Gewerkschaften: Zwang zur Re-Politisierung

Der 20. Ordentliche Gewerkschaftstag der IG Metall

Dezember 2003

Im Mai dieses Jahres versuchten die DGB-Gewerkschaften, ihre Mitglieder gegen die Reformpläne der Bundesregierung – namentlich gegen die Agenda 2010 – zu mobilisieren. Bei den Demonstrationen wurden nach verschiedenen Schätzungen lediglich 90.000 Menschen gezählt. Aufgrund dieses bescheidenen Erfolges verzichteten die Gewerkschaften einschließlich der IG Metall-Führung um Klaus Zwickel auf weitere Aufrufe zu Protesten.

Die geringe Mobilisierungsfähigkeit bei Protesten gegen Pläne der SPD-geführten Bundesregierung kann als konkrete Folge einer Reihe von Faktoren verstanden werden: Ein allgemeines Problem der deutschen Gewerkschaften liegt neben der Tendenz zur Bürokratisierung in der vor allem durch die Massenarbeitslosigkeit bedingten Lähmung ihrer Mitgliedschaft, wobei sich beide Aspekte gegenseitig beeinflussen. Des weiteren erweist sich die traditionell enge Verbindung zwischen den Gewerkschaften und der Sozialdemokratischen Partei als zusätzliches Problem. Während in Österreich, Frankreich und kürzlich in Italien die Gewerkschaften mit dem Mittel des Generalstreiks gegen die neoliberalen Umstrukturierungspläne vorgingen, die in den entwickelten kapitalistischen Staaten mit ihren Deregulierungs- und Sozialabbauprogrammen in sehr ähnlicher Form verlaufen, ist dies von den deutschen Gewerkschaften nicht einmal annähernd ernsthaft in Erwägung gezogen worden. Das für die Bundesrepublik charakteristische Bündnis zwischen SPD und Gewerkschaften mit ausgeprägter sozialpartnerschaftlicher Ideologie und Praxis erweist sich hier als stabiler als in anderen Ländern, wo auch sozialdemokratische Parteien in den Regierungen sitzen und trotzdem von der Aufkündigung der historischen Bündnisse gesprochen wird.[1] Zwar werden auch in den deutschen Gewerkschaften, insbesondere in der IG-Metall und bei ver.di, Stimmen laut, die massive Kritik an der SPD-Grünen-Regierung und deren Politik der Neuen Mitte artikulieren. Von einem Stimmungsumschwung kann aber eher noch nicht die Rede sein.

Kontroversen und Fragestellungen im Vorfeld des Gewerkschaftstages

Vor dem Hintergrund der neoliberalen Hegemonie und der damit zusammenhängenden allgemeinen Schwäche der Gewerkschaftsbewegung wie der Linken insgesamt stürzte der Ausgang des von der IG Metall-Spitze Ende Juni 2003 abgebrochenen Streiks in Ostdeutschland die Gewerkschaft in eine schwere Krise.[2] Offen traten Differenzen und Interessenunterschiede innerhalb der Gewerkschaft zu Tage, beispielsweise zwischen dem Vorstand, den Mitgliedern in Ostdeutschland und den Betriebsratsvorsitzenden der großen Automobilkonzerne im Westen. Die gewerkschaftsfeindliche Berichterstattung der Medien verschärfte die Situation nochmals.

Um dieser kampagnenartigen Kritik der öffentlichen Medien an den „fortschrittsfeindlichen“ Gewerkschaften und an bestimmten Personen, insbesondere dem designierten Nachfolger Klaus Zwickels, Jürgen Peters, der als „Traditionalist“ und „Betonkopf“ galt, den Wind aus den Segeln zu nehmen und die IG Metall vor zunehmender Polarisierung und Handlungsunfähigkeit zu bewahren, wurde der 20. Ordentliche Gewerkschaftstag in zwei Teile aufgeteilt. Der erste Teil fand vom 29.-31. August 2003 in Frankfurt am Main statt. Er war vor allem der Wahl einer neuen Führung gewidmet. Ferner stand er im Zeichen der politischen Rechenschaftsberichte des Vorstands und der Aufarbeitung der Konflikte und innergewerkschaftlichen Kontroversen der letzten Monate. Der zweite Teil fand vom 14.-18. Oktober in Hannover statt und war von der Debatte um die Entschließungen zur programmatischen Ausrichtung der Gewerkschaft geprägt.

Die Personaldiskussion um die Nachfolge Klaus Zwickels brachte nach Ansicht vieler Kommentatoren den Flügelkampf innerhalb der Gewerkschaft zwischen den so genannten „Traditionalisten“ und den „Modernisierern“ zum Ausdruck. Hinter diesen griffigen, schablonenartigen Etikettierungen verbirgt sich eine etwas komplexere Realität; zudem verdeckt sie weit wichtigere Fragen wie die nach der Verbindung von „Gegenmachtskonzepten“ und Verhandlungskompromissen. Als Vertreter der ersten Richtung gilt der auf dem Gewerkschaftstag neu gewählte Vorsitzende Jürgen Peters. Sein Stellvertreter, der bisherige Bezirksleiter von Baden-Württemberg Berthold Huber, zählt zu den Vordenkern der „Modernisierer“. Der neu gewählte und verkleinerte Vorstand wird, wenn man einmal der Etikettierung folgt, eher von „Modernisierern“ im Sinne Hubers dominiert. Die Zuordnung von Jürgen Peters zum „traditionalistischen“ Gewerkschaftsspektrum ist allerdings nicht unumstritten. Der Bezirk Hannover, dessen Leiter Peters war, gilt als „Pilot-Bezirk“ für tarifpolitische Innovationen.[3] So wurden mit Peters Zustimmung Öffnungsklauseln bei VW eingeführt.[4] Also exakt das, was von Huber und anderen mit seinen Vorschlägen zur Differenzierung der Tarifpolitik angestrebt wird.

