haben weitaus geringere Einschnitte, etwa bei Blüms Rentenreform oder dem Angriff auf die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, wesentlich größere Proteste hervorgerufen, als sie Schröder bei der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe oder des Krankengeldes zu fürchten hatte. Wenn die so genannte Reformpolitik nach Hartz und Agenda 2010 trotzdem für Wirbel sorgt, dann handelt es sich viel weniger um Widerstand, als um einen Variantenstreit, ohne dass die Richtung selbst in Frage gestellt würde.
Die einfachste und wahrscheinlich auch zutreffende Erklärung für diese relative Ruhe ist, dass die Demontage des Sozialstaates von einer SPD vorangetrieben wird, der immer noch das Image einer Alternative zum Neoliberalismus anhängt. Einer CDU geführten Bundesregierung wäre es wesentlich schwerer gefallen, den Reformbegriff derart in sein Gegenteil zu verdrehen, wie der SPD als klassischer Reformpartei. Ohne die Verantwortung der SPD am beschleunigten Sozialabbau klein zu reden, sind freilich auch Zweifel angebracht, ob die breite Akzeptanz für Hartz-Gesetze und Agenda 2010 wirklich ihrem Einfluss zu verdanken ist. Mit Sicherheit muss sie die Verantwortung für die konkrete Ausführung wie für die gelungene Befriedungsstrategie übernehmen, aber sowohl die Zielsetzung, als auch die gesellschaftliche Zustimmung müssen in von ihrem Willen unabhängigen Faktoren gesucht werden.
Von entscheidender Bedeutung für die gesellschaftliche Zustimmung zu dieser Politik sind offenbar tiefgreifende Veränderungen im Alltagsbewusstsein, die wahrscheinlich wesentlich weniger durch gezielte ideologische Beeinflussung, als durch reale Umbrüche in der gesellschaftlichen Produktionsweise und der Sozialstruktur verursacht wurden. Auch hinter der ideologischen Einheitsfront, mit der die Massenmedien Verzicht als Reform und Sozialabbau als Rettung des Sozialstaates verkaufen, verbergen sich neben einem erheblichen Maß an Unkenntnis und gezieltem politischen Einfluss vor allem reale Massenstimmungen. Wobei diese Massenstimmungen in der so genannten Mediengesellschaft eine paradoxe Rolle spielen. Zwar richten sich Politik und Medien permanent an Meinungsumfragen und Einschaltquoten aus, so dass die Illusion eines quasi demokratischen Diskurses entsteht. Tatsächlich verallgemeinert dieser angebliche Diskurs lediglich die Mystifikationen und Fetische des Alltagsbewusstseins, so dass der Eindruck eines Zirkelschlusses entsteht, bei dem Politik und Medien durch das Massenbewusstsein und dies wiederum durch Politik und Medien bestimmt scheinen. Dieser scheinbare circulus vitiusus ist jedoch ebenfalls eine Illusion, weil das Alltagsbewusst nichts anderes als eine Widerspiegelung der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse ist. Dieser fehlerhafte Zirkel kann bei der Analyse des gesellschaftlichen Bewusstseins nur durchbrochen werden, wenn, wie es Marx und Engels in der Deutschen Ideologie beschrieben haben, vom wirklichen Lebensprozess der Menschen ausgegangen wird und das Alltagsbewusstsein vor dem Hintergrund der realen gesellschaftlichen Bedingungen interpretiert wird.[1] Der richtige Weg zur Ergründung des gesellschaftlichen Bewusstseinswandels wäre also, die Veränderungen in der gesellschaftlichen Praxis zu studieren, das heißt in Arbeitswelt und Freizeit, vor allem aber auch im Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft.
