Gewerkschaftliche Gegenmachtpositionen und gewerkschaftliche Politikfähigkeit sind in den vergangenen Jahren in Besorgnis erregendem Ausmaß ero-diert und verloren gegangen. Wo liegen die Ursachen dafür, wie hängen sie mit neuen Entwicklungen im Kapitalismus zusammen, und welche Aufgaben stellen sich, wenn gewerkschaftliche Gegenmacht neu gewonnen werden soll? Diese Fragen diskutierten etwa hundert Vertreterinnen und Vertreter der gewerkschaftlichen Linken auf einer Tagung, die der Funktionsbereich Sozialpolitik der IG Metall und WissenTransfer im Oktober 2003 in Frankfurt/Main veranstaltete. Die Tagung war Horst Schmitthenner gewidmet, der kurz zuvor wegen Erreichen der Altersgrenze aus dem geschäftsführenden Vorstand der IG Metall ausgeschieden war. Horst Schmitthenner, so resümierte Hans-Jürgen Urban, langjähriger Leiter der Abteilung Sozialpolitik beim IG Metall-Vorstand in seinem Einleitungsstatement, hatte dem geschäftsführenden IG Metall-Vorstand seit 1989 angehört und war seinerzeit gegen den erklärten Willen des damaligen IG Metall-Vorsitzenden Franz Steinkühler gewählt worden. Zuvor war er Lehrer an der IG Metall-Bildungsstätte Sprockhövel und Bevollmächtigter der Verwaltungsstelle Neuwied gewesen. In der IG Metall hatte Schmitthenner den konfliktträchtigen Bereich der Sozialpolitik übernommen und hatte auf diesem Gebiet seiner Gewerkschaft über die Jahre zu einem ausgeprägten Profil verholfen.
Urban würdigte Horst Schmitthenner als einen Typus des
linken Gewerkschaftsfunktionärs mit sozialistischen
Traditionen ähnlich wie Wolfgang
Abendroth und Willi Bleicher. Dieser Typus zeichnete sich durch ein
kritisches Grundverständnis der kapitalistischen
Gesellschaftsordnung, antifaschistische Traditionen und das
Festhalten am Gedanken der Einheitsgewerkschaft und der autonomen
gewerkschaftlichen Interessenvertretung aus. Die Konzentration auf
die Sozialpolitik erfüllte im Falle Schmitthenners auch die
Funktion, die Gewerkschaft zur Gesellschaftspolitik mit
politisch-aufklärerischer Perspektive zu zwingen – ein
in der IG Metall wie in der gesamten deutschen
Gewerkschaftsbewegung umstrittener Sachverhalt, gebe es doch starke
Tendenzen, die Gewerkschaften auf „Kernaufgaben“ wie
die Tarif- und Betriebspolitik zu beschränken.
Terrainverschiebungen
An die Gewerkschaften, so Urban, werden immer wieder Forderungen gerichtet, auf Reformvorschläge zu verzichten, die nicht mit der Globalisierungs- und Standortideologie kompatibel sind. Das sei auch der Hintergrund für das Blockiererimage, das den Gewerkschaften häufig angehängt werde. Diejenige Strömung in den Gewerkschaften, für die Horst Schmitthenner stehe, habe gewerkschaftliche Arbeit und Erarbeitung von Reformkonzepten dagegen immer als soziale Bewegung „von unten“ verstanden, die Kooperationspartner in der kritischen Wissenschaft und den anderen sozialen Bewegungen brauche und suche. Diese Richtung halte auch am Ziel einer anderen, besseren Gesellschaftsordnung fest. Die terminologische Undeutlichkeit, mit der das formuliert werde, so räumte Urban ein, hänge damit zusammen, dass der Linken die Begriffe abhanden gekommen seien. Der „utopische Überschuss“ sei ihr verloren gegangen. Deshalb stelle sich auch die Frage, ob das klassische Politikverständnis der gewerkschaftlichen Linken vor dem Hintergrund des radikal veränderten politischen Koordinatensystems noch tauglich sei. Auch der gewerkschaftlichen Linken hätten die globalpolitischen Umbrüche seit 1989/90 Schaden zugefügt, sie hätten linke Entwürfe diskreditiert, der Linken die Hegemoniefähigkeit genommen und ihre Mobilisierungsfähigkeit vermindert.