Die Personaldiskussion in der IG Metall brachte nicht zuletzt zum Ausdruck, wie sich Machtverhältnisse innerhalb der Organisation verändert haben. Der Vorsitzende und der geschäftsführende Vorstand haben an Einfluss zugunsten der Bezirke und der Betriebsräte der Großbetriebe – vor allem aus der südwestdeutschen Automobilindustrie – eingebüßt. In der Führungskrise waren somit auch die Probleme der Verbetrieblichung der Gewerkschaftspolitik der IG Metall manifest geworden. Damit ist eben jener Prozess gemeint, den die Industriesoziologen Horst Kern und Michael Schumann für den Wandel der ehemals linken IG Chemie zum rechten Flügel des DGB mitverantwortlich machten.[5] Der Streit um die Nachfolge von Zwickel mutete zuweilen wie ein exklusiver Streit zwischen den Betriebsräten von VW, Daimler-Chrysler und Porsche an, der mittels der Medien geführt wurde. Die Basis konnte sich kaum in diese personalisierte Diskussion einbringen.

Diese Möglichkeit hatte sie dann vor allem auf dem zweiten Teil des Gewerkschaftstages, der an die im Vorjahr auf dem Zukunftskongress der IG Metall in Leipzig begonnene Debatte um die programmatisch-inhaltliche Ausrichtung der Gewerkschaft anknüpfte. Dieser Kongress hatte ein Zukunftsmanifest „Offensive 2010“ verabschiedet, welches schon im Vorfeld zu kontroversen Diskussionen geführt hatte. So kritisierte der nun aus Altersgründen aus dem Vorstand ausgeschiedene Horst Schmitthenner in einem Zeitungsinterview[6], dass das Papier den „Abschied von der Arbeiterbewegung“ und einen Schritt in Richtung auf die „neue“ Sozialdemokratie bedeute. Darüber hinaus setze sich das Papier über bestehende Beschlüsse der IGM zur Sozialpolitik hinweg. Eben jenes Zukunftsmanifest wie die gesamte Zukunftsdebatte der IG Metall dienten nun als Grundlage für die am 14. Januar 2003 vom Vorstand verabschiedeten Thesen[7], die wiederum die zum Beschluss auf dem zweiten Teil des Gewerkschaftstages vorgesehenen acht Entschließungen inhaltlich abgrenzen sowie vorstrukturieren sollten. Die Thesen selbst standen jedoch nicht zur Abstimmung. Themenschwerpunkte der Thesen sowie der acht Entschließungen waren: „Gesellschaftspolitik und allgemeine Gewerkschaftspolitik“, „Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik“, „Tarifpolitik“, „Sozialstaat und Sozialpolitik“, „Betriebs- und Mitbestimmungspolitik“, „Mitglieder und Organisationsentwicklung/Unterschiedliche Mitgliedergruppen“, „Öffentlichkeitsarbeit und interne Kommunikation“ sowie „Bildung und Qualifizierung“. Bis auf die Entschließungen „Mitglieder und Organisationsentwicklung“ sowie „Öffentlichkeitsarbeit und interne Kommunikation,“ die an den Beirat – das höchste beschlussfassende Organ zwischen den Gewerkschaftstagen – überwiesen wurden, wurden alle Entschließungen fast unverändert angenommen.

Die Entschließungen des Gewerkschaftstages

Mit Blick auf den Gewerkschaftstag ist vor allem zu fragen, ob und inwieweit Elemente der „neuen“ Sozialdemokratie in die gewerkschaftlichen Positionen Einzug gefunden haben. Horst Schmitthenner und Hans-Jürgen Urban hatten einen solchen Trend in ihrer Bewertung des Zukunftskongresses festgestellt.[8] Zugleich ist zu fragen, ob sich entgegen der von Zwickel auf dem Zukunftskongress verfolgten Strategie, „mit unseren Beiträgen zur Sozialstaatsreform und Wirtschaftspolitik in die Mitte der Gesellschaft vorzustoßen“[9], eine andere inhaltliche Positionierung durchsetzen konnte. Im folgendem sollen die Entschließungen und Referate des Gewerkschaftstages unter diesen Aspekten betrachtet werden.

Gesellschafts- und Gewerkschaftspolitik

In der Entschließung 1 „Gesellschaftspolitik und allgemeine Gewerkschaftspolitik“ wird als aktuell relevanter, sozio-ökonomischer Hintergrund gewerkschaftlichen Handelns eine „Welt im Wandel“[10] skizziert, die drei charakteristische Hauptentwicklungstendenzen aufweist. Festzustellen ist demnach erstens eine unter neoliberaler Hegemonie vorangetriebene Globalisierung der Ökonomie, die besonders rasant auf den Kapital- und Finanzmärkten verläuft. Zweitens werden veränderte Rahmenbedingungen durch neue Informations- und Kommunikationstechniken hervorgehoben, die sich u.a. in einer zunehmenden Polarisierung und Heterogenisierung der Arbeitsanforderungen niederschlagen. Schließlich wird ein gesellschaftlicher Wandel diagnostiziert, der die Phänomene zunehmender Individualisierung und Pluralisierung der Lebens- und Arbeitsbedingungen nach sich zieht.

Auf diese ambivalenten gesellschaftlichen Prozesse, die die Grundlagen traditioneller gewerkschaftlicher Handlungsfähigkeit allmählich erodieren lassen, wird in der Entschließung mit dem Ziel programmatischer Erneuerung unter dem Motto „Vielfalt solidarisch gestalten“ reagiert. Bezogen auf ein neues gewerkschaftliches Leitbild soll dies durch den schwierigen Spagat zwischen Gestaltungsmacht einerseits und Gegenmacht andererseits realisiert werden. Um der „strategischen Schlüsselaufgabe“ (I, 5)[11] der Zukunft, der breiteren Verankerung gewerkschaftlicher Interessenvertretung bei Angestellten und Beschäftigten in produktionsnahen Dienstleistungen, gewachsen zu sein, wird ein starker Akzent auf ein modernes Image und Auftreten gesetzt. Als alarmierend gilt vor allem die häufige Assoziation von Etiketten wie „Blockierer“ und „Verlierer“ mit der Gewerkschaft. Um diesem negativen Image entgegen zu treten, wird eine Fortführung des mit der Zukunftsdebatte angestoßenen Reformprozesses gefordert; nicht zuletzt auf der rhetorisch-kommunikativen Ebene müsse sich dies aber schon jetzt in entsprechenden Gegenstrategien niederschlagen. So werden in diesem Abschnitt häufig vermeintlich positiv konnotierte Vokabeln wie „Flexibilität“ (der Tarifverträge), „konstruktiv“, „Differenzierung“ oder „Vielfalt“ verwendet. Der traditionelle Gedanke der „Einheit“ kommt demgegenüber nur nachgeordnet zum Tragen.

