Berichte

Chile, Lateinamerika und wir - Spur der Gewalt

III. Historisch-politische Tagung, Frankfurt/M., 12./13. September 2003

Dezember 2003

Anläßlich des 30. Jahrestages des Putsches vom 11. September 1973 in Chile fanden in der Bundesrepublik eine ganze Reihe von Tagungen und Veröffentlichungen statt, bei denen neben der Rückerinnerung an die chilenische Unidad Popular und ihrer Bewertung aus heutiger Sicht auch die Entwicklung Chiles unter der Diktatur der Generäle sowie in der post-diktatorischen Zeit seit 1989 thematisiert wurden. Die vom DGB-Hessen unterstützte Frankfurter Tagung stellte den Putsch in Chile in den Zusammenhang der „Epochenzäsur“ von 1973/75. Sie verband die Rückschau auf die chilenischen Ereignisse mit der Gesamtentwicklung in Lateinamerika und der Diskussion von Problemen des gewerkschaftlichen Internationalismus in der Bundesrepublik. Solidarität mit den chilenischen Emigranten hatte in den siebziger Jahren im Rhein-Main-Raum, wo sich sehr vieleexilierte Chilenen aufhielten, eine wichtige Rolle gespielt. Daran erinnerte eine Kundgebung am Vortag mit dem ehemaligen hessischen DGB-Landesvorsitzende Hooge und dem chilenischen Bischof Frenz. Sie fand ihren Nachklang – dank der rührigen Aktivität der Veranstalter aus IG Metall und NGG (Peter Scherer, Jürgen Hinzer und Horst Gobrecht) – auch in einer Reihe von Zeitungs-Interviews, politischen Treffen und Veranstaltungen mit den chilenischen Referenten im ganzen Bundesgebiet.

Horst Schmitthenner, Mitglied des geschäftsführenden Vorstands der IG Metall, sprach zur „Bedeutung der internationalen Solidarität für die Gewerkschaften“. Globalisierung und Transnationalisierung des Kapitals haben dessen „klassische“ nationalistische Borniertheit weitgehend untergraben. Die Unternehmen nutzen – auch im Konzernrahmen – nationalstaatliche Subventionierungen und die Lohndifferenzen zwischen den Staaten für ihre internationalen Expansions- und Konkurrenzzwecke. Demgegenüber bewegen sich die Gewerkschaften – traditionell eigentlich mit internationalistischem Anspruch – weitgehend im nationalen Rahmen als ihrem Aktionsfeld. Hier sind einerseits nach wie vor gewerkschaftliche Begrenzung der Lohn-Konkurrenz und Einflussnahme auf die gesamtgesellschaftliche Regulierung sozialer Konflikte möglich. Andererseits droht aber die „standortpolitische“ Einbindung in nationale Kooperationsbündnisse im Rahmen der internationalen Kapitalkonkurrenz (sh. „Bündnis für Arbeit“). Eine grenzüberschreitende Kooperation von Gewerkschaften findet derzeit jedoch kaum statt, obwohl sie, z.B. im Kontext der EU-Osterweiterung, dringend erforderlich ist. Schmitthenner plädierte für intensivere Kooperation auf der Ebene der europäischen Betriebsräte, Einflussnahme der Gewerkschaften auf die EU als Ort der Regulierung von Arbeitsmarktbeziehungen und ihre Entwicklung als Pol friedlicher internationaler Beziehungen sowie wirklicher Entwicklungszusammenarbeit. In diesem Kontext müssten sich die Gewerkschaften zu einem Kooperationspartner der globalisierungskritischen Bewegung und Sozialforen entwickeln.