Urban konstatierte im dualen Interessenvertretungssystem der Gewerkschaften neue Probleme. Er denke dabei weniger an eine modernisierungspragmatische Ausrichtung, die manche Betriebsräte forderten, sondern an eine sich ausbreitende „Kultur des Misstrauens“ zwischen betrieblicher Interessenvertretung und gewerkschaftlichen Führungsgremien. Als Kern des Problems benannte er zu wenig aufgearbeitete Veränderungen z.B. im Rahmen der Globalisierung und der Europäisierung. Diese Prozesse schränkten die Spielräume für nationale, sozialstaatliche Interventionen ein. Gegenüber aggressiven Rationalisierungsstrategien seien die Gewerkschaften in die Defensive geraten und würden überwiegend als Störfaktor wahrgenommen. Noch nicht einmal ihre alte Ordnungsfunktion sei mehr gefragt. In den Strategien des Dritten Weges der Neuen Sozialdemokratie hätten autonome Gewerkschaften keinen Platz. In den Medien widerspiegele sich das. Darüber hinaus hätten es die Gewerkschaften nicht vermocht, den Wandel in Alltagskultur und Alltagsbewusstsein aufzunehmen: Dieser sei bestimmt von Resignation und Entpolitisierung, aber auch neuen Ansprüchen an Beteiligung, allerdings verbunden mit einem Misstrauen gegen Großorganisationen. Solche Veränderungen stellen das bisherige gewerkschaftliche Politikmodell in Frage, so Urbans Fazit. Zu diskutieren sei jetzt, welche Schlussfolgerungen daraus gezogen werden sollten.
Macht der Medien und Ohnmacht der Linken
Ob und wie die Ohnmacht der Linken mit der Macht der Medien zusammenhängt, war Gegenstand der ersten Diskussionsrunde der Tagung. Zweifellos ist die Macht der Medien gewachsen, konstatierte Wolfgang Storz, Chefredakteur der „Frankfurter Rundschau“, und zwar in solchen Maße, dass es für die Demokratie problematisch ist. Es gebe immer weniger Medien mit wertvollem Inhalt und immer mehr Medien, die nur noch Bestandteil des Wirtschaftsystems seien. Allerdings, so Storz, könne das allein die schlechte Medienpräsenz der Gewerkschaften nicht erklären. Auch der Unmut in den Gewerkschaften über die Medien sei häufig nicht gerechtfertigt. Das mediale Negativimage der Gewerkschaften sei von diesen selbst verschuldet; sie hätten die Regeln der Mediengesellschaft nicht beachtet. Auch in der heutigen Medienwelt sei es für die Gewerkschaften und überhaupt für kritische Stimmen durchaus möglich, mit ihren Themen in den Medien adäquat vorzukommen; das gelinge ja auch anderen sozialen Bewegungen wie attac. Allerdings müssten die Gewerkschaften das sehr viel geschickter anpacken als bisher und „gute Themen“ anbieten, vor allem Themen der sozialen Gerechtigkeit.
Dieser in sich nicht ganz konsistenten Auffassung widersprach mit Nachdruck Werner Rügemer, freier Journalist aus Köln. Die Botschaft der Gewerkschaften sei nicht das eigentliche Problem. Es gebe faktisch eine unsichtbare und kaum zu greifende Zensur. In den vergangenen Jahren habe sich eine Art „Einheitsmedium“ herausgebildet. Das bekämen die Gewerkschaften schmerzhaft zu spüren. Viele Redakteure hätten solche Haltungen verinnerlicht, tausende von freien Autoren seien käuflich und erpressbar. Das sei der Hauptgrund dafür, dass die Gewerkschaften mit ihren Positionen in den Medien nicht durchkämen.