Die Forderungen nach dem Erhalt des Sozialstaats auf bundespolitischer und nach dem Ausbau der sozialen Dimension auf europäischer Ebene stellen zwei wichtige Ziele dar. Auch in der zukünftig erweiterten EU müsse der Gründungsauftrag, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern, wieder stärker zur Geltung gebracht werden. Ein grundlegender politischer Kurswechsel, der der neoliberalen Hegemonie Alternativen entgegensetzt, sei hier erforderlich. Dieser müsse sowohl durch Engagement auf nationalstaatlicher als auch durch intensivere Vernetzung auf europäischer Ebene vorangetrieben werden. Welche Rolle den Gewerkschaften vor allem auf europäischer Ebene dabei zukommt oder welche Funktion die Europäischen Betriebsräte jetzt schon als innovatives Koordinationsinstrument dabei spielen könnten, ohne dass sie momentan mit ausreichenden Mitspracherechten ausgestattet sind, bleibt jedoch unklar.

Auf einer globalen Ebene spricht sich die IG Metall für eine an den Begriffen Gerechtigkeit, Nachhaltigkeit und Demokratie orientierte Entwicklung aus. Besonderer Nachdruck wird der Ablehnung jeglicher Präventiv- bzw. Angriffskriege ohne UN-Mandat verliehen, auch wenn sie unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung gerechtfertigt werden. Vorrangig wird auf zivile Konfliktlösungs- bzw. -vermeidungsstrategien gesetzt, eine Beteiligung der Bundeswehr an Kriegseinsätzen unter UN-Mandat aber gebilligt.[12]

Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik

Die Entschließung 2 zur Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik beginnt mit einem Satz, der das Gegenteil von dem besagt, was in Entschließung 1 steht. Dort wurde der Globalisierung eine Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen sowie eine Vermehrung des Wohlstands in mehreren Regionen zugesprochen. (I, 1) Eine Formulierung übrigens, die in der Diskussion heftig kritisiert wurde. In Entschließung 2 heißt es nun: „Die Spaltung in Arm und Reich ist in den letzten Jahrzehnten tiefer geworden: Überall, in Industrieländern und Entwicklungsländern, weitet sich die Arbeitslosigkeit aus“ (II, 1). Als zweites von drei aufgelisteten Strukturproblemen wird die zunehmende Arbeitslosigkeit in Deutschland angeführt, die eine Gefahr für die gesellschaftliche und gesamtwirtschaftliche Entwicklung darstelle. Drittes Strukturproblem sei die Rolle der USA. „Mittel- und langfristig gehen von der Politik der US-Regierung hohe Risiken für die Stabilität der Währungsrelationen und die soziale Regulierung der Weltwirtschaft aus“ (II, 1).

Den gescheiterten neoliberalen Wirtschaftskonzepten – so kann man zusammenfassen – setzt der 20. Gewerkschaftstag ein klassisch keynesianisches Konzept entgegen: eine aktive und expansiv gestaltete nationale Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, die Massenarbeitslosigkeit durch nachhaltiges Wirtschaftswachstum bekämpfen soll. Eckpfeiler der IG Metall-Vorschläge ist ein mittelfristig angelegtes Investitions- und Beschäftigungsprogramm in den Bereichen Bildung und Erziehung, auf dem Feld der sozialen Infrastruktur, im Verkehrsbereich und im Wasser- und Umweltschutz. Der dringende Investitionsbedarf der Gemeinden müsse dabei vorrangig befriedigt werden. Auf internationaler Ebene setzt sich die Gewerkschaft für die Einführung der Tobin-Steuer und Kapitalverkehrskontrollen, für die Schließung von Steueroasen sowie die Demokratisierung der WTO, IWF und Weltbank ein, was auch bessere Beteiligungsrechte der Entwicklungsländer umfassen soll.

