Soziale Gerechtigkeit – Muster ohne Wert?

Sozialstaatsreformisten?

Die gewerkschaftlichen Alternativkonzepte zum Mainstream von großer Koalition und Rürup-Kommission

Dezember 2003

Als die Sozialministerin Ulla Schmidt im November 2002 jene nach ihrem Vorsitzendem benannte Kommission zur nachhaltigen Finanzierung der Sozialversicherungssysteme einsetzte, berief sie auch zwei hauptamtliche Funktionsträger der Gewerkschaften als Kommissionsmitglieder: Die stellvertretende Vorsitzende des DGB, Ursula Engelen-Kefer und den Vorsitzenden der IG Bauen-Agrar-Umwelt, Klaus Wiesehügel. Zudem wurde die ehemalige Vorsitzende der Jugend- und Auszubildendenvertretung der Schering AG Nadine Franz (Tarifkommission der IG Bergbau-Chemie-Energie) und der Gesamtbetriebsratsvorsitzende von BMW, Manfred Schoch, in die Rürup-Kommission berufen. Diesen vier Vertretern der deutschen Gewerkschaftsbewegung saßen in der Kommission u.a. sechs Spitzenvertreter des deutschen Kapitals sowie eine in ihrer Mehrheit grundsätzlich neoliberal orientierte Gruppe von Universitätsprofessoren gegenüber.[1] Wie es für solche Formen von Politik üblich ist, organisierte sich jede interessenvertretende Gruppe der Kommissionsmitglieder wiederum eine eigene zuarbeitende Expertenkommission. Auch der DGB hatte eine solche Arbeitsgruppe zur Begleitung der Rürup-Kommission eingerichtet, der neben Engelen-Kefer und Wiesehügel, Franz und Schoch noch 27 weitere Gewerkschaftsvertreter angehörten.[2]

Diese Arbeitsgruppe legte nun im September ein Minderheitenvotum zu den Vorschlägen der Rürup-Kommission vor.[3] Im Vorwort betonen die beiden Herausgeber bereits, dass sie innerhalb der Kommission „konstruktiv, aber auch kritisch“ mitarbeiteten und sich stets der Gefahr bewusst waren, „die daraus erwuchs, dass diese Kommission als ein politisches Instrument diente“.[4] Sie mussten sich einerseits dagegen schützen, für Überlegungen und Vorschläge vereinnahmt zu werden, die ihren politischen Grundüberlegungen zuwiderliefen. Andererseits hätten sie parallel zum Diskussionsprozess innerhalb der Kommission immer wieder klar gemacht, dass sie den generellen Ansatz der Kommissionsmehrheit ablehnten, über einseitige Leistungskürzungen die sozialen Sicherungssysteme zukunftsfähig zu machen.

Die Dokumentation eines Minderheitenvotums im Nachhinein ist so durchaus konsequent, da letztlich die kurzfristigen Vorschläge der Professoren Lauterbach, Rürup und Wagner zur Zukunft der Gesetzlichen Krankenversicherung der Kommission als Gesamtpaket vorgelegt wurden und die Kommissionsmehrheit sie akzeptierte, ohne dass Änderungsanträge auch nur zugelassen worden wären. Im Vorwort betonen Engelen-Kefer und Wiesehügel, dass schon die grundsätzliche Kritik der Gewerkschaften ein Minderheitenvotum erforderte, dass man außerhalb der Rürup-Kommission vorlegt.

