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Ergebnisse und Perspektiven der sozialen Kämpfe in Lateinamerika seit 1973

Dezember 2003

Zum historischen Ort des Militärputsches in Chile

Der 11. September 1973 bildete nicht nur für Chile einen tiefen Einschnitt, sondern auch für Lateinamerika und vielleicht sogar – wenn man das Jahr 1973 insgesamt betrachtet – eine tiefe Zäsur in der weltwirtschaftlichen und politischen Entwicklung seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Zunächst einmal war ein soziales „Groß-Experiment“ gewaltsam zum Scheitern gebracht worden, das Demokratie, Pluralismus und Sozialismus zu vereinen trachtete und mit diesen Mitteln einen Weg aus der Unterentwicklung zu bahnen versuchte; nicht zuletzt deswegen hat es mit der Führungsfigur dieses Versuchs, Salvador Allende und dem Parteienbündnis Unidad Popular weltweit große Sympathie gegeben, die weit über das linkssozialistische und kommunistische Lager in große Bereiche der Sozial- und sogar der Christdemokratie hineinreichte. Aus diesen beiden Gründen und vor allem auch wegen der außerordentlich hohen und systematischen Repression, die mit dem Militärputsch kurz- und mittelfristig einhergegangen ist, entwickelte sich eine weltweite Solidaritätsbewegung mit seinen Opfern und den Unterlegenen in Chile. Denn dieses Ausmaß und diese Systematik der Repression war Lateinamerika, das an Militärputschen und Diktaturen nicht arm ist, dennoch nicht gewöhnt; hier sind zum ersten Mal neue Maßstäbe auf dieser Ebene eingeführt worden.

Der Putsch in Chile war deutlicher Ausdruck einer Tendenz, die vor allem in Lateinamerika seit 1973 und den folgenden Jahren sichtbar wurde: eine Welle von Militärdiktaturen, die seither mehr oder minder radikal versuchten, ein neues Wirtschaftsmodell umzusetzen, ging über den Subkontinent hinweg. Es sollte das alte staatszentrierte und partiell sozialstaatliche Wirtschaftsmodell durch ein anderes, marktradikal-neoliberales ersetzt werden. Parallel zum Putsch in Chile ereignete sich der Militärschlag in Richtung auf Diktatur in Uruguay, etwas später in Argentinien, so dass gegen Ende der 70er Jahre, von Mexiko, Venezuela und Costa Rica abgesehen, praktisch alle Staaten Lateinamerikas mehr oder minder direkt von Militärs regiert wurden. Daher ging in diese Länder vor allem – außer natürlich nach Kuba – die Fluchtrichtung von chilenischen politischen Exilanwärtern.

Die Serie dieser rechten Militärputsche vor allem seit 1973 muss allerdings in einen größeren, längerfristigen Zusammenhang der Entwicklung Lateinamerikas gestellt werden. Schon 1964 in Brasilien, später 1966 in Argentinien und 1971 in Bolivien war es zu militärischen Interventionen in das Regelwerk der formellen Demokratie gekommen. Diese Welle von rechten Militärputschen muss vor dem Hintergrund zunehmender ökonomischer Schwierigkeiten gesehen werden, die durch das bisher herrschende Modell der Importsubstitution und der binnenorientierten Industrialisierung allmählich hervorgebracht worden waren; dieses geriet im Laufe der 60er Jahre zunehmend in selbst produzierte Blockaden (geringe Wachstumsraten, hohe Inflationsraten, geringe Verteilungsspielräume etc.), welche sich in einem Anschwellen der sozialen Proteste und Bewegungen und einem Aufschwung auch der gewerkschaftlichen Aktivitäten, vor allem auch im ländlichen Bereich, ausdrückten. Nicht zuletzt auch die Ausstrahlung der kubanischen Revolution seit Anfang der 60er Jahre hat zu einer erhöhten Mobilisierung und Politisierung bestimmter Bevölkerungskreise in Lateinamerika in vielen Ländern wesentlich beigetragen. Die Zuspitzung und Häufung der Kämpfe gegen Ende der 60er und zu Anfang der 70er Jahre kulminierte nicht selten in der Entstehung von Guerillabewegungen, teilweise auch einer Stadtguerilla, wie z.B. in Uruguay, Brasilien und Argentinien. Auch dies muss als Zeichen des erhöhten sozialen Zündstoffs und als Versuch der Artikulation und sozialer Veränderungswünsche gedeutet werden. Nach dem Putsch in Chile war eindeutig klar gemacht worden, von Seiten der herrschenden Klassen in Lateinamerika und von Seiten der Hegemonialmacht USA, dass auf demokratisch-pluralistische Weise eine Kanalisierung und fortschrittliche Artikulation dieses sozialen Explosionsstoffes unmöglich geworden war. Die Antwort auf diese verschärften sozialen Kämpfe war die Etablierung, ja sogar die flächendeckende Installierung von ähnlich gerichteten, ähnlich repressiven und wirtschaftspolitisch vergleichbar orientierten Militärregimes in den 70er und teilweise 80er Jahren.