Tarifpolitik

In den Ausführungen zur Tarifpolitik schwingt ein vorsichtiges Eingeständnis einer defensiven Lohnpolitik mit. „Stagnierende Reallöhne haben nicht – wie vom Sachverständigenrat und anderen versprochen – zu mehr Arbeitsplätzen geführt, sondern zu Nachfrageschwäche, stagnierendem Konsum und rückläufiger Beschäftigung“ (II, 3). Diese Einschätzung macht deutlich, dass sich die Tarifpolitik zumindest teilweise an den Empfehlungen der neoliberal dominierten Sachverständigenräte und Wirtschaftsweisen orientiert hat. Es wird konstatiert, dass die Tarifabschlüsse in den letzten Jahren hinter der Produktivitätsentwicklung zurück blieben und die Reallöhne stagnierten. Hauptmaßstab für die Lohnpolitik der IG Metall sollen in Zukunft die Komponenten Produktivität, Preise und Umverteilung bleiben. Damit sind Befürchtungen widerlegt, die bei Lektüre des Zukunftsmanifests auftauchten. Dort hieß es: „Nationale Tariferhöhungen müssen im Ergebnis kontinuierlich die Preissteigerungsrate und den gesamtwirtschaftlichen Produktivitätsanstieg ausgleichen. Langfristige Verteilungsdefizite können über die Tarifpolitik kaum kompensiert werden.“[13] Das hörte sich nach einer Ausrichtung der Lohnpolitik an den Kriterien Inflationsrate und Produktivität und somit der Aufgabe des Umverteilungsfaktors an, was gleichzeitig eine Entpolitisierung der Tarifverhandlungen sowie das Ende einer autonomen Tarifpolitik bedeutet hätte. Dann – so Schmitthenner/Urban – „wäre es ehrlicher, sich die Forderungen gleich durch das Statistische Bundesamt oder die Europäische Zentralbank ausrechnen zu lassen.“ In der Entschließung des Gewerkschaftstages heißt es nun: „Mit der Umverteilungskomponente sollen kurzfristige Verteilungsdefizite korrigiert oder strukturelle Verteilungseffekte erreicht werden.“ (II, 3). „Zentraler Auftrag der IG Metall ist, mit ihrer Tarifpolitik einen Beitrag zu einer gerechten Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu leisten. Tarifpolitik ist immer auch Verteilungspolitik.“ (III, 3). Es wird konstatiert, dass sich die Verteilungsposition zwischen Kapital- und Lohneinkommen in den achtziger und neunziger Jahren zu Ungunsten der Arbeitnehmer entwickelt haben. Aufgabe bleibe es, diese Fehlentwicklung zu korrigieren. Jürgen Peters betonte in seinem Grundsatzreferat auf dem Gewerkschaftstag in Hannover, dass eine Korrektur dieser Fehlentwicklung natürlich nicht nur mittels der Tarifpolitik zu erreichen sei, sondern es bedürfe eines verteilungspolitischen Gesamtkonzepts, welches tarifpolitische Verteilungsziele, eine solidarische Finanzierung der Sozialversicherungen und eine gerechte Steuerreform verbinde.[14] Bertold Huber hat jedoch eine Woche nach dem Gewerkschaftstag mit Blick auf die nächsten Tarifrunden angekündigt, die Einkommenseinbußen durch die so genannten Sozialreformen nicht durch höhere Tarifforderungen ausgleichen zu wollen. Obwohl das in vielen Betrieben diskutiert werde, werde sich die Tarifrunde an dem Verteilungsspielraum orientieren, der sich aus Inflation und Produktivitätszuwachs errechne.[15]

Die Erhaltung der Tarifautonomie und der Flächentarifverträge sieht die IG Metall als eine ihrer wichtigsten Aufgaben an (III, 1). Das besagt auch die verabschiedete Hannoveraner Erklärung[16], die Bundeskanzler Schröder übergeben wurde. In Entschließung und Erklärung wird die Existenz zahlreicher Öffnungsklauseln erwähnt, die zur Standort- und Beschäftigungssicherung in den Tarifverträgen eingefügt wurden. Dass diese Öffnungsklauseln de facto ein Absinken des Lohnniveaus bedeuten, wird nicht explizit erwähnt, aber implizit eingestanden. So auch im Geschäftsbericht: „Während für ökonomisch schwierige Situationen in der Tarifrunde 2002 für alle Betriebe eine Öffnungsklausel eingeführt wurde, stehe nun auch eine Öffnung nach oben an, die mit dem Namen der IG Metall zu verbinden sei.“[17] „Betriebliche Bündnisse“ sowie gesetzliche Öffnungsklauseln werden abgelehnt (III, 2f). Zu der vor allem von Berthold Huber und den südwestdeutschen Betriebsräten initiierten Diskussion um die ertragsabhängige Differenzierung bzw. die zweistufige Tarifpolitik heißt es in einem Ergänzungsantrag, bis Ende des Jahres 2005 solle der Verständigungsprozess über eine „stärker erfolgsabhängige Differenzierung der Tarifpolitik durch einen Beschluss des Vorstands über die mittelfristige tarifpolitische Planung vorläufig abgeschlossen“ sein. Es wird jedoch zugestanden, dass erfolgsabhängige Entgelte für gesonderte (Jahreszahlungen nur in Form einer zusätzlichen tariflichen Zusatzvereinbarung denkbar seien (III, 5). Gleichzeitig werden aber Modelle abgelehnt, die auf eine erfolgsabhängige Differenzierung der regelmäßigen Grundentgelte zielen. Die Tarifpolitik müsse den Interessen aller Beschäftigten verpflichtet bleiben (III, 5). Die endgültige Entscheidung wurde somit vertagt, die Diskussion wird weitergehen und ihren Niederschlag vielleicht schon in der nächsten Tarifrunde im Dezember finden. Was die Frage der „betrieblichen Bündnisse“ angeht, so wies der Gewerkschaftstag in einem Ergänzungsantrag die Forderung zurück, diese aufzuwerten, und bezeichnete die Androhung gesetzlicher Öffnungsklauseln als Kampfansage an die Gewerkschaften. Etliche Anträge forderten die Rücknahme der Verschlechterungen im „Antistreikparagraphen“ 146 Sozialgesetzbuch III, wie es von SPD und Grünen bereits 1998 versprochen wurde. Ein entsprechender Antrag, der gleichzeitig auch auf dem Weiterbestehen des garantierten Streikrechts beharrt, wurde angenommen. Anträge, die einen politischen Streik oder gar den Generalstreik (Antrag Nr. 4.002) als legales Mittel forderten, hatten keine Chance, angenommen zu werden.

Sozialpolitik

Die Entschließung 4 beschäftigt sich mit der in der öffentlichen Diskussion so präsenten Diskussion um den Sozialstaat und die Sozialpolitik. Wenn man den Text gelesen hat, muss man auch hier feststellen, dass im Vergleich zum Zukunftsmanifest in gewissem Maße „neusozialdemokratische“ Elemente zurückgetreten sind. Dort war noch zu lesen, dass über mögliche Alternativen zum System der paritätischen Finanzierung zu diskutieren sei. Mit einer Formulierung wie: „Wir stellen aber fest, dass nicht nur die Gesellschaft gegenüber den Individuen, sondern auch jedes Individuum gegenüber der Gesellschaft Verantwortung trägt“[18] wurde an die Debatte über den „aktivierenden Sozialstaat“ Anschluss gesucht. Nun wird an der paritätischen Finanzierung der Sozialversicherungen festgehalten. „Die IG Metall stellt sich allen Versuchen entgegen, den Anteil der Arbeitgeber an der Finanzierung öffentlicher Angelegenheiten zu Lasten der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu verringern.“ (IV, 1) Dass man trotz Protesten die Riester-Rente mit ihrer Einschränkung der paritätischen Finanzierung nicht verhinderte, findet keine Erwähnung. Die Formulierung „Auf Dauer wird die IG Metall jedoch nicht hinnehmen, dass sich die Arbeitgeber hier aus der Finanzierungsverantwortung stehlen“ (III, 5) klingt jedoch wie ein Eingeständnis. An anderer Stelle wird gesagt, dass das Kapitaldeckungsverfahren gegenüber dem Umlageverfahren bei der Rente keine „durchgreifenden Erfolge“ (IV, 6) habe und man daher eine weitere Verschiebung zugunsten der Kapitaldeckung ablehne. Eine kritische Reflexion bei der Auseinandersetzung mit der Riester-Rente fehlt auch hier.