Grundsätzliche Kritik am Rürup-Ansatz

Viel von dieser grundsätzlichen Kritik ist in dem Minderheitenvotum dokumentiert – viel mehr Kritik, als die Gewerkschaften und die Linke insgesamt während des zurückliegenden Jahres begleitend zur Rürup-Kommission in die Öffentlichkeit tragen konnten. Anders als die Kommissionsmehrheit und auch anders als viele derjenigen, denen schon bei der Verkündung des Kommissionsauftrages durch die Bundesregierung das Schlagwort „Lohnnebenkosten senken“ wie flammende Wörter an der Wand Alarm und Skepsis gegenüber der sozialpolitischen Kompetenz von Rot-Grün signalisierten, haben die Autoren des Minderheitenvotums den Auftrag der Bundesregierung gründlich interpretiert: Statt sich auf den Satz „Um beschäftigungswirksame Impulse zu geben, sollen Wege dargestellt werden, wie die Lohnnebenkosten gesenkt werden können“[5] als Hauptauftrag der Kommission einzulassen, beharrt die Arbeitsgruppe des DGB darauf, dass die Kommission eben nicht lediglich nach Möglichkeiten von Leistungskürzungen fahnden und sich mit demographischen Herausforderungen beschäftigen sollte, sondern ebenso mit den Veränderungen in den Erwerbsbiographien und dem Aspekt der Lohnzentrierung der Versicherungssysteme: „Ziel der Überlegungen sollte sein, die langfristige Finanzierung der Sicherungssysteme zu sichern sowie Generationen- und Geschlechtergerechtigkeit zu fördern“.[6] Wiederum passim sehr viel deutlicher als während der Mitarbeit in der Kommission formulieren Engelen-Kefer und Wiesehügel, dass sich die Rürup-Mehrheit „auf eine Diskussion über die Sicherung von Beitragszielen beschränkt hat, die genannten weiteren Aspekte wurden zu keinem Zeitpunkt angemessen berücksichtigt.“[7] Da die Kommission die demographische Entwicklung als „schicksalhaft“ erachtet habe und keinerlei perspektivische Vorschläge machte, „die die Geburtenrate, die Erwerbstätigenquote insbesondere von Frauen und die Produktivität der Volkswirtschaft insgesamt steigern helfen könnte“, hat „die Kommission ihren Auftrag nicht erfüllt“.[8]

Es erscheint im Nachhinein müßig, darüber zu spekulieren, ob es in einer für die Gewerkschaften politisch insgesamt schwierigen, defensiven Situation strategisch besser und richtiger gewesen wäre, von Beginn an gesellschaftspolitisch wirksam und konsequent gegen die Agenda 2010 und eine keineswegs überparteiliche Rürup-Kommission mobil zu machen – statt in Kommissionen und in den verschiedenen Gremien auf eine Abwendung der sozialpolitisch parteilichsten und verteilungsungerechtesten Einzelpläne zu hoffen. Die DGB-Arbeitsgruppe jedenfalls setzt aus der Defensive heraus auf die Zukunftsfähigkeit des Sozialstaates und versucht ganz grundsätzlich zu begründen, warum „kein Grund zur Resignation“ bestehe: „Ein gut ausgebauter, verlässlicher Sozialstaat ist wichtig für unsere Gesellschaft und für die Sicherung unseres wirtschaftlichen Wohlstands. Er gibt Arbeitnehmern Sicherheit, gerade in Zeiten beschleunigten gesellschaftlichen Wandels. Ein Sozialstaat, der flexibler werdende Erwerbs- und Lebensbiographien absichern kann, garantiert den Veränderungswillen der Arbeitnehmerinnen und -nehmer. Er trägt wesentlich zu sozialem Frieden bei und ist als Beitrag zu einer stabilen ökonomischen Entwicklung nicht zu unterschätzen. (...) Es wird weiterhin darum gehen müssen, in einer gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzung für eine gerechte Verteilung des zunehmenden Wohlstandes zu sorgen – für eine gerechte Verteilung zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern, zwischen Wohlhabenden und sozial Schwachen, zwischen Alt und Jung. Sozialpolitik wird sich auch zukünftig mit Verteilungsfragen beschäftigen müssen. Damit es bei den damit verbundenen Auseinandersetzungen friedlich und gerecht zugeht, brauchen wir auch in Zukunft starke Gewerkschaften.“[9]