Harald Werner (Journalist und PDS-Vorstandsmitglied) bezog sich stärker auf Aspekte des Alltagsbewusstseins: Sicher gibt es Zensur, so konzedierte er, es wäre unsinnig, das zu bestreiten. Dennoch liegt die Ohnmacht der Linken nicht (hauptsächlich) an den „bösen Medien“, sondern hängt (auch) damit zusammen, dass sie das Alltagsbewusstsein der Menschen nicht (mehr) erreichen. Dabei sei es nicht neu, dass dieses Alltagsbewusstsein entfremdet sei. Neu sei aber, dass der früher verbreitete spontane Widerspruch zum herrschenden System, an den die Linke anknüpfen konnte, so nicht mehr bestehe. Vielmehr, so Werner, hat sich das Standortdenken auf breiter Front durchgesetzt, und dieses weit gehend im Alltagsbewusstsein verinnerlichte Denken ist auch in die Gewerkschaften selbst eingedrungen. Auch die Gewerkschaften sprechen heute unbefangen von Kundenorientierung, Service, Standortvorteil usw. In der Alltagskultur widerspiegelt sich, so Werner, dass es Globalisierungsgewinner und -verlierer gibt. Deshalb ist heute z.B. der Begriff der Raffgier positiv besetzt. Die populäre Parole „Geiz ist geil“ drückt aus, so seine Argumentation, dass es für legitim gehalten wird, anderen ihnen zustehende Leistungen vorzuenthalten. Deswegen finden viele die Idee des Kürzens und Sparens beim Sozialhaushalt auch prinzipiell richtig. Das ist wiederum ein Ausdruck von gesellschaftlicher Entsolidarisierung und zeigt, dass traditionelle Werte der Linken diskreditiert werden.
Die Diskussionsteilnehmer zeigten eine bemerkenswerte Milde gegenüber der Position von Wolfgang Storz, der, den „linksliberalen“ Anspruch der „Frankfurter Rundschau“ unterstreichend, die Manipulation und Demagogie der Medien gegenüber den Gewerkschaften fast völlig mit Schweigen übergangen hatte. Schließlich hatte sich auch die linksliberale „Rundschau“ an der Monate langen Medienkampagne gegen die gewerkschaftsautonome Strömung in der IG Metall aktiv mit beteiligt und dabei auch abgedroschene Stereotypen nicht gescheut. Die meisten Diskussionsbeiträge verzichteten aber auf jegliche „Abrechnung“ und konzentrierten sich lieber auf die Frage, was eigentlich die Schwächen in den gewerkschaftlichen Positionen ausmache. Peter von Oertzen wies darauf hin, selbst in bürgerlichen Medien wie der „Zeit“ habe es kritische und schonungslose Auseinandersetzungen mit der „Agenda 2010“ gegeben, wie man sie in dieser Klarheit bei den Gewerkschaften vergeblich gesucht habe. Diese Auffassung, dass die gesellschaftspolitische Botschaft der Gewerkschaften selbst unklar und unzureichend sei, wurde auch von anderen Diskussionsteilnehmern unterstrichen. Das Problem liegt im Wesentlichen bei uns, sagte Michael Wendl, stellvertretender ver.di-Vorsitzender in Bayern, auch wenn die Kritik an den Medien zutrifft. Natürlich gibt es Konformitätsdruck in den Medien, so die Feststellung von Detlef Hensche, langjähriger Vorsitzender der in ver.di aufgegangenen IG Medien. Aber dass der neoliberale mainstream so stark werden konnte, hat ja auch etwas mit der Schwäche der sozialen Akteure zu tun. Die politische Botschaft der Gewerkschaften sei nicht eindeutig, sagte Hensche. Die Gewerkschaften würden in den Medien als gesellschaftliche Kraft, die Themen wie soziale Gerechtigkeit auch politisch glaubhaft repräsentiere, nicht wahrgenommen, weil sie eben häufig auch nicht glaubhaft und überzeugend seien. Diese Glaubwürdigkeit sei mit „Ja, aber“-Positionen wie bei der Agenda 2010 oder den Hartz-Konzepten nicht zu erreichen. Es geht um Orientierungsfähigkeit, schlussfolgerte Harald Werner, und zwar gegenüber den Menschen mit ihrem Alltagsbewusstsein. Das müssen Organisationen wie die Gewerkschaften leisten, das ist letztlich kein Problem der Medien.
Gewerkschaften und Globalisierungskritiker
Die Gewerkschaften sind auch gegenüber den im Aufschwung begriffenen transnationalen globalisierungskritischen Bewegungen ins Hintertreffen geraten. Sie sind selbst keine transnationale Bewegung. Warum das so ist, war Gegenstand der zweiten Diskussionsrunde. Jörg Huffschmid, Hochschullehrer aus Bremen und Mitglied der Memorandum-Gruppe, skizzierte die ökonomischen Hintergründe: Es sind Strategien der Kostensenkung, der Internationalisierung, der Konzentration, die die Konzerne ais langfristigen ökonomischen Stagnationstendenzen herausführen sollen. Gewinne werden nicht reinvestiert, sondern auf die Finanzmärkte geschleust. Die Politik unterstützt diese Wirtschaftsstrategie und schafft die günstigen Rahmenbedingungen dafür. Nach Huffschmids Auffassung haben sich die Gewerkschaften gegenüber dieser Strategie als weit gehend hilflos erwiesen. Zwar, so Huffschmid, gibt es in den Gewerkschaften Gegenkonzepte, aber es gibt nicht das glaubwürdige Alternativkonzept der Gewerkschaften, das politisch ernst genommen werden könnte.