In der Debatte um den „aktivierenden Sozialstaat“ wendet die Gewerkschaft sich gegen Konzepte, die die Verantwortung für die Massenarbeitslosigkeit individualisieren und spricht sich gegen die Einführung von repressiven Elementen in der Arbeitsmarktpolitik aus (IV, 2). Um die Angriffe auf den Sozialstaat abzuwehren, will sich die IG Metall in einem breiten reformorientierten Bündnis engagieren. In diesem Zusammenhang wurde beschlossen, zu der Demonstration am 1. November in Berlin aufzurufen. Die Vorstände von IG-Metall wie DGB hielten sich bei der Mobilisierung jedoch zurück.

Zur Steuerpolitik der Bundesregierung hat die IG Metall eine differenzierte Haltung, wobei die negativen Bewertungen überwiegen. Die SPD-Grünen-Koalition habe mit der ersten Stufe der Einkommenssteuerreform die Belastung von Arbeitnehmerhaushalten und Familien gesenkt und die noch ausstehenden Stufen würden weitere Entlastungen bringen (IV, 8). Negativ seien dagegen die stärkere Entlastung der oberen Einkommensgruppen sowie die Entlastung der Kapitalgesellschaften zu sehen. Steuerpolitische Prioritäten der Gewerkschaft liegen danach in der Forderung nach einer angemessenen Beteiligung der großen Kapitalgesellschaften an der Finanzierung der öffentlichen Aufgaben, in der Wiedereinführung der Vermögenssteuer, der Einkommensbesteuerung auch für Zinseinkünfte sowie der Harmonisierung der Mindestbesteuerung und der Bemessungsgrundlagen von Unternehmen auf europäischer Ebene (IV, 8). Die Europäische Zentralbank wird lediglich sehr allgemein aufgefordert, sich „an einer koordinierten Beschäftigungsstrategie in Europa zu beteiligen“ (ebd). Kritik an deren ausschließlich auf Preisstabilität ausgerichteten Zinspolitik wird nicht geübt.

Dennoch sind Elemente neoliberaler oder „neusozialdemokratischer“ Konzepte in den Beschlüssen zu finden. So lässt man sich auf die Debatte um die demografische Entwicklung der Gesellschaft ein. Diese mache eine Reform der Rentensysteme unausweichlich (vgl. III, 5). In Entschließung 4 heißt es: „Diese demografische Entwicklung wird den Anteil der aktiv Erwerbstätigen, die durch Steuern und Abgaben den Sozialstaat finanzieren, verringern und die Ausgaben insbesondere für die Alterssicherung erhöhen“ (IV, 1). Dass dieser Argumentation eine gewisse Plausibilität nicht abgesprochen werden kann, ist klar. Verkannt oder zumindest nicht zum Ausdruck gebracht wird jedoch völlig, dass die Diskussion um die demografische Entwicklung hinsichtlich der Finanzierung der Rentensysteme zur Legitimierung einer weiteren Umverteilung zugunsten der Kapitaleinkünfte dient. Denn die Tatsache, dass die Produktivität und das Bruttoinlandsprodukt permanent zunehmen und somit auch der gesamtgesellschaftliche Verfügungsfonds wächst, bleibt unberücksichtigt. Tatsächlich ist der Anteil der Renten am Bruttoinlandsprodukt nur minimal gestiegen; dass die Rentenversicherungsbeiträge aber erheblich mehr angehoben wurden, ist Resultat veränderter Verteilungsverhältnisse zwischen Kapitalbesitzern und Lohnabhängigen. Immerhin widersprach Jürgen Peters dieser demografischen Argumentation mit der Feststellung, über die Finanzierungsspielräume der Sozialkassen entscheide letztlich nicht die Demografie, sondern die Ökonomie. (Peters, 19)

Das Grundsatzreferat Peters bringt darüber hinaus eine deutlichere Distanzierung zur SPD zum Ausdruck. Die Rede wurde unter anderem deshalb als „kompromisslos“ (FR, 17.10.2003) bezeichnet. Der Präsident des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall, Martin Kannegiesser, sprach in einem dpa-Interview sogar von „neosozialistischen Tönen.“ Festzuhalten bleibt, dass die Rede von Peters und auch die Art und Weise, wie der Bundeskanzler auf dem Gewerkschaftstag empfangen wurde, eine kritischere Haltung zum traditionellen Bündnispartner SPD sichtbar werden ließ. Proteste wurden durch zahlreiche Plakate geäußert, bei der Rede selbst wurde gepfiffen und es erklangen zornige Zwischenrufe. In dem Referat Peters heißt es zu den Reformplänen der Bundesregierung: „Diese Politik ist wirtschaftspolitisch unsinnig und sozialpolitisch verantwortungslos. Sie schadet der Konjunktur und reißt neue Gerechtigkeitslücken auf, statt alte zu schließen“ (Peters, 5). Mit Besorgnis wird darauf hingewiesen, dass gerade unter einer sozialdemokratischen Regierung die Tarifautonomie – ein wesentlicher Stützpfeiler des Sozialstaates – ins Wanken gerate (vgl. ebd.). Peters sieht das historische Bündnis mit der SPD in Gefahr: „… es ist dieser Abschied der SPD von den Arbeitnehmerinteressen, der die gemeinsame Tradition zwischen Gewerkschaften und Sozialdemokratie heute infrage stellt.“ Und weiter: „Wenn die Sozialdemokratie diesen Weg weitergeht, dann wird sie uns auf absehbare Zeit als politischer Bündnispartner nicht mehr zur Verfügung stehen“ (ebd, S. 6). Ideologieelemente der „neuen“ Sozialdemokratie werden von Peters kritisiert. So sagt er zur These, dass Verteilungsgerechtigkeit nicht mehr das Ziel der „neuen“ Sozialdemokratie sei, sondern Chancengleichheit: „Wer Verteilungsgerechtigkeit und Chancengerechtigkeit als Gegensätze begreift, der hat von den Regeln einer kapitalistischen Marktgesellschaft nichts begriffen“ (ebd, S. 20). Im Übrigen nimmt Peters eine – wenn auch sehr kurze – Analyse des heutigen Kapitalismus vor. Es ist die Rede von einem globalen Kapitalismus neuen Typs, der „mächtiger und produktiver denn je“ sei. Er vollbringe wahre Wunder in der immer effizienteren Produktion des materiellen Reichtums, sei aber nicht in der Lage, Wohlstand für alle zu ermöglichen. Diese Wirtschaftsform beute den Menschen und die Natur aus (ebd., S. 3). Der Neoliberalismus wird als politisches Projekt und neue Religion begriffen, die dem Grundsatz „Alle Macht dem Markt“ folge (ebd., S. 4).