Paritätische Finanzierung aus den Löhnen

Ganz unalarmistisch kann man nun konstatieren, dass die derzeit von Rürup-Kommission und großer Koalition beschlossenen Maßnahmen wie die Herausnahme des Krankengeldes, des Sterbegeldes und des Zahnersatzes aus der Gesetzlichen Krankenversicherung, erhöhte Zuzahlungen bei Medikamenten, beim Besuch von Ärzten und bei stationärer Behandlung im Krankenhaus allesamt auf eine Erhöhung der finanziellen Aufwendungen für die privaten Haushalte hinauslaufen. Zudem ist diese Verschiebung von finanziellen Belastungen auf die Bürger und dieselben als Patienten keineswegs ein neuer Trend der Sozialpolitik; seit Jahrzehnten ist diese Politik praktiziert worden.

Wurden die kurzfristig verabschiedeten Maßnahmen seitens der punktuellen großen Koalition eingestandenermaßen als Atempause bezeichnet, in der man Alternativen zum bisherigen Gesundheitssystem erwägen müsse, droht nach dem Ende dieser Phase zukünftig ein Systemwechsel. Mit dem Abschlussgutachten der Rürup-Kommission liegen zwei große Zukunftsmodelle zur politischen Entscheidung vor: Entweder die Erwerbstätigen- oder Bürgerversicherung oder aber eine Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung über ein Prämienmodell.[10] Für einen solchen Systemwechsel werden verschiedene mehr oder weniger seriöse Argumente ins Feld geführt: Ernstzunehmen ist, dass sich mittlerweile viele Erwerbstätige mit höherem Einkommen, Beamte und Selbständige dem System der gesetzlichen, solidarisch umverteilenden Krankenversicherung entziehen und sich in einer privaten Krankenkasse vollversichern können, die keinerlei Umverteilungsmechanismen unterliegt. Zudem ist das System der solidarischen Versicherung und der paritätischen Finanzierung durch Lohnarbeit und Kapital aufgrund der Massenarbeitslosigkeit, verschiedener Formen von Mini-Jobs und anderer ungeschützter Beschäftigungsverhältnisse arg aufgeweicht worden; das Arbeitseinkommen als wichtigste Einkommensquelle verliert seit Jahren schleichend an Bedeutung, die Arbeitseinkommen selber stagnieren ebenfalls. Diese Faktoren führen zu sinkenden Einnahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung und so zu einer Gefährdung der Finanzierungsgrundlagen des Gesundheitssystems. Des weiteren können Argumente für einen Systemwechsel in der Gesetzlichen Krankenversicherung angeführt werden, die sich auf die Höhe der Beitragssätze beziehen – jene würden weiter steigen. Zudem höhlten unterschiedlich hohe Beitragssätze letztlich die Umverteilung aus – der bisherige Lohnbezug der Beiträge werde durch die Erosion des Normalarbeitsverhältnis und die Bedeutung zusätzlicher Einkommensarten in Frage gestellt.

Würden nun die Einnahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung durch die Arbeitseinkommen verstetigt und so auf eine solide Grundlage für die Zukunft gestellt, erübrigten sich grundsätzliche Entscheidungen über einen Systemwechsel. Dies konstatiert auch die Arbeitsgruppe des DGB, die zunächst darauf verweist, dass die Rahmenbedingungen des Sozialstaates verbessert werden müssen: Die Leistungskraft der Volkswirtschaft ist ausschlaggebend für den gesellschaftlichen Verteilungsspielraum; „in einer produktiven, innovativen und wirtschaftlich gesunden Gesellschaft werden die Konflikte um Ressourcen geringer ausfallen, als wenn wir den Abwärtstrend der vergangenen Jahre fortsetzen. Deshalb ist die Sicherstellung der wirtschaftlichen Erneuerungsfähigkeit und der zielgerichtete makroökonomische Einfluss der Politik auf die wirtschaftliche Entwicklung von so großer Bedeutung.“[11] Einen modernen Sozialstaat messen die Gegengutachter an vier Zielen, die mit nachhaltigen Reformen erreicht werden könnten: Zunächst müssten die modernen sozialen Sicherungssysteme auch die gewandelten, fragmentierten Lebens- und Erwerbsverläufe absichern können – auch im Sinne von mehr Geschlechtergerechtigkeit.[12] Sodann wird zurecht festgestellt, dass kein Sicherungssystem „demographieresistent“ sein könne, es jedoch in die Lage versetzt werden müsse, vermittels Umverteilung die Lasten einer alternden Gesellschaft solidarisch zu verteilen. In Bezug auf die europäischen Arbeitsmärkte fordert der DGB die Flankierung der arbeitsmartktpolitischen Freizügigkeit und die Schliessung von Sicherungslücken. Gegen die vorherrschende Tendenz, durch den Stabilitätspakt eine rein fiskalische Sicht auf sozialpolitische Fragen zu erzwingen, wird die Abwehr eines zu hohen Harmonisierungsdrucks im Prozess der Offenen Koordinierung proklamiert. Das alles könne schliesslich aber nur gelingen, wenn die sozialen Sicherungssysteme ihre Legitimät gegenüber den Bürgern erhöhten.