Insgesamt haben die Gewerkschaften, einstmals eine erfolgreiche soziale Bewegung, diesen Charakter vollständig eingebüßt, so der Befund von Peter Wahl (attac). Wahl führte das zurück auf langfristig wirksame, sich in Stadien entwickelnde Prozesse der Institutionalisierung, Professionalisierung und Bürokratisierung der Gewerkschaften, ihre Integration in staatliche Strukturen. Aus dieser Position heraus hätten die Gewerkschaften die Bedeutung der Globalisierung und der Globalisierungskritik nicht rechtzeitig erkannt und seien handlungsunfähig gewesen. Die transnationalen Bewegungen seien den Gewerkschaften überlegen, weil sie nicht einfach die Begriffe der herrschenden Diskurse übernähmen und sich dem Denkzwang nicht beugten, dass Alternativen grundsätzlich nicht möglich seien. Die Positionen der Gewerkschaften seien demgegenüber meist unklarer, gewundener, widersprüchlicher.
In der Tat, so konzedierte Margit Köppen (IG Metall), hat die Globalisierungskritik in der Spitze der Gewerkschaften oft nicht den Stellenwert, der ihr zukommen müsste. Zwar seien die Gewerkschaften heute schon bei vielen Aktionen der Globalisierungskritiker dabei, aber sie seien selbst noch keine transnationale Bewegung. Dort wo es Fortschritte gäbe, seien sie das Werk einzelner Funktionäre und Aktiver, aber die Globalisierungskritik sei noch nicht in die tägliche Gewerkschaftspraxis eingebunden.
Zwar stimme der Befund hinsichtlich der Schwäche der
Gewerkschaften in den transnationalen Bewegungen, aber, so der
Einwand von Frank Deppe
(Universität Marburg), Wahls Erklärungsansatz sei doch
wenig hilfreich. Das von ihm entwickelte Stadien-Schema sei schon
für die dreißiger Jahre fälschlicherweise zur
Erklärung des gewerkschaftlichen Versagens gegenüber dem
Faschismus angewandt worden. Insofern sei es zu
„zeitlos“, um für aktuelle Fragestellungen
wirklich etwas zu bringen. Sinnvoller sei die Frage: Was ist
eigentlich der Charakter unserer Übergangsepoche? Und: Wie
positionieren sich die Gewerkschaften in diesem Übergang? Es
bildet sich ein neuer Kapitalismus heraus, dem gegenüber die
Linke und die Gewerkschaften noch weit gehend hilflos sind. Sie
sind noch fixiert auf die nationale Ebene der Klassenkämpfe,
während sich das Kapital transnational formiert.
Nach Ansicht von Georg Benz, ehemaliges Vorstandsmitglied der IG Metall, ist der heutige Zustand der Gewerkschaften wenig viel versprechend für Internationalismus. Mit der anstehenden europäischen Verfassung werde es auch ein europäisches Arbeits- und Sozialrecht geben. Da bekämen die Gewerkschaften noch ein Menge zu tun. Einen wichtige Anknüpfungspunkt für ein wirkungsvolleres internationalistisches Engagement der Gewerkschaften sah Huffschmid im Widerstand gegen die in ganz Europa wirksame Welle der Privatisierung und des Abbaus des öffentlichen Sektors. Dieser Widerstand sei in Griechenland, Italien, Frankreich, Österreich spürbar. Die Gewerkschaften seien herausgefordert, hier ein soziales Alternativkonzept vorzulegen, und die Linke müsse dazu beitragen.
Wo ist der politische Arm der Gewerkschaften?
