Der hundertste Geburtstag bedeutender Intellektueller ist oftmals Anlass, sie aus der Versenkung zu holen, um sie erst eine Weile zu feiern und dann wieder in ihr verschwinden zu lassen. Hundertste Geburtstage können aber auch Anlass für eine ehrliche Wiederentdeckung sein, die neue Perspektiven eröffnet und die Rekonstruktion eines vergangenen Denkens an Fragen der Gegenwart probiert. Meistens findet beides zugleich statt. So war es 1998 mit Bertolt Brecht und in diesem Jahr mit Theodor W. Adorno.
Nicht nur in unzähligen Buchpublikationen und Zeitschriftenartikeln, in der Tagespresse und im Fernsehen konnte man beide Tendenzen beobachten, auch die „Internationale Theodor W. Adorno-Konferenz“ stand ganz im Spannungsfeld von würdigender Auseinandersetzung und offizieller Aneignung. „Obszön“ nannte Axel Honneth, der Direktor des Instituts für Sozialforschung, auf der Eröffnungsveranstaltung ein Gebaren von Politikern und Publizisten, die aus gegebenem Anlass Adorno loben und in ihrer Praxis die Universitäten verkümmern lassen und den sozialen Kahlschlag forcieren. Zu einem Lehrstück solcher „Obszönität“ wurden denn auch die offiziellen Grußworte des hessischen Wissenschaftsministers Corts, der Frankfurter Oberbürgermeisterin Petra Roth und des Universitätspräsidenten der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität Rudolf Steinberg. Vom Protest des Saalpublikums gehindert, über Adorno zu sprechen, verteidigte Corts die Sparpläne der Hessischen Regierung. Roth lobte das liberale Frankfurt, in dem Adorno möglich gewesen sei, und übersprang dabei souverän die Jahre zwischen 1933 und 1945. Steinberg schließlich wirkte etwas verloren hinter dem Katheder und bemühte sich – angesichts eines protestierenden Auditoriums – Haltung zu bewahren. Zu seiner Rolle bei der Verzögerung einer Neubesetzung der vakant gewordenen Professur Joachim Hirschs schwieg er sich aus. Wenigstens in Frankfurt konnte das „Establishment“ sich nicht uneingeschränkt auf Kosten des Jubilars inszenieren.
Die Konferenz selbst gestaltete sich abwechslungsreich und vielseitig – wenn auch als große Schwäche bleibt, dass explizit marxistische Interpreten nicht eingeladen wurden. Den Auftakt gab Jürgen Habermas: „‚Ich selber bin ja ein Stück Natur‘ – Adorno über die Naturverflochteneit der Vernunft. Überlegungen zum Verhältnis von Freiheit und Unverfügbarkeit“. Ausgehend von der Kant-Interpretation seines Lehrers, entwickelte Habermas eine Kritik am naturalistischen Optimismus moderner Kognitionswissenschaft. Die Rekonstruktion eines Begriffs von instrumenteller Vernunft, die umso mehr verrohe, als sie sich zum Gegensatz der Natur mache, falle besonders dann ins Auge, wenn eine „zweite Person“ zum reinen Objekt der Beobachtung würde. Das uneingeschränkte Freiheitsbewußtsein in der eigenen Leiblichkeit werde erschüttert durch einen externen Beobachter, der selbst die Qualität eines Teilnehmers besitzt. Freiheit könne daher nicht als bloß subjektive, sondern müsse als intersubjektive, kommunikative Qualität begriffen werden. Wenn nun versucht werde naturwissenschaftlich ein Menschenbild zu behaupten, werde das Objekt der Forschung um seine eigene Teilname reduziert. Teilnehmer- und Beobachterperspektive müssten als gleichursprüngliche Bedingungen menschlichen Daseins begriffen werden, wobei der Mensch nicht als ganzes einholbar erscheine.