Dass die demographische Entwicklung und die Beherrschbarkeit der Lasten aus der veränderten Bevölkerungsstruktur gestaltbar sind, durchzieht das Gegenurteil in den entsprechenden ersten Abschnitten argumentativ wie ein roter Faden. Insbesondere die ausgearbeiteten Vorschläge zu einer modernen Familienpolitik und einer Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, die eine hohe Erwerbsquote von Frauen ermöglicht, setzen denjenigen etwas entgegen, die in den Chor einer scheinbar nur durch Leistungskürzungen beherrschbaren, vorgeblich naturgesetzlichen demographischen Veränderung einstimmen.

Rahmenbedingungen des Sozialstaates

Die Autoren des Gegengutachtens stellen zurecht fest, dass die Rahmenbedingungen des Sozialstaates in den letzten Jahren überhaupt nicht zum Positiven verändert wurden – und dass stattdessen fast paradoxerweise in den letzten Jahren der erhöhte Veränderungsdruck auf die Strukturen und Leistungen des deutschen Wohlfahrtsstaates einsetzte: Massenarbeitslosigkeit und die Fehlfinanzierung gesamtgesellschaftlicher Probleme sowie die fehlerhaften finanz- und wirtschaftspolitischen Entscheidungen in Zusammenhang mit der deutschen Einheit sorgten erst für jene Krisensituation, in welcher die rot-grüne Regierung eine Rürup-Kommission einsetzte. Alleine die Mindereinnahmen bei den Sozialversicherungen durch die niedrigeren bzw. entfallenden Beiträge für Arbeitslose entsprachen eben im Jahr 2001 ca. 2,3 Beitragssatzpunkten; rechnet man die Ausgaben für Arbeitslosengeld hinzu, ergab sich eine weitere Kostenbelastung durch die Arbeitslosigkeit in Höhe von 2,8 Beitragssatzpunkten. Konstatiert man, dass die Kapitaleinkommensbesitzer und Unternehmer letztlich kaum zur Finanzierung der Arbeitslosigkeit herangezogen wurden – die Belastung dieser Einkommensarten sank von ca. 34 Prozent im Jahr 1977 auf den historischen Tiefststand von 15 Prozent im Jahr 2001 –, wird der Skandal einer weiteren einseitigen und überproportionalen Belastung der Arbeitnehmereinkommen durch weitere Lasten deutlich: Nichts anderes geschieht derzeit sozial- und wirtschaftspolitisch. Daher weisen die Gegengutachter zunächst genau auf jene dringlich notwendige zukünftige politische Aufgabe hin, die Einnahmeseite der Sozialversicherungen zu gestalten und zu stabilisieren.[13]