Wenn man nun Berthold Hubers Eröffnungsrede kontrastierend liest, wird man der unterschiedlichen Konzepte gewahr. Für ihn ist das demokratische Solidarprojekt mit dem innovativen deutschen Produktionsmodell verwoben.[19] Die Verschlechterung der Lage der Lohnabhängigen führt er auf anonym wirkende Marktkräfte zurück. Peters sprach von einem politischen Projekt mit Akteuren, zu denen er auch die („neue“) Sozialdemokratie zählte. Huber spricht sich für einen Dialog mit den Parteien aus, um „im Kontakt mit ihnen ‚unsere Ziele’ zu vertreten“ (ebd. S. 6). Er verortet seine Position zwischen dem Autonomie-Konzept, das auf Bündnisse mit NGOs setzt, und denen, die zwischen Parteien und Gewerkschaften lediglich eine Arbeitsteilung sehen. Er möchte aus der Mitte der Gesellschaft Einfluss nehmen, während Peters von Gegenmacht spricht. Auf der einen Seite sagt Huber, dass die Gewerkschaft Privatisierungen und Entstaatlichungen der Sicherungssysteme ablehnt, schon im nächsten Satz heißt es dann: „Wir werden allerdings auch nicht zu allen Vorschlägen Nein sagen“ (Huber, 8). Er verlangt, dass Regierungsparteien und Opposition sozialverträgliche Vorschläge vorlegen sollen. Es wird nicht hinterfragt, ob die Praxis der SPD-Regierung überhaupt noch mit den selbst formulierten Ansprüchen vereinbar ist.

Aber auch bei Peters Ausführungen stellen sich Fragen. Beispielsweise danach, was aus der Kritik an der Regierungspolitik der Sozialdemokratie resultieren soll. Politische Konsequenzen, etwaige Kampagnen, Demonstrationen etc. werden von ihm nicht in Erwägung gezogen. So bleibt, wie Heinz Bierbaum schreibt, „eine nähere politische Positionsbestimmung im Sinne einer autonomen Gewerkschaftspolitik offen, ohne die aber der berechtigten Kritik an der Sozialdemokratie eine praktikable Perspektive fehlt.“[20]

Betriebs- und Mitbestimmungspolitik

Entschließung 5, die sich mit strategischen Aufgaben zukünftiger Betriebs- und Mitbestimmungspolitik auseinandersetzt, betont nochmals die gesteigerte Wichtigkeit einer wirkungsvollen Interessenvertretung auf europäischer Ebene. Gerade weil diese Ebene zunehmend wichtiger wird, werden die bestehenden Informations- und Anhörungsrechte aber als „unzureichend“ kritisiert. Aufgabe der europäischen Betriebsräte (EBR) sei ein „solidarischer Interessenausgleich zwischen den Standorten“, insbesondere bei Umstrukturierungsmaßnahmen. Solange sich die EBR aber nicht zu anerkannten „Verhandlungs- und Vertragspartnern der Unternehmensleitungen entwickeln“, sei die Gefahr des Ausspielens stets gegeben (V, 4). Angesichts der auf europäischer Ebene noch in den Kinderschuhen steckenden EBR-Arbeit wirken weitergehende Forderungen zur Initiierung weltweit tätiger Interessenvertretungen noch etwas unrealistisch. Die IG Metall erhofft sich allerdings über den Umweg der Durchsetzung bestimmter globaler Codes of Conduct (Ziel: in 25 Unternehmen CoCs bis 2010) auch größere Einsicht in die Notwendigkeit so genannter Welt-Betriebsräte von Seiten der Unternehmensleitungen.

Auf nationaler Ebene wird der „Ausbau einer beteiligungsorientierten Betriebspolitik immer notwendiger. Dabei kommt der Zusammenarbeit zwischen Beschäftigten, Vertrauensleuten und Betriebsrat ein hoher Stellenwert zu.“ (V, 1) Insbesondere die Funktion der Vertrauensleute muß nach Ansicht der Gewerkschaft wieder stärker in den Mittelpunkt gerückt werden. Gerade im Hinblick auf Klein- und Mittelbetriebe, wo die IG Metall Organisationsdefizite aufweist, soll eine solche Betriebspolitik den Partizipationswünschen dieser Beschäftigten Rechnung tragen.

Die „Qualität der Arbeit“ im Sinne einer Humanisierung bildet in Zukunft einen Fokus gewerkschaftlicher Betriebspolitik und soll als solcher auch von Betriebsräten und Vertrauensleuten offensiv thematisiert werden. Dabei sind Fragen nach Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie Arbeitszeitregelungen zentral. Explizite Erwähnung findet auch der Gesichtspunkt gleichstellungspolitischer Maßnahmen (Gender Mainstreaming). Vor dem Hintergrund einer zunehmend intensiver werdenden physischen und psychischen Arbeitsbelastung in einigen Bereichen („Entgrenzung“, „Subjektivierung“), aber auch der Sinnentleerung von Arbeit in prekarisierten Verhältnissen sowie dem gesellschaftlich propagierten Leitbild des „Jede Arbeit ist besser als keine“, könnte eine neue Humanisierungsoffensive ein erster Schritt in Richtung eines progressiveren Arbeitsbegriffs sein.