Die herkömmliche Demoskopie blendet diesen Zusammenhang eben so aus, wie ihren eigenen Einfluss auf die erhobenen Daten. So verfügen wir heute zwar über immer mehr Meinungsumfragen und es gibt so ziemlich keine politische Position oder soziales Werturteil, das nicht durch angeblich signifikante Rechnungen überprüft wurde, aber es ist wie es immer mit der Empirie war: Was die Empiriker messen, das messen sie genau. Aber was sie messen, das wissen sie nicht. So gibt es zahlreiche Meinungsumfragen, die zwar eine relativ hohe Zustimmung zum Sozialstaat widerspiegeln, aber keinerlei Auskunft darüber geben, was darunter verstanden wird. Das gleiche gilt für den Begriff der sozialen Gerechtigkeit, der einerseits als solidarischer Ausgleich verstanden werden kann, aber andererseits genau diesen Ausgleich als ungerecht empfindet. So kommt auch das Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung bei seiner Untersuchung zur Akzeptanz von sozialen Sicherungssystemen zu dem Schluss, „dass die bisherigen Ergebnisse vieles offen lassen. Dies gilt insbesondere für die Wirkung der unabhängigen Variablen wie Ideologien und Interessen.”[2]
Also müsste die Frage nach der Akzeptanz des gegenwärtigen Sozialabbaus und der Zustimmung zur neoliberalen Modernisierung bei der ganz konkreten Analyse sozialer Lagen ansetzen. Das ist jedoch eine ziemlich abstrakte und methodisch schematische Herangehensweise, weil die Individuen nicht nur auf der Grundlage ihrer aktuellen sozialen Lage und objektiven Interessen handeln, wenn diese überhaupt erkannt werden, sondern ihre Zielsetzungen und Entscheidungen hängen viel mehr noch von den psychischen Verarbeitungsformen ab, die sie sich im Laufe ihrer sozialen, kulturellen und auch politischen Lebenspraxis angeeignet haben.
Deutungsmuster – eine fast vergessene Debatte
Als man sich auf der Linken noch intensiver mit dem Zusammenhang von sozialer Lage und gesellschaftlichem Bewusstsein beschäftigte, entstand für diese psychischen Verarbeitungsformen der Begriff der sozialen Deutungsmuster.[3] Die damals gerade in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit heftig geführte Debatte drehte sich um den Angelpunkt, ob GewerkschafterInnen aus ihren unmittelbaren Erfahrungen lernen können oder ob diese Erfahrungen durch Deutungsmuster strukturiert werden, die in der Erfahrungsaufarbeitung erst zu verändern sind. Die Debatte ist Geschichte, aber sie hat auf allen Seiten zu einem weitaus differenzierteren Verständnis von Bewusstseinsinhalten geführt, als es sich heute die meisten Meinungsforscher leisten. Auf eine Kurzform gebracht, werden unter Deutungsmustern psychische Verarbeitungsformen verstanden, mit denen die Individuen ihre Erfahrungen zu einem verstandenen Ganzen verarbeiten. Befragungsergebnisse sind damit Daten, die sich erst interpretieren lassen, wenn man die typischen gesellschaftlichen Deutungsmuster der befragten sozialen Gruppen kennt. Da sich die aktuellen gesellschaftlichen Prozesse im individuellen Bewusstsein nicht als vielfältige aber eben auch widersprüchliche Datenmenge widerspiegeln, sondern erst durch eine Art Interpretaprogramm zu einem verstandenen Ganzen zusammengesetzt werden, ist das Verstehen dieser Verarbeitungsformen eine unverzichtbare Voraussetzung für das Verständnis der realen Bedeutung von Meinungsäußerungen.
Gesellschaftliche Deutungsmuster entstehen aus dem Zusammenwirken von angeeigneter Ideologie, rationalen Kenntnissen und persönlicher Erfahrung und sind relativ dauerhafte psychische Instanzen, die Wahrnehmungen selektieren, Informationen gewichten und daraus gedankliche Abbilder der Wirklichkeit, wie auch ihrer Gestaltbarkeit zusammensetzen. Das heißt aber nicht, dass Deutungsmuster unabhängige psychische Instanzen sind, die keiner Veränderung unterliegen, aber sie verändern sich langsamer als die reale Lebenssituation und ihre Grundstruktur spiegelt sich selbst dann noch wider, wenn der Wechsel der Lebenspraxis zu einem tiefgreifenden Bewusstseinswandel zwingt. In gewisser Weise ähneln gesellschaftliche Deutungsmuster geologischen Strukturen. Sie werden wie diese im Laufe der Geschichte überlagert und scheinen gänzlich zu verschwinden, aber so wie ein längst ausgetrockneter und von Erdmassen verschütteter Fluss immer noch aus großer Höhe erkannt werden kann, spiegeln sich auch im Alltagsbewusstsein der Individuen ihre längst verschütteten Deutungsmuster wider.