Militärdiktatur und Neoliberalismus

Die Militärdiktaturen neuen Typs, die sich von den personalistisch-partriar­chalischen Bereicherungsdiktaturen des Typus Somoza (Nicaragua) oder Stroessner (Paraguay) durch eine anonyme, quasi-industrielle Systematik und Totalität auszeichneten, herrschten lange Zeit, in Chile sogar 17 Jahre lang. Wir wissen, dass viele Menschen ermordet wurden, in Argentinien ca. 30.000, in Chile über 10.000 (genaue Zahlen gibt es bis heute nicht), noch mehr Menschen wurden gefoltert und aus dem Lande vertrieben. Große Teile der Gesellschaften waren und sind direkt oder indirekt durch diese unerhörte Repression betroffen gewesen. Diese Wunden, tiefen „Operationsschnitte“ – so drückten sich die Militärfolterer gelegentlich selbst aus – wurden begleitet durch grundlegende gesellschaftliche Veränderungen, die auch zum Wandel des Alltagsverhaltens und der politischen Kultur in einzelnen Ländern führten. Die keineswegs erfolglose Einpflanzung des „Marktes in den Köpfen“, die Entsolidarisierung, Entpolitisierung und Individualisierung gesellschaftlicher Beziehungen gelang dort am besten, wo die diktatorischen Verhältnisse am längsten und am repressivsten wirksam waren. An diesem sozio-kulturellen Erbe der Diktaturen haben die heutigen post-diktatorischen Gesellschaften Lateinamerikas ebenso zu leiden wie unter der Problematik der mangelhaften oder fehlenden Aufarbeitung der Menschenrechtsverletzungen.

Demokratisierungsprozess und soziale Bewegungen

Aber auch die brutalsten Militärdiktaturen konnten die Geschichte nicht still stellen; es kam, wie Salvador Allende es in seiner letzten berühmten Radioansprache am Morgen des 11. September, gesagt hatte: „Sie haben die Gewalt. Sie können uns unterjochen. Aber die sozialen Prozesse kann man weder durch Verbrechen, noch durch Gewalt aufhalten. Die Geschichte ist unser. Sie wird von den Völkern geschrieben.“

Die ersten zaghaften Widerstandshandlungen waren verbunden mit dem – unpolitischen – Einsatz für Leben und Überleben. Die Nachforschungen nach den „Verschwundenen“, die spontane Hilfe für die Zurückgebliebenen von getöteten politisch Verfolgten und die Sorge für das Überleben der Familienmitgliedern unter sehr schwierigen materiellen Bedingungen ließ zunächst Menschenrechtsgruppen, dann –bewegungen entstehen, in denen vor allem auch Frauen eine sehr große Rolle spielten. Das waren die Ansatzpunkte für die Entfaltung von Frauenbewegungen, die über Überlebensfragen sich dann stärker auch mit politischen und geschlechtsspezifischen Forderungen verbanden. „Democracía en el país, pero tambien en casa“ (Demokratie im Land, aber auch zu Hause in der Familie) z.B. war eine berühmte Losung der chilenischen Frauenbewegung, wie sie sich in den 80er Jahre entwickelte. Aber natürlich entfalteten sich ebenso der Widerstandsgeist vor allem auch der älteren Gewerkschaftsmitglieder, soweit sie überlebt hatten und nicht außer Landes geflüchtet waren. Diese gaben ihre Kampferfahrungen und ihre Kenntnisse in der Organisation an jüngere, häufig arbeitslose Stadtteilbewohner weiter, den pobladores wie sie in Chile z.B. genannt werden, die eine mächtige soziale Bewegung vor allem Mitte der 80er Jahre in Chile bildeten. Ähnliche Prozesse können für Uruguay, Argentinien und Brasilien analysiert werden.