Bildungsarbeit

Der Beschluss zur gewerkschaftlichen Bildungsarbeit, Entschließung 8, beginnt mit der Feststellung, dass sich diese momentan in einer Umbruchphase befinde. Das Arbeitsvorhaben „Weiterentwicklung gewerkschaftlicher Bildungsarbeit“ setzt sich zum Ziel, die Tradition gewerkschaftlicher Bildungsarbeit, unmittelbar aufgabenspezifische und allgemein gesellschaftspolitische Gesichtspunkte gleichgewichtig zu berücksichtigen, zu erhalten und zu erneuern. Nachdem sich im Laufe der letzten Jahre auf einigen Ebenen Kritik von unten an der ursprünglichen Ausrichtung dieses vom Vorstand initiierten Reformkonzepts geregt hatte, ist nun in der entsprechenden Entschließung deutlich das Bemühen zu spüren, diese Kritik, die hauptsächlich eine Entpolitisierung der grundlegenden Bildungsarbeit befürchtete, zu entkräften. Allerdings bleibt das weitere Vorgehen hinsichtlich der Reform der Bildungsarbeit bis 2006 vage, da erst dann eine große Bildungskonferenz stattfinden soll. Bis dahin werden „Erprobung“ und „Evaluierung“ der jeweiligen neuen Angebote folgen. Da politisches Bewusstsein aber nicht eine kurzfristig zu erwerbende Kompetenz darstellt, sondern sich in einem längeren persönlichen Entwicklungsprozess herausbildet, und Evaluierung und Erfolgsbewertung dieser Entwicklung verhältnismäßig schwerer fallen als bei entsprechendem Fachwissen, bleibt die Gefahr einer während des zukünftigen Reformprozesses unter der Hand fortschreitenden Entpolitisierung bestehen. Dies wäre für die zukünftige gewerkschaftliche Arbeit der Mitglieder, der Funktionäre wie der Basis, die sich als kapitalismuskritisch versteht, eine schwere Hypothek.

Gesamtbewertung

Wie sind nun die Ergebnisse des 20. Ordentlichen Gewerkschaftstag abschließend zu bewerten? Zum einen kann man feststellen, dass die Befürchtungen, die in Bezug auf das Zukunftsmanifest „Offensive 2010“ geäußert wurden, relativiert werden müssen. Auf dem Gewerkschaftstag wurden die Vorstöße zu den Komplexen paritätische Finanzierung und Tarifpolitik entschärft bzw. vertagt und auch in anderen Fragen Formulierungen gefunden, die auf Interessendurchsetzung der abhängig Beschäftigten abzielen. Das heißt allerdings nicht, dass in den Entschließungen keine an der „neuen“ Sozialdemokratie orientierten Elemente zu finden sind. Dass oftmals das Verantwortungsgefühl für die volkswirtschaftliche Vernunft angerufen wurde, zeigt, dass die IG Metall – vermutlich aus einem Bewusstsein der eigenen Schwäche – nicht in der Lage ist, eine klassenspezifische Interessenpolitik zu formulieren. Man ist gezwungen, auf das Primat der ökonomischen Vernunft einzugehen, um sich überhaupt noch in den Diskursen artikulieren zu können.

Zudem muss die Beschlusslage von der tatsächlichen Praxis unterschieden werden. Papier ist bekanntlich geduldig. Faktisch muss ein Widerspruch zwischen den Beschlüssen und der realen Politik der IG Metall konstatiert werden. Den Sozialkürzungen der Vergangenheit wurden keine entschiedenen Proteste entgegengesetzt. So bleibt auch die von Jürgen Peters geäußerte Kritik an der Politik der Bundesregierung beim verbalen Protest, da er keine Vorschläge für die Verhinderung der Umsetzungen macht und es noch unwahrscheinlicher ist, dass die Gewerkschaft diese umsetzen wird. So wird es bei einer rhetorischen Ablehnung und halbherzigen Protesten bleiben, gerade auch weil – obwohl Peters dies explizit in Frage stellte und in der Gewerkschaften eine zunehmende Distanz festzustellen ist – das historische Bündnis zwischen SPD und Gewerkschaften kurzfristig nicht aufzulösen ist. Helmut Markwort schrieb kürzlich, dass die Durchsetzung der Agenda 2010 gegen die Gewerkschaften ein historischer Verdienst Schröders sei, für den die Union ihm dankbar sein sollte. Wären die Reformen von der CDU durchgeführt worden, hätten die Metaller den Bundeskanzler auf ihrem Gewerkschaftstag nicht nur ein wenig ausgepfiffen, sondern sie wären massiv auf die Straße gegangen. Insofern kann man die „harten Formulierungen“ eines Jürgen Peters als „konservativen Realismus“ bezeichnen. Gerade die privilegierte Arbeiterklasse weiß um die Schwächen und Niederlagen der eigenen Organisation und verfolgt im Rahmen einer Defensivstrategie das Ziel der Bewahrung des eigenen Besitzstandes oder wenigstens dessen sozialverträgliche Absenkung. Letzteres ist jedoch in Kooperation mit den Arbeitgebern und der Regierung besser zu erreichen als in kollektiven Protestaktionen.[21]