Das Podium zur Frage „Wo ist der politische Arm der Gewerkschaften“ eröffnete Richard Detje (WissenTransfer) mit einer Bemerkung von Georg Benz, dass diese Frage nach dem politischen Arm die Politik beantworte und nicht die Gewerkschaft. In der gegenwärtigen Situation wäre jedoch neben der gewerkschaftlichen Gegenmacht-Politik auch ein immenser Druck in der Zivilgesellschaft nötig. Detje verwies auf den anstehenden Generalstreik in Italien, der so in der Bundesrepublik momentan nicht denkbar wäre. Detje stellte an Francis Wurz (Fraktionschef der Grünen/Nordische Linke im Europäischen Parlament), Monika Knoche (Ex-Grünen-MdB und nunmehr bei der Bundesvorstandsverwaltung von ver.di) sowie Frank Deppe zwei grundsätzliche Fragen: Welche Rolle spielen Gewerkschaften heute im politischen System? Wie kann sozialer Protest effektiver organisiert werden? Monika Knoche zu Folge wird die heutige Politik von Rot-Grün so gut und effektiv gemanagt, wie es nur gewendete Altlinke zu können vermögen – ein Beispiel dafür sei die Agenda 2010. Die Linke äußere sich demgegenüber kaum mehr zu gravierenden sozialpolitischen Fragen. Ein Beispiel sei die aktuelle Debatte um die EU-Verfassung: Die Politik rase derzeit vorbei wie ein ICE, und das mit einem durchgehend nicht emanzipatorischen Projekt. Die Bundesregierung habe dabei durchaus ein Konzept. Die Gewerkschaften – und das betonte Knoche in alarmierender Drastik – hätten zur Zeit keinen politischen Arm; der sei abgeschlagen. Bei der Gesundheitsreform seien die Gewerkschaften für die Bundesregierung nicht einmal mehr als ernst zu nehmender Gegner vorhanden gewesen.
Frank Deppe nannte die aufgeworfenen Fragen schwierig. Ihre Beantwortung gehöre auch zu einem umfassenden und langfristigen Lernprozess der Linken, nicht nur der Gewerkschaften. Auf Knoches Beispiel der EU-Verfassung eingehend, verwies er auf Jörg Huffschmid, der bereits vor Jahren anlässlich der Bangemann-Pläne gewarnt habe, eine EU-Verfassung könne alles andere als ein linkes Projekt werden. Auch die Frage nach dem Verhältnis der Gewerkschaften zum politischen Arm sei nicht neu. Was die SPD betreffe, so seien die Gewerkschaften spätestens seit Bad Godesberg misstrauisch – Deppe erinnerte an das seinerzeit nur allzu berechtigte tiefe Misstrauen Otto Brenners gegenüber der Partei Wehners und Erlers. Neu seien gegenwärtig nicht die zunehmenden Austritte aus der SPD, wohl aber, dass sie ohne jede beobachtbare Wirkung innerhalb der Partei blieben. Frank Deppe referierte im folgenden einige Thesen zur gegenwärtigen Formation des Kapitalismus und zu den Änderungen innerhalb seines politischen Systems. Bezugnehmend auf Todd und Offe führte er aus, dass seit 1991 die Beteiligung an der Politik zurückgegangen sei und es zu einem viel beschriebenen „Aufstieg der Eliten“ kam. Ein Funktionswandel der Massenparteien habe eingesetzt, die sich von einer sozialen, zivilgesellschaftlichen Verankerung loslösten. Auf Donald Sassoon Bezug nehmend erläuterte Deppe drei Phasen des Revisionismus innerhalb der Sozialdemokratie: Die erste mit Bernstein, die zweite mit dem Einsetzen des ‚Golden Age‘ und die dritte mit ‚New Labour‘. Deren generelle programmatische Aussage sei: ‚Wir machen den besseren Kapitalismus.‘ Allerdings betonte Frank Deppe, dass es gegenwärtig keineswegs politisch berechtigt wäre, so pessimistisch zu sein, wie es in vielen deutschen gewerkschaftlichen und linken Arbeits- und Diskussionzusammenhängen der Fall sei. Man habe den Blick über die Grenzen zu werfen und soziale Protestbewegungen wie in Seattle, in Frankreich und in Italien zu registrieren; der Protest formiere sich international durchaus. Auch in Großbritannien z.B. würden derzeit New-Labour-freundliche Gewerkschaftsvorstände abgewählt, ein Ausdruck der Stärkung autonomer Haltungen in den englischen Unions. Die bundesdeutsche Agenda 2010 greife nunmehr Kernfragen der gewerkschaftlichen Identität auf- und an, fuhr Deppe fort. In einer Zeit, in der soziale Blöcke auseinanderbrächen, stelle sich mit Gramsci die Frage nach der Gestalt und den Trägern des neuen gegenhegemonialen Blocks. Dieser neue Block dürfe vor allem keine relativen Privilegien der Arbeiterklasse verteidigen, die es durchaus gäbe. Gerade der Trend zu Prekarisierung müsse aufgegriffen werden, und die Gewerkschaften sowie die Linke müssten in diesen Bereichen Fuß fassen. In gewissem Sinne gehe es jetzt und in Zukunft um eine ‚Rifondazione‘ die Neugründungen von Autonomie, von neuen Blöcken umfasse, jedoch nicht von neuen Parteien. Solche neuen Blöcke müssten sich im europäischem, im internationalen Rahmen formieren und vor allem Kommunikationsfähigkeit erreichen. So etwas wie das Europäische Sozialforum sei hier beispielhaft und wichtig.