Zu „Adorno und Literatur“ sprach Jan Philipp Reemtsma vom Hamburger Institut für Sozialforschung. Adornos Literaturverständnis, so Reemtsma, sei geprägt durch den üblichen Kanon gebildeter Schüler seiner Zeit. Ergänzt habe Adorno die Schullektüre durch Proust, Karl Kraus, Kafka und George. Diese Ausgangspunkte seien kennzeichnend für die Haltung Adornos zu den Aufgaben der Literatur. Adornos Position rekonstruierte Reemtsma anhand eines Vergleichs mit Lukács auf der einen und Sartre auf der anderen Seite. Mit Lukács gemein habe Adorno eine „große Nähe zum Realismus“. Während allerdings Lukács von der Darstellbarkeit von Totalität im Kunstwerk ausgegangen sei, so habe Adorno die These vertreten, dass die Darstellung von Totalität einer zuvor veränderten Welt bedürfe. Dies erkläre seine Offenheit gegenüber der künstlerischen Avantgarde. Der Weg in das Engagement der Literatur, wie ihn Sartre weist, sei für Adorno keine Option gewesen: „Das Kunstwerk entzieht sich immer wieder der Bedeutung von Draußen“.
Dieser Eröffnung folgten im weiteren Verlauf der Konferenz mehr als 10 Workshops und Podiumsdiskussionen. So diskutierten Raymond Geuss und Martin Seel am Freitag Nachmittag über das Verhältnis von „Erkenntnis und Anschauung“, referierte Rahel Jaeggi Thesen zu Adornos „Minima Moralia“. Das einzige Panel, das sich schon im Titel mit dem Zusammenhang von „Gesellschaftstheorie und Kapitalismusanalyse“ beschäftigte, markierte am Samstag Nachmittag den Abschluss des philosophisch-sozialwissenschaftlichen Teils der Konferenz. Es sprachen Axel Honneth und Peter Wagner, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Florenz.
Während Wagners Beitrag dem Thema nicht annähernd gerecht wurde und sich darauf beschränkte, begriffliche Verwirrungen entlang von „ökonomistischem Determinismus“, „Pessimismus der Frankfurter“ und der „Idee des Gemeinsamen“ zu entwickeln, bemühte sich Honneth um eine aktualisierte Einschätzung der Gesellschaftstheorie Adornos vor dem Hintergrund seiner in den letzten Jahren entwickelten „Theorie der Anerkennung“. Dieses Projekt stellt den Versuch dar, die notwendige „vorwissenschaftliche Instanz der Kritik“ zu explizieren, d.h. der kritischen Theorie eine normative Grundlage zu liefern. Aus der Perspektive dieses Vorhabens komme Teilen der Gesellschaftstheorie Adornos ein neuer Wert zu, wie Honneth in seinem Vortrag erläuterte. In diesem Sinne revidierte er zumindest teilweise seine harsche Kritik an Adorno, die er in seiner Dissertation „Kritik der Macht“ 1983 („marxistischer Funktionalismus“; „endgültige Verdrängung des Sozialen“) entwickelt hatte und unterschied drei Aspekte der Gesellschaftstheorie Adornos: zunächst die „Idee einer materialistischen Hermeneutik verfehlter Lebensformen“, gefolgt von der „Physiognomik kapitalistischer Lebensformen“ und schließlich sein Widerstandskonzept.
In der Rekonstruktion von Adornos Analysen der kapitalistischen Alltagskultur gab Honneth einen konzentrierten, begrifflich klaren Überblick über die Diagnostik Adornos. Seine phänomenologisch inspirierte Feinanalyse sozialer Lebenswelten zeige das mit der Ausbreitung der Warenform entstehende Phänomen der Verdinglichung. Die analysierte Verarmung zwischenmenschlicher Kontakte und das Beschneiden der Autonomie des Individuums hinsichtlich einer freien Gestaltung des Lebens durch die wachsende Vormachtstellung instrumenteller Orientierungen in der Gestalt von Bürokratie und verwalteter Welt schlagen sich nicht nur in gestörten Kommunikationsverhältnissen, sondern auch in physischen Deformationen und gestischer Vereinsamung nieder. Auf psychologischer Ebene kommt Adornos Analyse der Sozialpathologien zu der Diagnose des „kollektiven Narzissmus“: Die Konfrontation mit einer von der instrumentellen Logik kodierten Sozialwelt führt zu einer tiefgreifenden Erfahrung von Ohnmacht und Machtlosigkeit. Diese kollektive Befindlichkeit und die zunehmende Handlungsorientierung an egoistischen Prinzipien führen zu gestörten Interaktionsverhältnissen (geprägt durch Narzissmus und Affektlosigkeit) und einer Rückbildung des Prinzips der Anerkennung innerhalb der gesellschaftlichen Beziehungen.