Geht man nun der aktuellen Frage nach, wie die Bundesbürger des Jahres 2003 den Sozialstaat verstehen, was sie für sozial gerecht und was sie für ungerecht halten, von welchen normativen Prioritäten ihre Urteile geprägt werden, dann müsste zunächst einmal überlegt werden, von welchen gesellschaftlichen Deutungsmustern ihr Denken strukturiert wird. Wobei der analytische Ausgangspunkt keine abstrakt konstruierten Deutungsmuster sind, sondern, um es noch einmal mit der Deutschen Ideologie zu sagen: „(...) es wird nicht ausgegangen von dem, was die Menschen sagen, sich einbilden, sich vorstellen (...) es wird von den wirklich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem wirklichen Lebensprozess auch die Entwicklung der ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebensprozesses dargestellt.”[4]
Moralökonomie und ökonomische Realität
Die bereits zitierte Studiengruppe am Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung stellt in ihrer Untersuchung fest: „Internationale und vergleichende Untersuchungen kommen übereinstimmend zu dem Schluss, dass das Prinzip des Wohlfahrtsstaates in der öffentlichen Meinung mehrheitlich befürwortet wird. Wenig befriedigend sind dagegen die Erkenntnisse über die Ursachen positiver wie negativer Akzeptanzurteile.”[5] Präziser sind die empirischen Daten über die Akzeptanz bestimmter Leistungen, wie etwa des Arbeitslosengeldes oder der Sozialhilfe. Hier gibt es bei den Befragten eine relativ klare Beurteilung, die sich einerseits auf die eigene Risikoerwartung und andererseits auf ein Abwägen der Kosten mit dem gesellschaftlichen Nutzen stützt Die AutorInnen sprechen in diesem Zusammenhang von Moralökonomie und stellen fest, dass soziale Leistungen so lange akzeptiert werden, wie sie die Gesellschaft vor einem Schaden bewahren.[6] Wobei sich selbstverständlich die Frage stellt, was die Befragten für gesellschaftsschädigend halten, beziehungsweise von welchen Nützlichkeitserwägungen sie sich leiten lassen.
Offensichtlich resultiert die allgemeine Akzeptanz des Wohlfahrtsstaates aus dem gesellschaftlichen Gedächtnis an die Zeiten der Not, in denen er geschaffen wurde, während die Akzeptanz der konkreten Leistungssysteme einer aktuellen Kosten-Nutzen-Analyse unterworfen wird. Diese hohe Wertschätzung des Sozialstaates verbindet sich bei den Befragten jedoch mit einer zunächst sehr widersprüchlich erscheinenden Haltung zu Leistungskürzungen. Einerseits werden allgemeine Leistungskürzungen mehrheitlich abgelehnt, aber andererseits erscheinen ihnen Leistungskürzungen „angesichts der Rahmenbedingungen (...) unvermeidlich. Verantwortlich dafür sei ein zunehmendes Missverhältnis zwischen der Anzahl der Erwerbstätigen und der hohen Zahl an Arbeitslosen.”[7] Dieser Widerspruch zwischen Ablehnung und Akzeptanz von Leistungskürzungen lässt sich wahrscheinlich leicht auf die öffentliche Debatte zurückführen, in der seit Jahren entgegen aller empirischen Realität schrumpfende Verteilungsspielräume und wachsende Wettbewerbsprobleme unterstellt werden. Die Befragten halten zwar an ihren alten sozialen Deutungsmustern fest, haben sie aber inzwischen durch neue Deutungsmuster erweitert, die dem aktuellen gesellschaftlichen Diskurs entsprechen. Es hat den Anschein, als wenn die rot-grüne Bundesregierung diese gegensätzlichen Bewusstseinsdispositionen wesentlich besser einzuschätzen vermag als die Vorgängerregierung, die den Sozialabbau weitaus stärker ideologisch begründete, die Missbrauchsdebatte belebte und einen abstrakten Modernisierungsdiskurs führte.