Über die Situation der Lohnabhängigen und der Gewerkschaftsbewegung in Chile dreißig Jahre nach dem Putsch berichtete Manuel Ahumada, Generalsekretär des etwa 12.000 Mitglieder umfassenden Gewerkschaftsbundes COTIACH, in dem Beschäftigte aus der Nahrungsmittelbranche, dem Tourismus und anderen Dienstleistungsbereichen organisiert sind. Zwischen 1973 und 2002 ist die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder in Chile bei einer Verdoppelung der Erwerbsbevölkerung von über 1 Million auf ca. 725 Tausend zurückgegangen. Die vor und während der Allende-Zeit 1970-1973 gewonnenen Gewerkschaftsrechte wurden mit dem Putsch zerschlagen und auch in den 13 Jahren nach dem formellen Ende der Diktatur nicht restituiert. Ein Recht auf Abschluss von Tarifverträgen besteht für die übergreifenden Gewerkschaftsorganisationen nach wie vor nicht; Tarifverträge sind auf Betriebsebene auszuhandeln. Das Arbeitslosengeld ist extrem niedrig (max. 50 Prozent des staatlichen Mindestlohnes). 60 Stunden Wochenarbeitszeit sind legal, weit mehr als zur Zeit der Unidad Popular (max. 44 Stunden). Die unter dem Generalsregime erfolgte Privatisierung der Rentenversicherung und die Befreiung der Unternehmen von Beiträgen zur Sozialversicherung sind nicht aufgehoben worden. Das Land lebt nach wie vor unter dem Druck dieser Altlasten der Diktatur. Dazu kommt eine weit ausgeprägte gewerkschaftspolitische Apathie unter den Lohnabhängigen, die mit den Besonderheiten des mit dem Militär „ausgehandelten“ Übergangs zur bürgerlichen Demokratie und der weiter gegebenen politischen Präsenz des Militärs zusammenhängt. So kann u.a. die Führung des durch Generalamnestie abgesicherten Militärs nach der 1980 erlassenen und weiterhin gültigen Verfassung vom Präsidenten nicht abgesetzt werden. Der stark zersplitterten Gewerkschaftsbewegung (16.000 Gewerkschaften!) fällt es unter diesen Bedingungen schwer, breitere Schichten der Arbeiter und Angestellten zu mobilisieren.

Dreißig Jahre neoliberaler Politik in Chile haben sich in der Zerstörung der „sozialen Vernetzung“, im Verlust vieler sozialer Errungenschaften der chilenischen Arbeiterbewegung, in der weitgehenden Privatisierung von öffentlichen Funktionen (nur die Kupferindustrie ist zu 50 Prozent noch nationalisiert, da aus ihren Erlösen das Militär bezahlt wird – Teil des ausgehandelten Übergangs) und einer ausgeprägten Konzentration von Macht und Reichtum in der Hand weniger Familien und Konzerne niedergeschlagen. Dass diese Altlasten der chilenischen Diktatur nicht nur sozialer, sondern auch sozialpsychologischer Natur sind, betonte die mit dem Salvador-Allende-Zentrum in Havanna zusammenarbeitende chilenische Sozialhistorikerin Maria Rojas. Das größte Problem sieht sie darin, dass die traumatischen Erfahrungen der Zerschlagung der Unidad Popular und der sozialen Depravierung der Masse der Lohnabhängigen den Glauben genommen haben, etwas verändern zu können. Nicht die soziale Verelendung, sondern die Zerstörung des Volkes als soziales Subjekt, die Fragmentierung und Atomisierung der Klassen und Bewegungen seien die tiefgreifendste Folge der Diktatur und des Neoliberalismus in Chile. Daher komme der politischen Arbeit im Bereich der „Ideen“ und ihrer medialen Vermittlung, also dem Versuch, die Entfremdung der Menschen von ihren eigenen Interessen und ihrer Handlungsfähigkeit aufzuheben, eine Schlüsselrolle zu. Hierbei könne die für den ganzen lateinamerikanischen Kontinent charakteristische langandauernde Tradition des Widerstands gegen Fremdherrschaft und die Suche nach einer lateinamerikanischen Identität einen wichtigen Bezugspunkt darstellen. Dies zeige sich heute in verschiedenen kulturellen und sozialen Bewegungen auf dem Subkontinent oder im Forum von Sao Paulo.