Die Widersprüche der Militärdiktaturen, ihre insgesamt geringen ökonomischen Erfolge, die zunehmende soziale Polarisierung unter ihrer Herrschaft und die sich entfaltende Kraft sozialer Widerstandsbewegungen als Triebkräfte von unten erschwerten die Fortexistenz der Militärregimes. In vielen Ländern kam es zu Verhandlungen zwischen Vertretern des jeweiligen Militärregimes und den führenden politischen Parteien, um einen Übergangsprozess zu zivilen Herrschaftsformen zu erreichen. Diese „transición negociada“ (verhandelter Übergangsprozess) enthielt bereits im Kern die Gründe für den späteren Niedergang der sozialen Bewegungen. Die wieder auferstandenen oder revitalisierten politischen Parteien, die während der Diktatur verboten oder mundtot gemacht worden waren, konnten sich jetzt in der Schlussphase der Militärdiktaturen wieder formieren und sich an den Verhandlungstisch mit den Militärs setzen (in der Regel waren dabei linkssozialistische und kommunistische Parteien völlig ausgeschlossen). In den meisten Fällen mussten die zivilen Vertreter der politischen Parteien den Militärs wichtige Zugeständnisse machen, bevor diese sich bereit zeigten, in die Kasernen zurückzukehren: Anerkennung ihrer Selbstamnestie für die begangenen Mordtaten und Menschenrechtsverletzungen, die Garantie der Beibehaltung einer neoliberalen Wirtschaftspolitik und ihrer Ergebnisse (z.B. Privatisierungen), Anerkennung einer eventuell neu eingeführten Verfassung usw. Derartige Festlegungen und Konzessionen ließen natürlich den Einfluss von basisorientierten sozialen Be­wegungen – obwohl diese lange Zeit die wichtigste Oppositionskraft gegen die Militärregimes darstellten – zurückgehen. Mit der Übernahme der Regierung seitens gewählter Parteien oder Parteienbündnisse wurde das Gewicht sozialer Bewegungen noch geringer: wegen des Wegfalls einer gemeinsamen Feindfigur, wegen der teilweisen Lösung der anstehenden Probleme, wegen Kooptation vieler Führungsfiguren in Ämter oder politische Positionen – all dies führte zu einem deutlichen Rückgang und zu einer Schwächung der sozialen Bewegungen.