Das mag auch die relative Ruhe erklären, mit dem der sozialdemokratische Sozialabbau akzeptiert wird, denn insbesondere die Sozialdemokratie, weniger die Grünen, verkleiden ihre sozialen Raubzüge als unausweichliche Maßnahme zur Rettung des Sozialstaates und als Umschichtung der Ressourcen für soziale Zukunftsinvestitionen. Eine herausragende Rolle spielen dabei Ausgaben für Wissenschaft und Forschung, aber gerade auch für die Verbesserung der Kinderbetreuung oder den Aufbau von Ganztagsschulen. Die sozialen Grausamkeiten werden nicht geleugnet, aber mit dem Hinweis auf die Bedrohung des Sozialstaates und der Notwendigkeit anderer sozialer Investitionen gerechtfertigt. Dieses Argumentationsmuster scheint um so plausibler, je mehr die sozialstaatlichen Prinzipien verblassen und desto weniger soziale Gerechtigkeit als Verteilungskompromiss zwischen Arbeit und Kapital verstanden wird. Das grundlegende Denkmuster geht von einem Teilen innerhalb der Klasse aus. Einem Denken, das nicht mehr durch die älteren Deutungsmuster der Kriegs- und Nachkriegsgeneration und der Vorstellung einer ausgleichenden sozialen Marktwirtschaft bestimmt wird, sondern von der in den vergangenen Jahren zur gesellschaftlichen Maxime erhobenen Logik der Betriebswirtschaft. Einer Logik, die dem Alltagsverstand wesentlich näher liegt, als eine gesamtgesellschaftliche Sicht.
Diese Veränderung in den gesellschaftlichen Deutungsmustern ist aber nicht allein das Werk neoliberaler Ideologen, sondern das Ergebnis einer neoliberalen Praxis, die inzwischen alle Poren der gesellschaftlichen Praxis durchdrungen hat und den Eindruck erweckt, als wäre das gesellschaftlich Vernünftige nicht mehr als die Summe vernünftiger Einzelentscheidungen. Der neoliberal strukturierte Alltagsverstand denkt sich die Volkswirtschaft wie einen Krämerladen, betrachtet die Kostenersparnis als die Quelle allen Reichtums und die Nachfrage für ein Ergebnis niedriger Preise. Dementsprechend orientiert sich die aktuelle Moralökonomie nur noch wenig am gesamtgesellschaftlichen Nutzen, oder an der gesamtgesellschaftlichen Nützlichkeit von Solidarität, sondern an einer in die betriebswirtschaftliche Logik eingesperrten Kosten-Nutzen-Analyse. Seit sich der Sozialstaat zum Wettbewerbsstaat entwickelt hat, ist die Erhöhung der Wettbewerbsfähigkeit nicht nur zum stehenden Satz in Politikerreden geworden, sondern zur Alltagswirklichkeit. Selbst der solidarisch gesonnenste Betriebsrat ist seit dem Siegeszug der neoliberalen Modernisierung damit konfrontiert, dass die Vernachlässigung der Wettbewerbsfähigkeit schlimme Folgen für die bestehenden Arbeitsplätze oder sogar für den gesamten Standort mit sich bringen kann. Kosten zu senken, ist zu einer Überlebensfrage nicht nur des Managements, sondern auch der Belegschaftsvertretungen geworden. So scheint es dann auch plausibel, dass dieser Betriebsrat mindestens ein gewisses Verständnis dafür aufbringt, dass der „Betriebsrat der Nation” die sozialen Kosten seines Betriebes senken muss, um den Standort zu erhalten.