Hierfür machen sie konkrete Vorschläge: Vor allem über die Herausnahme verschiedener sogenannter versicherungsfremder Leistungen aus dem System der Sozialversicherungen und die Finanzierung dieser gesamtgesellschaftlichen Ausgaben über Steuern erachten die Autoren eine Senkung der Sozialabgaben und eine Entlastung des Faktors Arbeit für machbar. Insbesondere die familien- und die wiedervereinigungspolitischen gesamtgesellschaftlichen Aufgaben sollten systemgerecht steuerfinanziert werden, so dass die Bürger und Unternehmen nach ihrer Leistungsfähigkeit zur Verantwortung dieser Leistungen herangezogen würden.[14] Diese fair verteilte Schulterung von Lasten erhöhe die Legitimät des Sozialstaates und entlaste vor allem die Löhne und Gehälter. Völlig zurecht verweisen die Gegengutachter auf die Rechnung, dass die Ausgaben für den Sozialstaat trotz der Folgelasten der deutschen Vereinigung und der hohen Massenarbeitslosigkeit nur in etwa gleich stark stiegen wie das Bruttoinlandprodukt, beileibe also keine Rede von einer vermeintlichen Kostenexplosion der Ausgaben sein könne. Dem demgegenüber durchaus bestehenden Einnahmeproblem könne jedoch nicht mit einer Politik des „Hinterhersparens“ begegnet werden, sondern nur mit einer erfolgreichen und wirksamen Wirtschafts- und Sozialpolitik, die den Namen Politik im Sinne der Gestaltbarkeit der Verhältnisse der Menschen auch verdient und zuvorderst die Arbeitslosigkeit abbaue. Hier verweisen die Autoren des DGB auf die dringlich notwendige und gegenwärtig vernachlässigte Entwicklung und Förderung der Potenziale einer modernen Gesellschaft, die erst die notwendige Basis für erfolgreiche Ökonomie und leistungsfähige Sozialsysteme schaffe: Investitionen in die Schlüsselaufgaben Bildung, Ausbildung, Forschung und Entwicklung; in der Tat kommt diesem Zusammenhang im Gutachten der Rürup-Kommission wenig Gewicht zu.

Systemalternativen: Kopfprämien vs. Bürgerversicherung

Was nun die von allen Seiten als dringlich erachtete Verbreiterung der Einnahmebasis der sozialen Sicherungssysteme betrifft, so schält sich mittlerweile als zukünftig politisch zu entscheidende Alternative entweder der Einstieg in die Erwerbstätigenversicherung oder eine Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung nach dem Prämienmodell heraus – die Rürup-Kommission ließ beide Wege in ihrem „Y-Modell“ als Systemalternativen offen. Die Gegengutachter des DGB halten sich in dieser gravierenden Frage noch deutlich zurück und regen zunächst „eine breite Diskussion zwischen Gewerkschaften, Arbeitgebern, Sozialversicherungsträgern und Politik über die mittel- und langfristige Einbeziehung weiterer Personenkreise in die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung – als Erwerbstätigenversicherung – an.“[15] Zurecht verweisen sie auf den Charakter eines „Erfolgsmodells“ des solidarischen Systems der deutschen Sozialversicherung, welches historisch zu einer Linderung von Armut und Ungleichheit beigetragen hat. Auch die paritätische Mitverantwortung der Unternehmer für die Belastungen durch die Arbeit und ihre paritätische Mitwirkung in der Selbstverwaltung der Versicherungskörperschaften wird vom DGB als notwendig und beibehaltenswert erachtet. Überhaupt sei die Leitlinie für eine Reform der Finanzierungsgrundlagen der Gesetzlichen Krankenversicherung aus volkswirtschaftlichen wie sozialen Gründen die Stärkung des Solidaritätsprinzips, da nur so allen Bürgern der gleiche Zugang zu einer guten medizinischen Versorgung garantiert ist.

Nun hat die Rürup-Kommission in ihrer Mehrheit ganz gegenteilige, unsolidarische kurzfristige Vorschläge gemacht: Eine Auslagerung des Krankengeldes aus der paritätischen Finanzierung, die „Reform“ der Zuzahlungsregelungen bei den Arzneimitteln, bei Arztbesuchen und bei der Zahnbehandlung. Was die langfristige Perspektive betrifft, gibt sie die Entscheidung über das Pauschalprämienmodell oder die Erwerbstätigenversicherung als „Werteentscheidung“ an die Politik zurück.