Francis Wurz wurde von Richard Detje gefragt, welche Lehren man aus dem Scheitern des Projekts Frankreichs und der französischen Linken an der Macht ziehen könne. Wurz verwies zunächst auf den Unterschied der französischen Sozialisten zur deutschen Sozialdemokratie: Die politische Krise in Frankreich sei auch zu einem Teil ein Problem der Sozialistischen Partei. Aus der Niederlage sei für die FKP zu lernen, dass sie vor wichtigen parlamentarischen Ereignissen und Abstimmungen den sozialen Widerstand als Bewegung zu mobilisieren habe. Sie müsse die politische Debatte mit den Bürgern intensivieren und demokratisieren. Auf europäischer Ebene wäre es hingegen zur Zeit ungemein schwierig, den politischen Gegner kenntlich zu machen und zu identifizieren, zumal die politischen Kulturen Europas eben different wären. Auf Frank Deppe und dessen Beispiel der französischen Streikbewegungen eingehend, nannte Wurz die Streikbewegung von 1995 eine wunderbare, reine Klassenbewegung, aus der jedoch tragischerweise die politische linke Einheit mit Jospin gemacht wurde – diese ist gescheitert. Die Lehre: Die linken Parteien müssen ihre Füsse in den sozialen Bewegungen haben.
In der anschließenden Diskussion verwies Viktor Kalla (Betriebsratsvorsitzender bei der Frankfurter Rundschau) auf die tiefgreifende Misere der deutschen Linken. Die Gewerkschaften verfügten durchaus über genügend Kanäle zur SPD, aber welche fatalen Folgen das haben könne, das habe ja gerade Francis Wurz am Beispiel Frankreich erläutert. Es sei die derzeitige Schwäche der Gewerkschaften, im Betrieb zu organisieren und zu mobilisieren. So sei auch Frank Deppes ‚Optimismus‘ zu bezweifeln. Die Kollegen würden derzeit nicht viel mehr als kurze Warnstreiks durchhalten. Die Gewerkschaften müssten sich vielmehr in die Nähe der Menschen bewegen, für ein besseres Leben einstehen und vor allem die betriebliche Ebene stärken. Peter von Oertzen verwies darauf, dass alles gewerkschaftliche Handeln immer flankierendes staatliches und institutionelles Handeln erfordere, so in der Sozialpolitik und im Recht. Nur anarchosyndikalistische Gewerkschaften müssten so etwas nicht berücksichtigen; deren Gründung stehe aber nicht an. Die Gewerkschaften könnten nie eine politische Ersatzpartei sein, daher sei die Verankerung in sozialen Bewegungen ja gerade unverzichtbar. Nur: Keine politische Partei heute habe oder wolle jene Verankerung. Die Frage sei also, ob aus der gewerkschaftlichen Linken eine Art Bürgerbewegung entstehen könne.