Moralökonomie, also die Abwägung von Kosten und
Nutzen, rechnet heute offenbar mit Werten, die tatsächlich
ihren Namen verdienen, nämlich mit betriebswirtschaftlichen
Kennziffern. Die soziale Moral ist nicht verschwunden, aber sie
wird nach den Maßstäben der einzelwirtschaftlichen
Gewinn- und Verlustrechnung abgerechnet. Wenn man also nach
gesellschaftlichen Deutungsmustern fragt, mit denen das heutige
Alltagsbewusstsein den Abbau des Sozialstaates bewertet, dann muss
man sie sich als Abbild der alltäglichen
betriebswirtschaftlichen Denkweise vorstellen. Die aktuell reale,
das heißt alle Lebensbereiche beherrschende Ökonomie
liefert auch das Verständnis für die bestehende
Moralökonomie. Neu ist das alles nicht, denn die
ökonomische Alltagspraxis hat zu jeder Zeit auch die Struktur
des Alltagsbewußtseins bestimmt. Der Unterschied liegt nur
darin, dass es heute nur noch ein marginal unterschiedliches
Alltagsbewusstsein zwischen dem Unternehmer und dem so genannten
Arbeitskraftunternehmer gibt. Und das liegt in erster Linie an der
zunehmenden Verlagerung des unternehmerischen Risikos in den
Verantwortungsbereich der abhängig Beschäftigten.
Während der Fordismus ein engmaschiges Kontrollsystem für
die menschliche Arbeit entwickelte und gleichzeitig „um die
Seele des Arbeiters” rang, geht die moderne Produktionsweise
darüber hinaus und zwingt immer mehr Beschäftigte zur
direkten Erfüllung vorgegebener Unternehmensziele. Das daraus
entstehende Alltagsbewusstsein entwickelt soziale Deutungsmuster,
die das betriebswirtschaftliche Denken
adaptieren und damit zunehmend in einen inneren Widerspruch zu
gesamtgesellschaftlichen Logiken oder solidarischen Orientierungen
gerät.
Dieses Zusammenwirken von nachwirkender solidarischer Orientierung und unternehmerischem Denken beseitigt nicht die Solidarität, aber es pluralisiert sie, wie Michael Schumann feststellt.[8] Es bilden sich begrenzte Solidaritäten heraus, zum Beispiel innerhalb der Arbeitsgruppe oder an einem Standort, aber diese Solidaritäten stehen zwangsläufig in Konkurrenz zu anderen Solidargemeinschaften, so dass die allumfassende Arbeitersolidarität immer mehr in den Hintergrund gedrängt wird. Wobei die Solidarität mit den Arbeitslosen oder Ausgegrenzten wahrscheinlich erst recht zu einer Art Verantwortungsethik jenseits der alltäglichen Intereressengemeinschaften zusammenschrumpft. Insofern entspricht das Theorem der Moralökonomie ziemlich genau der Pluralisierung der Solidarität, da es die Abhängigkeit solidarischen Verhaltens von den engen ökonomischen Alltagserwägungen beschreibt und die Nachrangigkeit der Klassen- gegenüber der Gruppensolidarität zu erklären vermag.