Dem Marburger Politologen Dieter Boris fiel die Aufgabe zu, einen Überblick zu geben über Ergebnisse und Perspektiven der sozialen Kämpfe in Lateinamerika seit 1973.1 Boris ordnete den chilenischen Putsch in eine Welle von Militärdiktaturen in Lateinamerika ein, die auf die Durchsetzung marktradikal-neoliberaler Verhältnisse abzielten. An deren sozio-kulturellem Erbe (Entsolidarisierung, Entpolitisierung, Individualisierung) hätten die heutigen, post-diktatorischen Gesellschaften des Kontinents durchweg zu leiden. Die in verschiedenen Ländern zwischen Militär und allmählich sich formierender Opposition (in der Regel unter Ausschluss linkssozialistischer und kommunistischer Parteien) ausgehandelten Übergangsprozesse trugen wegen der Vielfalt der Konzessionen im Kern die Gründe für einen späteren Niedergang der sozialen Bewegungen in sich. Die Verknüpfung der Re-Demokratisierung in Lateinamerika mit der Durchsetzung neoliberaler Verhältnisse löste zunehmend Enttäuschung und Politikverdrossenheit aus. Seit Mitte der 90er Jahre ist jedoch eine allmähliche Wiederbelebung oder neue Entfaltung sozialer Bewegungen zu konstatieren (indigene Bewegungen, Bewegungen gegen Privatisierung, Gewerkschaften, Landlosenbewegungen u.a.), die als Reaktion auf Unzufriedenheit mit politischen Parteien und mit den Ergebnissen der neoliberalen Wirtschaftspolitik verstanden werden können und die, je nach Land, sehr unterschiedliche Formen angenommen haben, insgesamt aber Chancen einer Vertiefung des Demokratisierungsprozesses bieten.

Wir wirkte sich die „Epochenzäsur“ 1973/75 auf die Entwicklung in der Bundesrepublik aus? Auf diese Frage kam Holger Gorr (Dokumentationsvorhaben Tarifpolitik beim Vorstand der IG Metall, Frankfurt/M.) im abschließenden Beitrag der Tagung mit Überlegungen zu den Auswirkungen und zur Interpretation der Krise 1973/75 zurück. Gorr knüpfte an Hobsbawms Interpretation dieser Krise als Wendepunkt vom „Golden Age“ zum „Erdrutsch“ an, also dem Übergang in eine Phase kapitalistischer Entwicklung mit zunehmender Krisenerscheinungen, Anstieg der Massenarbeitslosigkeit und Abbau des Sozialstaats in den kapitalistischen Zentren. Anhand der tarifpolitischen Abschlüsse, der Mitgliederentwicklung der Gewerkschaften und der Arbeitskämpfe seit Ende der sechziger Jahre charakterisierte er die sich nach der Krise 73/74 verschiebenden sozialpolitischen Kräfteverhältnisse in der Bundesrepublik. Während z.B. 1970 ein realer Kaufkraftgewinn von 12 Prozent durchgesetzt werden konnte, erreichten die Abschlüsse 1983 gerade noch einen Inflationsausgleich. Gorr zeigte, wie parallel dazu in der wirtschaftspolitischen Diskussion von der Orientierung auf Staatsinterventionismus und Globalsteuerung auf Monetarismus und angebotsorientierte Politik sowie Abbau des Sozialstaats umgeschaltet wurde. Interessant der Versuch, diesen Trend im Rahmen der Konzeption der „Langen Wellen“ zu interpretieren, wobei der Referent selbst auf offene Fragen und Defizite des Konzepts aufmerksam machte.

1 Der Beitrag ist im vorliegenden Heft abgedruckt (d. Red.).