Hans-Jürgen Urban stellte die Frage, warum es der Gewerkschaftslinken so zu schaffen mache, dass sie keinerlei politische Vertretung im parlamentarischen Raum habe. Bei der Auseinandersetzung um Gesetzgebungsverfahren sei festzustellen, dass die Experten und Ministerialbeamten aus der Sozialdemokratie beratungs- und diskussionsresistent seien und außerdem mit einer schweren Abneigung gegenüber Gewerkschaftern behaftet. Also müsse man den Protest und Plebiszite ‚von unten‘ und auf neuen Ebenen anstreben und gewerkschaftlich organisieren. Michael Wendl vertrat die These, es gebe durchaus noch einen ‚politischen Arm‘ der Gewerkschaften, und zwar in dem Sinne, dass der Geist der ‚Neuen Sozialdemokratie‘ in den Gewerkschaften stark sei. Es lähme überdies die politische Mobilisierung der Gewerkschaften, dass sich viele ihrer Akteure gegenüber den Repräsentanten von Rot-Grün in einer persönlichen Erinnerungssituation an die gemeinsamen Erfahrungen in der neuen Linken der siebziger Jahre befänden. Eigentlich müsse also die Bundesregierung erst einmal scheitern, bevor man in einer Situation der Ernüchterung neue Wege gehen könne. Klaus Ernst (Bevollmächtigter der IG Metall Schweinfurt) vertrat die These, dass die derzeitige Mobilisierungsunfähigkeit nicht daran liege, dass die Kollegen nicht wollten. Man habe kein Vermittlungsproblem, das Problem sei der politische Kurs des DGB und der IG Metall. In den Betrieben warte man durchaus darauf, dass ein Signal gegen die Mutlosigkeit und für den Protest komme – und dieses könne die IGM auch organisieren. Heinz Bierbaum argumentierte, dass eine Repolitisierung der Gewerkschaften notwendig sei. Eine neue autonome Gewerkschaftspolitik innerhalb der keineswegs politisch einheitlichen deutschen Gewerkschaftsbewegung sei gefragt; von einer früheren offensiven Tarifpolitik z.B. sei man gegenwärtig meilenweit entfernt. Dieter Klein (Rosa-Luxemburg-Stiftung) erklärte, dass die PDS mitschuldig am Verlust des politischen Arms der Gewerkschaften sei. Er erläuterte den neuen Programmentwurf der PDS, der internationalistisch und auf soziale Bewegungen ausgerichtet sei – nur in der Verankerung in diesen liege die Zukunft der Partei.
Perspektiven jenseits des Kapitalismus
Die anschließende Podiumsrunde stand unter dem Titel: „Pragmatischer oder utopischer Überschuss? Wo bleibt die Sehnsucht nach der Perspektive jenseits des Kapitalismus?“ Von Klaus Pickshaus (IG Metall Vorstand) moderiert, referierten auf dem Podium Karl Georg Zinn, Detlef Hensche und Rainer Einenkel. Pickshaus eröffnete damit, dass es in den Gewerkschaften immer den Widerspruch zwischen einem pragmatischen und einem utopischen Überschuss gegen habe und verwies auf eine These Deppes aus den achtziger Jahren, dass die Arbeiterbewegung jenen utopischen Überschuss benötige bzw. ihn dann habe, wenn sie stark sei. Rainer Einenkel (stellvertretender Betriebsratsvorsitzender bei Opel Bochum) fragte nach der Art der Vision der Linken – seine Kollegen im Betrieb würden ihn bei dieser Frage nicht verstehen. Im Betrieb gehe es derzeit um den erhöhten Erpressungsdruck des Kapitals, es gebe keine sicheren Arbeitsplätze mehr, die Arbeitszeiten differierten gewaltig nach unten und oben, der Trend zur Fremd- und Selbstausbeutung durch Teamarbeit dramatisiere sich, es gehe um die Absicherung von Stammarbeitern und man habe schlichtweg keine Zeit, über Visionen nachzudenken. Er habe jedoch gute Gründe, an dieser Diskussion teilzunehmen; zunächst der Respekt vor der Arbeit von Horst Schmitthenner, dann die Tatsache, dass es Kollegen gebe, die nicht Angst hätten, sondern den aufrechten Gang gingen und zudem, dass es notwendig sei, derzeit über die Glaubwürdigkeit der Gewerkschaften zu diskutieren. Denn es wäre eine moralische Frage, warum den Kollegen im Ost-Streik so dreist in den Rücken gefallen worden sei. Es bestehe die dramatische Gefahr, dass die Gewerkschaften zu Organisationen der Grossbetriebe würden, die den Gedanken der Solidarität gegenüber den Schwächeren, den Ausgrenzten verletzten. Im betrieblichen Handeln gingen die Perspektiven immer mehr verloren. Es stelle sich die Frage, wie man innerhalb des Systems Pflöcke setze, die Schutz böten vor der Übermacht des Kapitals – von einer Abschaffung könne man derzeit nur träumen. Folgende Fragen stellten sich zukünftig: Wie könne man im Betrieb in Alternativen denken, wie die Debatte um Humanisierung der Arbeit und jene um Arbeitszeitverkürzung wieder aufgreifen, wie die Bildungsarbeit stärken und wie die Alterssicherheitsfrage beantworten.