Neoliberalismus und Demokratie

Gewiss muss die Demokratisierungswelle in Lateinamerika seit Beginn der 80er Jahre als Erfolg und Fortschritt gewertet werden. Die Einhaltung von Grundrechten (im Prinzip jedenfalls), die Möglichkeit der medialen Artikulation, zu periodischen Wahlentscheidungen, zum Zusammenschluss etc. waren zweifellos auch wesentliche Ergebnisse der Kampfes starker Widerstandsbewegungen gegen die Militärdiktaturen; von Oppositionsbewegungen, die sozial gesehen teilweise weit in die Mittelschichten oder sogar Teile des Bürgertums hineinreichten. Mit der formalen Demokratisierung, wie sie im Laufe der 80er Jahre Einzug hielt (Argentinien, Uruguay, Brasilien, Bolivien, Peru, Ecuador, Guatemala u.a.), war aber in der Regel eine Weiterverfolgung des „Konsens von Washington“ verbunden, d. h. eine Politik der Außenöffnung (Zollreduktion, Liberalisierung des Kapitalverkehrs, der Deregulierung und Liberalisierung des Preissystems und der Arbeitsverhältnisse, der Privatisierungen etc.). Diese Veränderungen, die häufig auch mit dem Kampf gegen die Hyperinflation und Instabilität, gegen mangelnde Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt begründet wurden, hatten ambivalente Wirkungen. Auf der einen Seite erhielten diese Maßnahmen zunächst eine gewisse Zustimmung und lösten auch Zufriedenheit mit der wiedereingeführten formalen Demokratie und einer erreichten Preisstabilität aus; dies führte in manchen Fällen, wie z.B. in Peru oder Argentinien, zur Wiederwahl von demokratischen Politikern mit neoliberaler Ausrichtung. Auf der anderen Seite war von vornherein eine gewisse Unzufriedenheit mit den Liberalisierungsmaßnahmen und ihren Folgen und eine Desillusionierung über die mangelnde Partizipation unter formaldemokratischen Verhältnissen verbunden. Auch eine zunehmende Enttäuschung über die mittel- und längerfristigen Ergebnisse der neoliberalen Wirtschaftspolitik breitete sich in vielen Ländern Lateinamerikas aus. Während die erste Komponente in den Jahren unmittelbar nach der Rückkehr zur Demokratie dominierte, wurde die Komponente der Enttäuschung (des „desencanto“), der Politikverdrossenheit immer beherrschender. Je länger diese Politik verfolgt wurde, umso mehr wurde die Kombination formale Demokratie plus Neoliberalismus als defizitär und unzureichend erkannt. Die Graffiti-Losung „Demokratie kann man nicht essen“, wie sie Mitte der 80er Jahre in Buenos Aires an einer Mauer stand, drückt genau diese Unzufriedenheit mit den neuen Verhältnissen aus. Alle Befragungen der Meinungsforschungsinstitute und Politologen weisen mittlerweile deutlich aus, dass große Mehrheiten in den einzelnen Ländern Lateinamerikas die Demokratie als Herrschaftsform begrüßen, aber an ihrer konkreten, jeweiligen Regierung sehr viel auszusetzen haben und sie zu einem großen Teil ablehnen, ebenso wie auch die politischen Parteien, das Justizsystem, die Polizei sehr niedrig in der Prestigeskala der befragten Menschen rangierten; schon höher angesetzt sind die Medien, die Kirchen und ähnliche Institutionen.

Wiederaufstieg der sozialen Bewegungen seit Mitte der 90er Jahre

Es ist unübersehbar, dass es nach dem zeitweisen Rückgang der sozialen Bewegungen unmittelbar nach dem Demokratisierungsprozess seit Mitte der 90er Jahre in vielen Ländern Lateinamerikas zu einer Wiederbelebung oder zu einer neuen Entfaltung sozialer Bewegungen gekommen ist.

Dieses Phänomen hat viele Facetten und Ausprägungen, die z.T. auf gemeinsame Ursachen, z.T. aber auch auf länderspezifische Determinanten zurückgehen. Besonders aktiv und wichtig sind die Indianerbewegungen bzw. indigene Bewegungen in Ecuador, Bolivien, Mexiko und Chile. Zum Teil haben sie sich als Parteien konstituiert und auf der politischen Bühne schon beträchtliche Erfolge erzielt (z.B. in der Anerkennung des multiethnischen Charakters des jeweiligen Staates oder hinsichtlich der Gewährung bilingualen Unterrichts). Daneben sind in der letzten Zeit Bewegungen gegen die Privatisierung öffentlicher Güter und Dienstleistungen besonders hervorgetreten (in El Salvador, Costa Rica, Peru, Bolivien, Uruguay und Mexiko). Die Ablehnungsquote von Privatisierungen ist in den letzten Jahren in Lateinamerika insgesamt spürbar gewachsen. Die länderübergreifende Bewegung gegen das Projekt einer gemeinsamen liberalisierten lateinamerikanischen Freihandelszone (FTAA oder ALCA) hat mittlerweile ebenso neue und erhebliche Dimensionen angenommen. Daneben spielen in manchen Ländern nach wie vor die Gewerkschaften eine große Rolle; in Brasilien, neuerdings wieder in Chile, in Uruguay, um nur die wichtigsten Länderbeispiele zu nennen. Die Landlosenbewegung in Brasilien (MST) mit ihrer in die Millionen gehenden Anhängerschaft und ihren sehr sichtbaren bisherigen Erfolgen in der Landbesetzung und Landbebauung wird zu den größten sozialen Bewegungen im gegenwärtigen Lateinamerika gezählt.

