Während das letzte Heft von Z (Nr. 55) mit unserem Beitrag über Chiapas gedruckt wurde, fand Anfang August im chiapanekischen Hochland nördlich von San Cristóbal eine dreitägige Massenversammlung der zapatistischen Bewegung statt, die sowohl ein Fest anläßlich des bevorstehenden 20. Jahrestages der Gründung der EZLN und des 10. Jahrestages der bewaffneten Erhebung der Befreiungsarmee als auch ein politischer Akt war, der einen Gestaltwandel dieser Widerstandsbewegung demonstrierte. In Oventik gibt es eine bislang unter dem Namen Aguascalientes II bekannte zivil-zapatistische Siedlung mit Verwaltungsgebäude, Schule, Krankenstation, Handwerks- und Handelsbetrieben, die sich wie mehrere andere Zentren derselben Art und wie eine Reihe weiterer Siedlungen als gegenüber der staatlichen Verwaltung autonom erklärt hat. Kurzfristig eingeladen, versammelten sich hier am genannten August-Wochenende etwa 10.000 EZLN-Mitstreiter, Vertreter von Bauernorganisationen, andere Indigenas aus Chiapas wie aus anderen Staaten Mexikos sowie in- und ausländische Unterstützer der EZLN. In Ansprachen verschiedener Kommandant/inn/en der Befreiungsarmee wurden Ziele und Zwecke des zapatistischen Widerstands gegen die herrschenden Gewaltverhältnisse bekräftigt, die Trennung der zivilen Verwaltung zapatistischer Gemeinwesen von deren militärischer Verteidigung betont und die Schaffung einer hierfür dienlichen Form kommunaler Selbstverwaltung bekannt gegeben. Beschworen wurden erneut Elemente einer konkreten Utopie: das Eigentumsrecht der Indigenas an ihren Ländereien, die Notwendigkeit des Vermeidens von Gewalt in den Beziehungen von Männern und Frauen, die verfassungsmäßige Befugnis der selbständigen Regelung der eigenen Verhältnisse der Gemeinwesen und Gemeinden sowie die Möglichkeit der Übertragung des zapatistischen Autonomie-Konzepts auf Indigena-Gemeinschaften in anderen Landesteilen. In der vom Tonband übertragenen Rede des „Subcomandante Marcos“ bekräftigte dieser seine Pflichten als Befehlshaber der Aufständischen-Armee (die nur noch im Notfall, insbesondere zum Schutz der Indigena-Comunidades, tätig werden solle); zugleich gab er die Rückgabe seiner bisherigen Rolle eines Sprechers der zapatistischen Gemeinden bekannt und betonte die Eigenverantwortlichkeit der neuen Zivilverwaltung. Das Modell dieser Administration sieht vor, daß jeweils mehrere der selbstverwalteten Gemeinwesen oder Gemeinden in Chiapas, die sich als unabhängig von der staatlichen Administration erklärt haben, durch einen „Rat guter Verwaltung“ (Junta de Buen Gobierno) zusammengefasst werden, in den die Kommunen Delegierte entsenden und deren es insgesamt fünf gibt. Deren Aufgabenbereiche sind (die Aufgaben der Daseinsvorsorge örtlicher Gemeinden übergreifend) die Organisation einer unentgeltlichen Schulbildung einschließlich der Sekundarstufe, die des Gesundheitswesens sowie die einer Rechtsordnung, in der Wiedergutmachung durch Arbeit an die Stelle von Strafen tritt; schließlich die Schaffung einer Art Lasten- und Finanzausgleichs unter den Gemeinden eines Junta-Distrikts.
Die zentralmexikanische Regierung hat in ersten Äußerungen zu diesem Modell Wohlwollen an den Tag gelegt. Da aber von einer verfassungsmäßigen Verankerung der zapatistischen Grundforderungen und von wirksamen Hilfeleistungen für die Zapatisten nach wie vor nicht die Rede sein kann, sind diese Äußerungen sicherlich scheinheilig. Inzwischen wurden wieder Konflikte zwischen Zapatisten und paramilitärischen Kräften gemeldet, und der Druck, den der Staat und sein Militär auf die zapatistischen Gemeinwesen ausüben, hält an. Eine der Konfliktzonen sind die Gemeinden um die Genossenschaft Roberto Barrios im nördlichen Chiapas, ein zapatistischer Stützpunkt mit zentralen Aufgaben, wo unter Mithilfe der Regierung touristische Großprojekte vorangetrieben werden. Eine andere dieser Zonen bilden – politisch unterschiedlich orientierte – Siedlungen in dem südlich gelegenen Biosphärenreservat Montes Azules, auf das sich anscheinend Interessen transnationaler Biotechnik-Unternehmen richten.
Die Gründe für den Ausbau der Zivilverwaltung und deren Gewichtsgewinn gegenüber der Befreiungsarmee dürften vor allem im Anwachsen der Verwaltungs- und Außenvertretungsaufgaben und ganz besonders in der Verschärfung der Versorgungsschwierigkeiten für die ländliche Bevölkerung liegen. Letztere dürften auch dazu beigetragen haben, daß sich die Neigung der Zapatisten, mit unabhängigen Bauern- und Genossenschaftsverbänden wo möglich zusammenzuarbeiten, vermutlich verstärkt hat – wobei es zugleich mit anderen Bauernorganisationen immer schon Konflikte gibt, die gegenwärtig im Süden von Chiapas wieder zutage treten. Jedenfalls gilt heute der Auf- und Ausbau der zivilen Administration und Infrastruktur und nicht der bewaffnete Kampf als das Hauptmittel des Widerstands gegen die herrschenden Machtverhältnisse. Sitze der Juntas de Buen Gobierno sind seit langem bestehende zapatistische Zentren wie das in Oventik. Sie verloren ihre „Aguascalientes“-Denominationen (die an die radikalen Landreformforderungen militärischer Revolutionsführer erinnern sollten, die 1914 in der zentralmexikanischen Stadt Aguascalientes erhoben worden waren) zugunsten der Bezeichnung „caracol“: Schnecke. Eine mexikanische Kollegin hat uns ein E-Mail mit einem Betreff geschrieben, mit dem wir diesen Bericht betitelt haben. Ihr Schreiben endet wie folgt: „Es gibt nun also die Caracoles, sie wandern langsam, aber schließlich ist es wichtig, daß gewandert wird. Obwohl ich wirklich nicht weiß, mit welcher Geschwindigkeit eine Schnecke sich zu bewegen fähig ist.“
Bei dieser Gelegenheit kann eine in der Literaturliste unseres Beitrags in Z 55 vergessene Angabe einer Veröffentlichung nachgetragen werden, die für die Klärung verfassungsrechtlicher Gesichtspunkte der Zapatisten-Forderungen wichtig ist: López Bárcenas, Francisco, 2002: Autonomía y derechos indígenas en México, México.
Die dramatische Verschlechterung der Lage der mexikanischen Kleinbauern (infolge einer weiteren Liberalisierung der Agrarimporte aus den USA mit ihrer hochsubventionierten Landwirtschaft sowie des Verfalls der Rohkaffeepreise) und die komplexen Interessenkonflikte im Biosphärenreservat in der Selva Lacandona werden neuerdings beleuchtet in: Armando Bartra, 2003: Cosechas de ira, Economía política de la contrareforma agraria, México.