Was die kurzfristigen Vorschläge der Kommissionsmehrheit betrifft, bezeichnet sie die gewerkschaftliche Minderheit zutreffend als sozial unausgewogen und strukturell fragwürdig.[16] Ohne Not wird mit ihnen der – allerdings bereits vielfach zuungunsten der Versicherten durchbrochene und fragmentierte – Grundsatz der paritätischen Finanzierung des Gesundheitswesens aufgegeben. Und dies geschieht eben nicht aus Gründen der Verbesserung der Effizienz oder der Transparenz der Strukturen, sondern dient lediglich der Kostenverschiebung zu Lasten der Versicherten. Dass durch diese zusätzlichen Beitragslasten für die Arbeitnehmer gleichzeitig die ohnehin schwache Binnennachfrage weiter verringert wird, kann die Minderheit in der Rürup-Kommission wirtschaftspolitisch überzeugend darstellen.

Nach einer gewissenhaften Aufzählung aller Merkmale und Nachteile eines Kopfprämienmodells – letztere bestehen vor allem in einer deutlichen Abschwächung der bisherigen Umverteilungswirkungen des Systems und einer vornehmlichen Nutznießerschaft von Singles und Einverdiener-Haushalten mit gutem Einkommen zuungunsten von Geringverdienenden und Familien – kommen die Autoren des Gegengutachtens zu einer Ablehnung des Kopfprämienmodells und plädieren für die Beibehaltung der bisherigen Finanzierung durch lohnabhängige Beiträge im Namen einer höheren Gerechtigkeit.[17]

Keineswegs mit wehenden Fahnen wird von den Gewerkschaftern der Übergang zu einem Erwerbstätigenversicherungsmodell favorisiert: Dieses sei nicht unumstritten und weise Vor- und Nachteile auf, erläutern sie vorsichtig. Mit einer Erweiterung der Bemessungsgrundlage um weitere Einkommensarten, die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze auf das Niveau der gesetzlichen Rentenversicherung in Westdeutschland und die Erweiterung der Versicherungspflicht in der GKV durch Einbeziehung von Beamten, Selbständigen und Landwirten sowie die Aufhebung der Versicherungspflichtgrenze – so die Merkmale des Modells der Rürup-Kommission – ergäben sich zukünftig zumindest weniger große verteilungspolitische Schwierigkeiten. Auch führe dieses Modell zu deutlichen Beitragssatzsenkungen und entlaste die Arbeitgeber weniger stark als das Kopfprämienmodell. Allerdings bestehe das Problem, das gut verdienende Arbeitnehmer stärker belastet würden – und auch deren Arbeitgeber: „So werden manche Unternehmen im Hochlohnbereich, die häufig im internationalen Wettbewerb stehen, mit höheren Belastungen rechnen müssen. Zudem sind ordnungs- und verfassungsrechtliche Fragen zu klären. Insbesondere der Übergang vom jetzigen System in eine Erwerbstätigenversicherung muss so behutsam gestaltet werden, dass der gebotene Vertrauensschutz gewährleistet wird.“[18]