Ob diese Entwicklung zwangsläufig ist, muss allerdings bezweifelt werden. Denn diese Pluralisierung der Solidarität ist eine spontane, aus der alltäglichen Praxis geborene Entwicklung, die wie alle Bewusstseinsprozesse dynamisch und widersprüchlich abläuft und durch andere Erfahrungen, oder erst recht durch Erkenntnisprozesse modifiziert werden kann. Auch die alte, scheinbar spontane Klassensolidarität ist wahrscheinlich mehr eine Erfindung der Sozialromantik, als eine historisch gesicherte Tatsache. Immerhin hat es Generationen gedauert, ehe aus den spontanen und lokalen Emeuten der jungen Arbeiterklasse stabile Klassenbeziehungen wurden. Klassensolidarität ist eine Angelegenheit gedanklichen Begreifens, das über die spontane Alltagserfahrung hinausgeht. Dass dieses gedankliche Begreifen heute so schwer fällt, ist mit Sicherheit auf die Fragmentierung der Produktionsweise zurückzuführen, wird aber auch von subjektiven Faktoren des gesellschaftlichen Lebens beeinflusst, die sich außerhalb der Arbeitserfahrung Geltung verschaffen. Und dies um so mehr, als sich die Umbrüche der Produktion mit Umbrüchen der Biografien und Lebenswelten verbinden. Diesen Wandel hat bereits die Individualisierungsdebatte in den 1980er Jahren thematisiert, die sich noch außerordentlich stark von der Pluralisierung der Lebensstile beeinflussen ließ und damit auch die positiven Momente vor die negativen Begleiterscheinungen stellte. Und so richtig es auch war, die in der Individualisierung aufgehobenen Chancen zu erkennen und Anknüpfungspunkte für eine andere, selbstbestimmtere Form von individueller Vergesellschaftung zu suchen, vor dem Hintergrund einer sich verändernden gesellschaftlichen Ökonomie mussten sie zwangsläufig in ihr Gegenteil, nämlich in gesellschaftliche Desintegration umschlagen.
Vom libertären Sozialisten zum neoliberalen Zyniker
Dass sich das gegenwärtige gesellschaftliche Bewusstsein gravierend von anderen Bewusstseinszuständen in der bundesdeutschen Gschichte unterscheidet, und das nicht nur im Hinblick auf die Akzeptanz sozialer Demontageakte, bedarf keiner ausführlichen Nachweise. Wenn es jedoch richtig ist, dass soziale Deutungsmuster nie gänzlich verschwinden, sondern bestenfalls erweitert oder überlagert werden, dann stellt sich unausweichlich die Frage, weshalb die in der sozialen Marktwirtschaft der 60er Jahre entstandenen sozialen Orientierungen, die Deutungsmuster der Reform-Ära von Willy Brandt oder erst recht die Bewusstseinsinhalte der Studierenden- und Protestbewegung offenbar wenig Nachwirkung zeigen. Das zu beantworten scheint um so wichtiger, als davon ausgegangen werden kann, dass die damals sozialisierten Politikgenerationen auch heute noch eine maßgebliche Rolle in der Politik und vor allem in den meinungsbildenden Institutionen spielen. Das gilt insbesondere für die so genannten Alt-68er und die nachfolgende Politikgeneration. Für die Beantwortung scheint es wichtig, subjektive Faktoren zu betrachten, die zwar mit den oben beschriebenen Veränderungen in der gesellschaftlichen Betriebsweise zusammenhängen, sich aber doch relativ selbständig entwickelten. Gemeint sind Momente, wie etwa die persönlichen Motive der politisch handelnden Individuen oder auch Veränderungen in der gesellschaftlichen Lebensweise und Alltagskultur. Geschichtsetappen mit scheinbar ähnlicher sozialer Orientierung können sich ziemlich gravierend voneinander unterscheiden, wenn ihnen unterschiedliche Motive zu Grunde liegen. Das gilt zum Beispiel für den Unterschied zwischen der sozialen Orientierung des christdemokratischen Arbeitnehmerflügels und der sozialpartnerschaftlichen SPD in den 60er Jahren auf der einen und der Studierenden- und Protestbewegung nach 1968.
Nirgendwo lässt sich dieser Unterschied besser nachweisen, als an zwei klassischen Protagonisten der beiden Etappen, nämlich an Norbert Blüm auf der einen und Joschka Fischer auf der anderen Seite. Während Norbert Blüm gegen die eigene Partei und sogar gegen die Bundesregierung an seiner Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit festhält, oder besser gesagt zu ihr zurückkehren will, versucht Joschka Fischer und mit ihm die gesamte Führung der Grünen Partei der FDP den Rang abzulaufen. Manchmal scheint Fischer diesen Wandel selbst zu begreifen, wenn er etwa sarkastisch feststellt: „Ihr seht, wie grotesk die Situation ist: Ich rede wie Graf Lambsdorff und die grüne Versammlung klatscht.”[9] Und in der Tat wird der neoliberale Kurs in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik bei den Grünen nicht allein von den Spitzen, sondern von deutlichen Mehrheiten der Partei und ihrer WählerInnen getragen. Für die SPD gilt das in ähnlicher, wenn auch nicht in so ausgeprägter Form. Beide Parteien werden inzwischen von einem Personal geführt und vertreten, das in den 1970er Jahren politisch sozialisiert wurde und sich auch die politischen Deutungsmuster dieser Zeit aneignete. Lange Zeit schien es so, als wenn sich diese Generation durch eine überwiegend linke, häufig sozialistische und radikaldemokratische Haltung von der vorhergehenden Politikgenerationen unterschied.