Der allgemeine Hintergrund dieser Wiederbelebung sozialer Bewegungen ist m.E. in der Unzufriedenheit mit den politischen Parteien und der jeweiligen Regierung und zum anderen in der tiefen Enttäuschung mit den Ergebnissen der neoliberalen Wirtschaftspolitik zu suchen. Was die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre angeht, so muss insbesondere seit 1997/98 bis heute in Lateinamerika insgesamt ein außerordentlich niedriges wirtschaftliches Wachstum von nicht einmal 1% jährlich durchschnittlich registriert werden. Schon spricht man von einem weiteren verlorenen „Jahrfünft“ (nach dem sogenannten „verlorenen Jahrzehnt“ von 1980 – 1990 durch die Schuldenkrise und ihre unmittelbaren Folgen). Im Jahre 2002 ist das BIP in ganz Lateinamerika um ca. 1 Prozent gesunken, nachdem es mit 0,4 Prozent Wachstum im Jahr zuvor praktisch stagnierte; man verzeichnet das schlechteste Ergebnis der Wirtschaftsleistung seit 1983. Angesichts des Bevölkerungszuwachses muss davon ausgegangen werden, dass in den letzten fünf Jahren ein Rückgang des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens eingetreten ist, was sich u.a. im Anstieg der offenen Arbeitslosigkeit, der abermaligen Erhöhung der Armutsquote auf 44 Prozent (bei 20 Prozent etwa extremer Armut), generell in Einkommensverlusten der Unter- und Mittelschichten und schließlich in einer allgemeinen Verschlechterung der Lebensqualität (z.B. bezüglich der öffentlichen Unsicherheit und Zunahme der Kriminalität) niederschlägt.

Die politischen Parteien, ob in der Regierung oder Opposition, haben zu dieser Entwicklung keine Gegenkonzepte entwickeln können. Sie verharren überwiegend in Streitigkeiten über die Möglichkeit der Wiederwahl, über die Pfründenverteilung, die klientelistischen Beziehungen und die Korruption – ohne die übergeordneten ökonomischen und z.B. auch Sicherheitsfragen ernsthaft zu erwägen und hiergegen neue Konzepte zu entwickeln. Seit Jahren sind die Justizsysteme in den meisten Ländern Lateinamerikas völlig defizitär, ungerecht und archaisch; auch das Thema der öffentlichen Sicherheit ist, obwohl immer wichtiger werdend, kein ernsthafter Gegenstand der Beschäftigung der meisten Parteien. Die Problematik z.B. der Polizei, die in den meisten Ländern ein Hauptfaktor der öffentlichen Unsicherheit geworden ist, ist ein Thema, was von den Parteien in ihrer großen Mehrheit jedenfalls umgangen wird. Es ist daher keineswegs zufällig, dass in der offiziellen Politik keine Möglichkeit der Verbesserung der aktuellen Situation gesehen wird und das Prestige der Politiker und der Elemente des politischen Systems mittlerweile einen Tiefpunkt erreicht haben.

Hinzu tritt, dass der neoliberale Staat in seinem neuen Selbstverständnis sich aus der Verantwortung für viele Bereiche, wie z.B. dem Erziehungswesen, dem Gesundheitswesen und anderen Teilen der öffentlichen Infrastruktur weitgehend verabschiedet hat, sich zurückgezogen hat und infolgedessen die Bevölkerung vor die Wahl gestellt ist: entweder selbst die Dinge in die Hand zu nehmen, oder sich noch mehr den verzweifelten Umständen auszusetzen. Es ist leicht nachvollziehbar, dass in dieses Vakuum die sich revitalisierenden und stärkenden sozialen Bewegungen eindringen können, auch wenn ihre Entstehungs- und Konsolidierungsbedingungen – schon aus Gründen der veränderten Sozialstruktur und der extrem verschlechterten ökonomischen Situation – sehr viel schwieriger geworden ist als z.B. in den 60er und 70er Jahren. Dennoch kann beobachtet werden, dass dieser Wiederaufschwung sozialer Bewegungen bereits auch auf die Ebene der politischen Wahlentscheidungen und die der Neubildung von Regierungen durchgeschlagen hat.