Andererseits bedeuten die gegen den Neoliberalismus und die „neue“ Sozialdemokratie gerichteten Positionen im politischen Koordinatensystem eine ganze Menge. So könnten sie als Anknüpfungspunkte für eine offensive, gegen die „neue“ Sozialdemokratie gerichtete konsequente Interessenpolitik der Gewerkschaft dienen. Die sich aus den oben beschriebenen Tendenzen ergebenden Widersprüchlichkeiten und Inkonsequenzen erklären sich zum Teil auch daraus, dass es im parlamentarischen Spektrum zurzeit keine starke Kraft gibt, die eine Alternative für die Gewerkschaften darstellt. Die PDS ist zu klein und einflusslos und hat sich in Berlin und Mecklenburg-Vorpommern dadurch, dass sie selbst Sozialabbau vorantreibt, disqualifiziert und gewerkschaftliche Proteste provoziert. Im außerparlamentarischen Bereich existieren zwar punktuell Kooperationen mit der globalisierungskritischen Bewegung. Diese stecken jedoch noch in den Anfängen. Wenn die Gewerkschaft eine ernstzunehmende emanzipatorische Politik verfolgen will, die sich nicht nur an den Interessen der privilegierten, männlichen Facharbeiterschaft, sondern auch an der zunehmenden Anzahl atypischer Beschäftigter orientiert, muss sie ihre Suche nach möglichen Bündnispartnern (Erwerbslosen-, Frauen- und Migrantenorganisationen) dort intensivieren. Letztlich entscheidet aber der innergewerkschaftliche Meinungsbildungsprozess, ob eine solche Option überhaupt gewünscht ist.

[1] Vgl. Frank Deppe, Gewerkschaften unter Druck, Autonomie und außerparlamentarische Bewegung, Supplement der Zeitschrift Sozialismus 9/2003, S. 2.

[2] Vgl. Horst Schmitthenner, Machtkampf der Unternehmer, Ende des Arbeitskampfs Ost. Es geht um mehr als drei Stunden weniger, in: Sozialismus 7-8/2003, S. 45f.; Rudi Schmidt, Der gescheiterte Streik in der ostdeutschen Metallindustrie, in: Prokla. Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft, Heft 132, 33. Jg., 2003, Nr. 3, S. 493-509.

[3] Vgl. Deppe, a.a.O., S. 32. Rudi Schmidt weist darauf hin, dass das Lohn- und Leistungsniveau von Sachsen-Anhalt, welches zum Tarifgebiet Hannover gehört, noch unter dem Durchschnitt Ostdeutschlands liegt. Vgl. Schmidt, a.a.O., S. 496.

[4] Vgl. auch Stephan Krull, „Neue Zumutbarkeiten“, Das Modell Volkswagen“ und die Reform des Arbeitsmarktes, in: Z 53, März 2003, S. 7-23, insb. 10f.

[5] Horst Kern/Michael Schumann, Das Ende der Arbeitsteilung? München 1984, S. 290ff. Die Autoren hatten den politischen Kurswechsel der IG Chemie nach rechts in den siebziger Jahren auf dem immer größer werdenden Einfluss der Chemiebetriebsräte zurückgeführt, die auf Arrangements mit den Unternehmensleitungen setzten und diese Linie innerhalb der Gewerkschaft durchsetzen konnten.

[6] Vgl. Neue Osnabrücker Zeitung, 11.6.2002.

[7] www.igmetall.de/gewerkschaftstag/2003/index.html.

[8] Horst Schmitthenner/Hans-Jürgen Urban, Sackgassen taugen nicht als Zukunftspfade, in: Freitag, 14.06.2002, S. 7.

[9] Zit. nach Joachim Beerhorst/Jens-Jean Berger (Hrsg.), Die IG Metall auf dem Weg in die Mitte?, Hamburg 2003, Einleitung.

[10] Die Entschließungen sind unter www.igmetall/gewerkschaftstag/2003/index.html als pdf-Dateien zu finden.

[11] Die römische Ziffer bezieht sich auf die Entschließung, die Ziffer nach dem Komma auf die Seitenzahl des pdf-Dokuments.

[12] Vgl. zu dieser Frage das Interview mit Werner Neugebauer, dem Bezirksleiter der IGM in Bayern „IG Metall für UNO-Einsätze: Friedenspolitik aufgegeben?, in: junge Welt, 20.10.03, S. 3.

[13] Offensive 2010. Entwurf des IG-Metall Zukunftsmanifest, www.igmetall.de/themen/zukunft, S. 12.

[14] Vgl. Jürgen Peters, Die IG Metall am Beginn des 21. Jahrhunderts. Reformkraft für eine gerechte, demokratische und nachhaltige Arbeitsgesellschaft, Grundsatzreferat unter: www.igmetall.de/gewerkschaftstag/2003/index.html, S. 14. Im folgenden im Text als (Peters, Seitenzahl).

[15] Vgl. Frankfurter Rundschau, 27. 10. 2003, S. 9 und junge Welt, 27. 10. 2003, S. 16. Die vom neugewählten Bezirksleiter der IG Metall Baden-Württemberg vorgestellte Lohnforderung für die nächste Tarifrunde der Metall- und Elektroindustrie bewegt sich mit einer „Größenordnung von 4 Prozent“ exakt auf dieser Linie. Vgl. Handelsblatt, 30.10. 2003, S. 3. „Grundlage der Forderung werde eine mittelfristige Inflationsrate zwischen 1,5 und 2 % sein sowie ein gesamtwirtschaftlicher Produktivitätszuwachs zwischen 2 und 2,5 %, erläuterte Hofmann.“

[16] Wortlaut als pdf-Datei unter www.igmetall.de/gewerkschaftstag/2003/index.html.

[17] IG Metall Vorstand (Hg.), Vielfalt solidarisch gestalten, Geschäftsbericht 1999-2002, S. 86. Im Folgenden im Text als (Geschäftsbericht, Seitenzahl).

[18] Zit. nach Schmitthenner/Urban, a.a.O., S. 7.

[19] Berthold Huber, Eröffnungsrede auf dem 20. Ordentlichen Gewerkschaftstag, in: www.igmetall.de/gewerkschaftstag/2003/index.html, S. 4. Im folgenden zitiert als (Huber, Seitenzahl).

[20] Heinz Bierbaum, Auf der Suche nach der verlorenen Identität. Anmerkungen zum Gewerkschaftstag der IG Metall, in: Sozialismus H. 11/2003 (November). Vgl. zum Autonomie-Konzept: Deppe, a.a.O., S. 20f.

[21] Vgl. ebd., S. 28.