Karl-Georg Zinn (Wirtschaftswissenschaftler, Aachen) stellte die Frage, warum es keine mobilisierungsfähige Linke gebe. Mit Kierkegaard meinte er, dass das Leben eben vorwärts gelebt und rückwärts verstanden würde. Daher argumentiere er auch hier historisch und konstatiere einen Verlust an emanzipatorisch-gesellschaftlicher Deutungskraft der Linken. In Deutschland sei jener Sozialtypus des Untertanen wieder im Kommen, den Heinrich Mann beschrieben habe. Das unterscheide Deutschland kulturell von Frankreich oder Italien. Wertorientierungen und Ligaturen wüchsen langsam; daher habe es auch nie eine gesellschaftliche Mehrheit für die deutsche Linke gegeben. Auch der Sozialstaat sei ein Resultat des Zweiten Weltkriegs und nicht von der Linken erkämpft. Möglicherweise sei der deutsche Sozialstaat nur eine historische Sondersituation gewesen – es drohe der Rückfall in die längerfristige deutsche Tendenz der Restauration und Reaktion.
Detlef Hensche konstatierte eine Erosion des Korporatismus und riet ebenso wie Deppe dazu, den Blick für ‚ganz unten‘ zu schärfen. Man müsse nur die Regierungspolitik der letzten fünfzehn Jahre gegen den Strich bürsten, dann hätte man die Alternativen der Linken – nämlich genau das jeweilige Gegenteil zu dem, was in den letzten fünfzehn Jahren politisch durchgesetzt wurde. Die Probleme und Herausforderungen für die Linke lägen auf der Straße: Die Verteilungsfrage, ein neues Stadium des Sozialdumpings und die Frage der sozialen Sicherungssysteme. Zu all dem gebe es Alternativen. Hier müssten Bündnisse mit sozialen Bewegungen auf verschiedenen Ebenen geschlossen werden, hier müsse man Kämpfe und Auseinandersetzungen auch durchstehen und nicht nur zögerlich beginnen und dann abwürgen. Eine Mindestlohnkampagne stehe an, und zudem könne man derzeit auch moralisch für den Sozialsaat argumentieren; Menschen müssten und dürften keine Angst haben. Auch Modelle für Arbeitszeitverkürzungen existierten schließlich schon und müssten ausgebaut und popularisiert werden; mobilisierungsfähig seien sie allemal.
In der anschließenden Diskussion stellte Richard Detje fest, dass man sich einig sei, gegen die Agenda 2010 mobilisieren zu müssen und auch zu können. Das Problem bestehe aber auch darin, wie man einzelne Politikfelder mit anderen verknüpfe. Man müsse Antworten auf die Frage des Sozialstaates insgesamt geben können. Michael Wendl verwies auf den Mangel einer zureichenden ökonomischen Krisenanalyse; bereits bei der Riester-Rente hätte man auf den ökonomischen Unsinn dieser Massnahme verweisen müssen. Viktor Kalla plädierte für die Arbeitszeitverkürzungskampagne im Zentrum der Gewerkschaftspolitik, und Monika Knoche verwies auf die Notwendigkeit der gewerkschaftlichen Erinnerung an die Kampagnen der achtiger Jahre.
Auf dem Podium war man sich darüber einig, an den Bedürfnissen der Menschen anzusetzen und die vorhandenen politischen Erfahrungen für das politische Handeln zu sammeln und zu nutzen. Hensche bekräftigte, dass es bei den politisch aktiven Kollegen ein Bedürfnis nach Perspektiven gebe. Die Gewerkschaften müssten bei den gegenwärtigen konkreten Problemen ansetzen und selbst Diskussionsprozesse in Gang setzen, statt lediglich auf die Zumutungen des Kapitals und der Politik zu reagieren. Die Gewerkschaften seien durchaus in der Lage, die Idiotie neoliberaler Argumente deutlich zu machen.
Insgesamt zeigte sich in der Diskussion ein nachdenklicher und selbstkritischer Umgang mit den Schwächen und Defiziten der Linken und der Gewerkschaften. Es mag Ausdruck eben dieser Schwäche der gewerkschaftlichen Linken sein, dass die kritische und selbstkritische Bestandsaufnahme die Tagung bestimmte. Die Diskussion über Perspektiven und Alternativen kam dagegen eher zögernd in Gang. Trotzdem erbrachte die Veranstaltung wertvolle Impulse für eine aktivere Rolle der Gewerkschaften im Kampf um ein linkes gesellschaftliches Reformprojekt.