Perspektiven

Nach dem Kollaps des neoliberalen Modells im Musterland Argentinien (2001/2002) und der Wahl von Nestór Kirchner zum neuen Präsidenten im Mai 2003, nach verschiedenen wichtigen Wahlen im letzten Jahr (Brasilien, Ecuador), nach den überstandenen Putschversuchen gegen die Regierung Hugo Chávez in Venezuela im April 2002, kann man sicherlich von einem leicht nach links verschobenen Wahl- bzw. politischen Spektrum sprechen, eine Verschiebung, die z.T. sicherlich auch auf die Stärkung entsprechender sozialer Bewegungen zurückzuführen ist. Wieweit deren Einfluss zunehmen wird und inwieweit ihr Einfluss auf die Regierungsentscheidungen durchschlagen kann, darüber wird in vielen Ländern Lateinamerikas gegenwärtig heftig debattiert.

Trotz aller Ambivalenzen, denen soziale Bewegungen in ihrem Auf und Ab während der letzten 20 oder 30 Jahre ausgesetzt waren, haben sie nicht unbeträchtliche Erfolge in ihren jeweiligen Kampfarenen errungen. Sowohl in der lokalen Stadtteilpolitik, im Umweltsektor, bei der allgemeinen Verbesserung der Situation der Frauen im Arbeitsleben und in der Politik, bei der Einforderung und der Respektierung von Menschenrechten sowie in der Auseinandersetzung mit politischen und kulturellen Ansprüchen indigener Bevölkerungsteile sind zweifellos in den letzten beiden Dekaden – nach der Rückkehr zur formellen Demokratie – Fortschritte von Seiten sozialer Bewegungen und Nichtregierungsorganisationen in Lateinamerika erzielt worden. Ohne die Schubkraft dieser Faktoren wären viele positive Veränderungen kaum ins Auge gefasst oder gar tatsächlich realisiert worden. Diese Feststellung schließt in keiner Weise ein, die zahlreichen Schwächen und Schwierigkeiten sozialer Bewegungen zu übersehen: gelegentlich reproduzieren sie selbst die Herrschafts- und Manipulationsmechanismen der sie tragenden und sie umgebenden Gesellschaft; ihre Aktivitäten sind nicht selten abhängig von politischen Konjunkturen, gelegentlich regredieren sie oder zerfallen nach Erreichen von Teilzielen. Manchmal lösen sie sich nach einigen wenigen Schritten ganz auf infolge von Lethargie und Frustration und bisweilen auch als Ergebnis der überaus großen Schwierigkeiten, gerade unterprivilegierte Bevölkerungsgruppen dauerhaft zu organisieren.

Dennoch sind soziale Bewegungen und basisorientierte Nichtregierungsorganisationen oft die einzigen Foren von intensiver demokratischer Partizipation und Interessenartikulation, so dass die Regierungen sie nicht selten zu absorbieren oder zu marginalisieren versuchen. Ein wesentlicher Indikator für den Zustand der Demokratie ist darin zu sehen, ob und in welchem Ausmaß soziale Bewegungen als Korrektiv gegenüber den offenkundigen Defiziten der politischen Repräsentation zu wirken in der Lage sind und inwieweit diese Funktion toleriert wird. Vieles deutet darauf hin, dass die immer noch weitgehend neoliberal geprägten Regierungen in Lateinamerika – aufgrund des fortschreitenden Legitimationsverfalls – die sozialen Bewegungen entweder als Gegner oder als ein zu kooptierendes Element der Regierungspraxis betrachten. Dies lässt sich beispielsweise daran ablesen, dass einerseits gegen manche Anti-Privatisierungsbewegung (z.B. in Süd-Peru oder El Salvador) mit großer Härte seitens der staatlichen Instanzen vorgegangen wurde; andererseits wurden zwecks Pazifizierung gelegentlich die Spitzen bzw. hervorgehobene Repräsentanten von Bewegungen durch Schaffung und Besetzung von entsprechenden Institutionen kooptiert (nicht selten im Bereich von Frauen- oder Ökologiebewegungen), z.B. in Chile oder Mexiko.