Fazit: Widerstand gegen den Abbau des Sozialstaats

Die Gegengutachter argumentieren demnach überzeugend gegen die Scylla eines Kopfprämienmodells, stehen der vermeintlichen Charybdis einer Erwerbstätigenversicherung jedoch noch verhalten skeptisch gegenüber.[19] Betrachtet man die gegenwärtige politische Konstellation, erscheint es zwar relativ offen, ob der Vorschlag für ein Kopfprämienmodell innerhalb des bürgerlichen Lagers eine Mehrheit erhält – die FDP und eine Mehrheit der Union jedenfalls optieren bereits für einen solchen Systemwechsel. Derzeit wächst demgegenüber jedoch tendenziell der Widerstand gegen einen Übergang zu einem Modell der Erwerbstätigenversicherung, so dass den Beratungsstäben des DGB und der Einzelgewerkschaften deutlich die Erweiterung der Empfehlung des Gegengutachtens nahegelegt zu sein scheint; nämlich nicht lediglich „eine breite und vertiefte gesellschaftliche Diskussion darüber zu wünschen, ob die Erweiterung der Versicherungspflicht auf bisher nicht zur Beitragszahlung herangezogene Einkommen und auf andere Personengruppen ein sinnvoller Weg ist, um die Finanzierungsbasis der Sozialversicherung nachhaltig zu stärken.“[20] Möglicherweise wäre es strategisch besser, die Verschlechterung des Gesundheitsschutzes der Bevölkerung durch den Übergang zu einem Kopfprämienmodell deutlich zu machen und noch massiver auf die Privatisierung des Risikos Krankheit durch die privatkapitalistischen Umgestaltungspläne der Mehrheit der Rürup-Kommission aufmerksam zu machen. Die Gefahr eines Prämienmodells besteht schließlich in einer Umgestaltung der sozialen Sicherungssysteme im Sinne eines stärker entfesselten flexiblen Kapitalismus, der die sozialen Schutzrechte der Beschäftigten, die Dienstleistungen im öffentlichen Interesse und den sozialen Ausgleich auf ein Minimum reduziert – und dies mithilfe seiner lobbyistischen Nutznießer unter dem infamen Schlagwort der „Eigenverantwortung“ gesellschaftlich popularisieren und marktgängig machen kann.

Es erscheint allerdings derzeit durchaus möglich, dass die Gewerkschaften einschließlich des DGB aufgrund des öffentlich mobilisierten Widerstands gegen den Sozialstaatsabbau ihre Protest- und Kritikhaltung gegenüber der Bundesregierung autonom artikulieren – und ihre Vorschläge für eine zukunftsfähige Reformalternative einschließlich einer solidarischen Sozialpolitik an öffentlichem Gewicht gewinnen. Das Minderheitenvotum trägt dazu bei.

[1] Vgl. zur Zusammensetzung der Rürup-Kommission und den jeweiligen sozialpolitischen Grundinteressen ihrer Mitglieder auch: Wolfram Burkhardt, Die großen Umverteiler. Von der Rürup-Kommission zur großen Koalition, in: Z 55, September 2003, S. 58-67.

[2] Die meisten Mitglieder dieser Arbeitsgruppe gehörten dem DGB-Bundesvorstand und den Vorständen der Einzelgewerkschaften an.

[3] Ursula Engelen-Kefer / Klaus Wiesehügel (Hrsg.), Sozialstaat – solidarisch, effizient, zukunftssicher. Alternativen zu den Vorschlägen der Rürup-Kommission, Hamburg 2003.

[4] Ebd., S. 7.

[5] Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung; Pressemitteilung 11/02, Der Auftrag der Kommission.

[6] Ursula Engelen-Kefer / Klaus Wiesehügel (Hrsg.), a.a.O., S. 28.

[7] Ebd.

[8] Ebd., S. 29.

[9] Ebd., S. 65f.

[10] Vgl. zu den grundsätzlichen Funktionsweisen dieser Modelle: Wolfram Burkhardt, a.a.O.

[11] Ursula Engelen-Kefer / Klaus Wiesehügel (Hrsg.), a.a.O., S. 11.

[12] Ebd., S. 10.

[13] Ebd., S. 19ff.

[14] Ebd., S. 23ff.

[15] Ebd., S. 29.

[16] Ebd., S. 33.

[17] Ebd., S. 35ff.

[18] Ebd., S. 37.

[19] Allerdings votiert das Kommissionsmitglied Klaus Wiesehügel in einem extra dokumentierten Papier, welches in die veröffentlichte Fassung des Gegengutachtens mit aufgenommen ist, sehr viel deutlicher für eine Erwerbstätigenversicherung und die Einbeziehung weiterer Einkommensarten. Vgl. ebd., S. 43ff.

[20] Ebd., S. 37.