Die Umbrüche nach 1968 rechneten jedoch nicht nur mit dem Faschismus, wie dem Imperialismus der USA ab und führten zu einer neuerlichen Belebung sozialistischer und kommunistischer Strömungen, sie justierten auch das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft und vor allem zum Staat neu. Die politischen Akteure befreiten sich von alten Bindungen und Konventionen, erklärten die individuelle Emanzipation zum Kernpunkt ihrer Politik und entfalteten in großen Teilen einen radikalen Antietatismus. Dieser kulturrevolutionäre Bruch erreichte über die Medien sämtliche industriellen Länder, darunter mehr oder weniger sogar die sozialistischen. Eric Hobsbawm war wohl der erste marxistische Theoretiker, der in diesem Bruch eine Voraussetzung für die später daran anknüfende Ideologie des Neoliberalismus entdeckte. „Paradoxerweise bauten die Rebellen gegen Konvention und Restriktion auf denselben Prämissen auf, auf denen die Massenkonsumgesellschaft beruht; zumindest teilten sie die psychologischen Motive, die den Anbietern von Konsumartikeln und Dienstleistungen die besten Verkaufschancen garantierten. Stillschweigend ging man davon aus, dass die Welt aus Milliarden Menschen bestehe, die sich über ihren Drang nach der Erfüllung individueller Wünsche definierten (...). Ihren politischen Ausdruck fand sie schließlich in der Äußerung der britischen Premierministerin Margaret Thatcher: ‘Es gibt keine Gesellschaft, es gibt nur Individuen’ ”[10]
Selbstverständlich gibt es keinen deterministischen Zusammenhang zwischen der damaligen Protestbewegung und dem Ankommen vieler Linker im neoliberalen Lager. Obwohl es durchaus auffällig ist, wie viele von ihnen den Weg in führende Medienredaktionen und nicht zuletzt in Regierungspositionen fanden.[11] Doch der Weg vom libertären Sozialisten zum neoliberalen Zyniker wurde durch die antiautoritären oder antietatistischen Deutungsmuster bestenfalls begünstigt, nicht aber verursacht. Ausschlaggebender waren wohl die persönlichen Karrieren, die damit veränderte soziale Wahrnehmung und vor allem die sozialökonomische Entwicklung der 1990er Jahre, von denen Michael Moore rückblickend schreibt, dass sie „ein allgemeines Klima der Raffgier geschaffen” haben.[12] Die abenteuerliche Blase der neuen Ökonomie und des Shareholder-Kapitalismus entkoppelte nicht nur die Rendite von der Wertschöpfung, sie koppelte die neoliberal gesinnte Mittelklasse endgültig von jeder sozialen Verantwortung ab und erhob die Parole „bereichert euch” zur bestimmenden Lebensphilosophie. Das dominierende gesellschaftliche Deutungsmuster des ausgehenden 20. Jahrhunderts war das siegreiche, sich bereichernde und von jeder Verantwortung losgelöste Individuum. Dass auf dieser Spaßgesellschaftsparty die hedonistische Aufsteigergeneration der 1970er Jahre den Ton angab, war nicht weiter verwunderlich.