Aus dieser Konstellation erwächst die Frage, inwieweit sich in Lateinamerika eine Erneuerung des politischen Systems vollziehen kann, bei der die politischen Parteien und die sozialen Bewegungen in ein neues – produktives und sich wechselseitig positiv anstoßendes – Verhältnis treten können. Erst hierdurch könnte eine erfolgreiche Konsolidierung und Vertiefung der Demokratie, die fast überall noch aussteht, erreicht werden. Allerdings würde eine derartige neuartige Balance von Parteien und Bewegungen als Voraussetzung und Ergebnis einer weitergehenden Demokratisierung keineswegs nur eine Frage formal neuer Institutionalisierungsmuster sein. Vielmehr schließt eine solche Er­neuerung vor allem auch eine Änderung der politischen Inhalte, Orientierungen und Verhaltensweisen ein, welche insbesondere die globalisierungskritischen Impulse zahlreicher Bewegungen aufnehmen und politisch umsetzen müsste.

Die brasilianische Arbeiterpartei (Partido dos Trabalhadores, PT) zum Beispiel, die jetzt – 23 Jahre nach ihrer Gründung – zur Regierungspartei in ihrem Lande aufgestiegen ist, hatte in ihrer Entstehungsphase (1978-1980) ein besonderes Verhältnis zu den sozialen Bewegungen und parteipolitischen Strömungen der Linken, die im Kampf gegen die damalige Militärdiktatur einander näher gekommen waren. Sie bildete sich letztlich als Vereinigung verschiedener Bewegungen: der neuen, autonomen Gewerkschaften, der Menschenrechtsgruppen, der verschiedenen Stadtteilbewegungen und Frauengruppen, der religiös-sozialen Basisgemeinden und der unterschiedlichen kleinen linken und marxistischen Parteien. Ein Charakteristikum der PT war und ist, dass ihre Mitglieder in der Regel weiter in verschiedenen gesellschaftlichen Organisationen und Bewegungen arbeiten und innerhalb der Partei unterschiedliche Strömungen und „Fraktionen“ weitgehende Artikulationsmöglichkeiten besitzen. Diese Partei neuen Typs, die vor allem gegen die Erzübel des Klientelismus, des Korporativismus und der Korruption seit ihrer Konstituierung ausgerichtet war, ist zugleich eine der wenigen Parteien in Brasilien, die an Programmen orientiert ist und die ein überdurchschnittlich hohes Maß an innerparteilicher Demokratie kennt. Natürlich ist auch eine andere Konstellation zwischen Parteien und Bewegungen denkbar; wichtig aber scheint zu sein, dass gegenüber der Arbeit einer Partei, die natürlich teilweise auseinanderstrebende Einzelinteressen zu bündeln und zu synthetisieren hat, ihre engen Beziehungen zu verschiedenen gesellschaftlichen Bewegungen und Gruppen nicht in den Hintergrund tritt oder gänzlich verloren geht.

Trotz mancher Rückschläge, die es auf politischer und sozialer Ebene in den letzten 20 oder 30 Jahren gegeben hat, sind zahlreiche Fortschritte und positive Lernprozesse in diesem Zeitraum nicht zu übersehen und dürfen nicht gering geschätzt werden: die Bereitschaft, sich zu informieren (bei einer insgesamt verbesserten Pressequalität), sich zu organisieren und kollektiv gegen soziale Ungerechtigkeit und willkürliche Herrschaft vorzugehen hat wieder zugenommen. Die Tatsache, dass augenblicklich große Teile der jeweiligen Gesellschaften bereit sind, sich aktiv für den Ausbau sozialer und wirtschaftlicher Grund- und Menschenrechte zu engagieren und dass dennoch praktisch nirgendwo die Gefahr eines Militärputsches oder einer Diktatur ernsthaft vorhanden ist, muss als Lehre aus der Geschichte qualifiziert werden, die unsere größte Sympathie verdient.