Trotz seiner intensiven Beschäftigung mit den Pathologien der kapitalistischen Vergesellschaftung hat Adorno, so Honneth, jedoch nie die Überwindung der gesellschaftlichen Verhältnisse aus dem Blick verloren. Gegen die analysierten Sozialpathologien lässt sich bei Adorno ein Punkt des Widerstands entdecken: Honneth spielt, auf den 99. Aphorismus der Minima Moralia verweisend, auf die zentrale Bedeutung der Nachahmung (als liebevolles, anerkennendes Interaktionsverhältnis) in der Entwicklung des menschlichen Geistes an. Hier liegen die psychischen Wurzeln von moralischen Einstellungen der Achtung und des „kontextsensiblen“ Umgangs. In diesem Zusammenhang verweist Honneth auf eine jüngere Studie des Entwicklungspsychologen Tomasselo über die Eigenart der frühkindlichen Entwicklung. Die Zuversicht bezüglich der Überwindung der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse fuße bei Adorno auf seiner Kategorie des Leidens, die im Sinne einer „transzendentalen Anthropologie“ gedacht sei. Derzufolge gibt es zum einen keine stumme Hinnahme von entfremdeten, sinnentleerten Verhältnissen, sondern die Konfrontation mit ihnen macht sich in der Gestalt unbewusster Gefühle bemerkbar. Zum anderen wohnt diesem negativen Aufmerken (neurotische Symptome) der Wunsch nach der Aufhebung des Leidens inne. An diesen letzten Gedankengängen und der vorangegangenen Diagnose gesellschaftlicher Pathologien wird die Anschlussfähigkeit Adornos für Honneths Theorie der Anerkennung deutlich, stellt doch die Analyse von moralischen Verletzungen gerade den Ausgangspunkt für die Anknüpfung an den Begriff der Anerkennung dar. Durch die negativistische Vorgehensweise Adornos bei der Analyse „verkommener“ Interaktionsverhältnisse unter den Menschen ergeben die als Unrecht erlebten und beschriebenen Tatbestände einen geeigneten Schlüssel ab, um den internen Zusammenhang von Moral und Anerkennung (der Zusammenhang von moralischer Verletzung und vorenthaltener Anerkennung, z.B. Kränkung, Demütigung) anzudeuten.
In der anschließenden Diskussionsrunde wurden zwei zentrale Einwände gegen Honneths Interpretation erhoben. Zum einen wurde seine mangelnde Differenzierung des Leidensbegriffs angemahnt: nicht jedes Leiden stelle ein Leiden an der Gesellschaft dar und nicht jedes Leiden expliziere eine Existenz des Begehrens nach Freiheit. Ein weiterer strittiger Punkt war Honneths positiver Bezug auf den Begriff der Nachahmung. Der Einwand zielte auf eine unzulässige normative Aufladung des Begriffs, besonders im Zusammenhang mit der Referenz auf die entwicklungspsychologische Studie Tomasellos.
Eine andere, im Rahmen der Konferenz jedoch nicht erwähnte, Kritik an Honneths Theorie der Anerkennung zielt auf den Widerspruch zwischen dem hohen moralischen Anspruch und der unzureichenden Gesellschaftskritik. Hier stellt sich die Frage, ob Honneth sich nicht unzulässigerweise von dem „linkshegelianischen Überhang der Kapitalanalyse“ verabschiedet. Gerade aus dem normativen Blickwinkel der Anerkennung wäre eine kritische Auseinandersetzung mit der kapitalistischen Logik und deren Imperativen auf die Lebensgestaltung und das Zusammenleben der Menschen notwendig. Unterlässt sie eine solche strukturale Analyse, erweckt die Theorie der Anerkennung – gemessen an ihrem Anspruch – den Verdacht der Inkonsistenz. Der Vorwurf einer defizitären Auseinandersetzung mit dem transistorischen Potential der Theorie Adornos freilich lässt sich ohne weiteres auf die gesamte Konzeption der Veranstaltung ausdehnen.