Jetzt, wo die Party vorbei ist, weil sich innerhalb weniger Monate einige Hundert Milliarden Euro ebenso in Luft auflösten, wie die vielen Startups und ihre sicher geglaubten Jobs, heißt es cool „Geiz ist geil”. Der so werbende Elektromarkt meint sicher andere, als die Kunden der so genannten neuen Mitte, aber er trifft ihr aktuelles Lebensgefühl relativ präzise. Das gilt insbesondere für die Medienmacher und Werbeleute, von denen Deppe schrieb: „Sie haben die Orientierung ihrer Lebensplanung mehr als andere Gruppen auf den Shaeholder-Kapitalismus der 1990er Jahre, d.h. auf die Finanzmärkte und die Börsen, ausgerichtet.”[13] An keiner Gruppe lässt sich besser demonstrieren, wie gesellschaftliche Deutungsmuster einerseits fortwirken und andererseits unter dem Einfluss der gesellschaftlichen Entwicklung, wie der persönlichen Interessen sich grundlegend verändern können. Erhalten hat sich lediglich der libertäre und hedonistische Grundzug, wie auch die Verwechslung von Individualität mit Bindungslosigkeit – die Solidarität ist im gemeinschaftlichen „demonstrativen Konsum” verdampft. Zwar hat sich diese neue Mitte in ihrer Jugend vom konservativen Milieu ihrer Mittelschichteneltern emanzipiert und deren Nationalismus mit dem Ruf nach internationaler Solidarität beantwortet, doch für ein tragfähiges Bündnis mit den sozialen Unterklassen des eigenen Landes hat das offenbar von Anfang an nicht gereicht. Der zeitweilige proletarische Gestus war inszeniert, nicht anders, als die Spaßgesellschaft der 1990er Jahre. Jetzt wo der Spaß in Angst umgeschlagen ist, richtet sie sich gegen alles, wovon man sich angeblich befreien muss, um wieder Boden unter die Füße zu bekommen: Vom teuren Sozialstaat, von den Langzeitarbeitlosen, von den Steuersätzen und natürlich von den Anmaßungen der Gewerkschaften.
Abschließend ließe sich sagen, dass Amnesie ein zeitlich begrenzter Zustand ist, verursacht durch außergewöhnliche Ereignisse und Einwirkungen. Es bleiben meistens so genannte Erinnerungsinseln zurück, die allerdings nur dann zur Rekonstruktion der gesamten Erinnerungsfähigkeit führen, wenn den verursachenden Faktoren entgegengewirkt wird. Das gilt mit Sicherheit auch für die Amnesie gesellschaftlicher Deutungsmuster. Jedes Entgegenwirken erfordert jedoch, dass man die Logik der Rekonstruktion verschütteter Bewusstseinsstrukturen durchschaut hat. Etwas was der Linken zur Zeit noch relativ schwer fällt, obwohl es das klassische Thema unserer Vordenker war.
[1] MEW 3, S.26.
[2] Astrid Karl, Carsten G. Ullrich und Ulrike Wössner, Die Moralökonomie der Arbeitslosigkeit, Mannheim 1998, S.5.
[3] Der Deutungsmusteransatz wurde im Übergang zu den 80er Jahren in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit entwickelt, um an komplexen Modellen des gesellschaftlichen Denkens ansetzen zu können. Vgl. dazu Wilke Thomsen in A. Weymann (Hg.), Handbuch für die Soziologie der Weiterbildung, Neuwied 1980.
[4] MEW 3, S.26.
[5] ebenda S.3.
[6] Silke Hamann, Astrid Karl, Die Arbeitslosen und die Solidarität, in:DFG forschung 2/2003, S.9.
[7] ebenda.
[8] Michael Schumann, Metamorphosen von Industriearbeit und Arbeiterbewusstsein, Hamburg 2003, S.107.
[9] Auf dem Europa-Kongress der Grünen in Mainz, zitiert nach ND vom 3.10.03.
[10] Eric Hobsbawm, Das Zeitalter der Extreme, München 1995, S.419f.
[11] Vergl. Dazu Frank Deppe, Gewerkschaften unter Druck, Supplement der Zeitschrift Sozialismus, 9/2003, S.6.
[12] Michael Moore, Stuped white men, München 2002, 15f.
[13] Frank Deppe ebenda.