Die „Deutsche Gesellschaft für Wehrrecht und Humanitäres Völkerrecht“ ist eine der vielen Gesellschaften, Stiftungen, Institutionen, die gewissermaßen einen öffentlichkeitswirksamen Kranz um die Bundeswehr herum schließen. Wo der Schwerpunkt ihrer beiden Anliegen ruht, zeigt ihr Emblem: ein aufrecht stehendes Schwert, vor dem – unverbunden – die Waage der Justitia schwebt. Mit Unterstützung der Karl-Theodor-Molinari-Stiftung, dem Bildungswerk des Deutschen Bundeswehrverbandes, hat die Gesellschaft am 26./27. Februar 2004 in der Bonner Universität eine Tagung zum Thema: “Rechtsfragen der Terrorismusbekämpfung durch Streitkräfte“ gehalten. In Zusammenarbeit, wie das Tagungsprogramm ausweist, mit dem Institut für Völkerrecht der Universität Bonn, dem Institut für Völkerrecht der Universität Göttingen, dem Deutschen Institut für Menschenrechte, Berlin, und dem Menschenrechtszentrum der Universität Potsdam.
Mehr als 150 Teilnehmer hatten sich im Festsaal der Bonner Universität versammelt – Männer und Frauen der Wissenschaft, vom Professor bis zum Studenten, Bundeswehrangehörige und vor allem höhere Beamte, teils aus dem Struckministerium, teils solche, die im Rahmen der Bundeswehr Dienst tun. Dazu Militärs und Beamte aus den Niederlanden, Belgien, der Schweiz, Estland und Polen, Vertreter des Internationalen Roten Kreuzes und der genannten Menschenrechtsinstitutionen.
„An diese Tagung richten sich hohe praktische und politische Erwartungen“. Unter den einleitenden Worten des Vorsitzenden Dieter Fleck stach dieses Statement hervor. Und offenbar übertrieb er nicht, denn er konnte im gleichen Atemzug die Teilnahme von Minister Struck für den zweiten Tag ankündigen.
„Weiterentwicklung des Völkerrechts“
Pragmatisch wurde von den Veranstaltern der Ausgangspunkt der Verhandlungen gefasst: Seit dem 11.9.2001 sähen NATO und EU „im Einsatz der Streitkräfte ein Mittel zur Terrorismusbekämpfung“, auf internationaler Ebene sei seit 2001 ein ius ad bellum geschaffen worden und auch die deutsche Rechtssprechung habe in den vergangenen Jahren dem Begriff des Angriffskriegs „eine gewisse Elastizität verliehen“. Womit eventuelle Bedenkenträger mit dem Artikel 26 GG („Verbot eines Angriffskriegs“) unter dem Arm sogleich auf die Plätze verwiesen waren.
Die Ebene des Nachdenkens war in der herrschenden Praxis angesiedelt. Das Referat von Christian Walter vom Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (Heidelberg) ging, angesichts „bewaffneter Angriffe nichtstaatlicher Akteure“ von der Alternative Wirkungslosigkeit – Bedeutungslosigkeit des internationalen Rechts, speziell des Gewaltverbots in der UNO-Charta und ihres Artikels 51 aus, der die Fälle als Ausnahme erfasst, wo militärische Gewalt angewendet werden kann. Gleichwohl wurde betont, dass dem Gewaltverbot ein besonderer Rang im seit 1945 geltenden Völkerrecht zukomme. Eingreifmöglichkeiten sah der Referent zum ersten in der Anwendung (und Ausdehnung) des Selbstverteidigungsrechts von Staaten hin zu einem „präventiven Selbstverteidigungsrecht“, zum zweiten in strafrechtlicher Verfolgung. Hier gehe es um die Stärkung des internationalen Strafrechts und damit des Internationalen Strafgerichtshofs. Da aber hier der Gedanke der Prävention nicht enthalten sei, bedürfe es einer Akzentuierung in Hinsicht präventiver internationaler Terrorismusbekämpfung. Nach Prüfung bereits ergriffener Maßnahmen, möglicher wirksamer Instrumente wollte der Referent dann den Gedanken der Selbstverteidigung nicht ausschließen, obwohl er damit – realistischer Weise – ein unilaterales Handeln von Staaten einhergehen sah, wie in der Praxis der US-Regierung zu erkennen und im Solana-Papier zur Europäischen Sicherheitspolitik auch für die EU vorgedacht. Die abgewogene Quintessenz: Gegen terroristische Angriffe sollten zuerst kollektive Maßnahmen ergriffen werden, erst als Zweites sollte dann die Selbstverteidigung von Staaten wirksam werden. Er sprach sich gegen die vorschnelle Verabschiedung des seit 1945 entwickelten Völkerrechts aus, vielmehr solle man das vorhandene Recht „behutsam weiter entwickeln“.
Auch der Vertreter des Deutschen Instituts für Menschenrechte, Wolfgang Heinz, dessen Beitrag sich mit dem Menschenrechtsschutz bei der internationalen Terrorismusbekämpfung beschäftigte, nahm die Tatsache der Antiterror-Kriege als gegeben, wie im Thema des Referats bereits impliziert. Zwar hatte er mit dem politischen und rechtlichen Rahmen durchaus Probleme, die er auch benannte: sie gipfelten im Recht auf den Präventivkrieg in der Neuen Sicherheitsstrategie der USA und demselben Gedanken im Solana-Papier zur Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Er erwähnte die Verteidigungspolitischen Richtlinien von Minister Struck, die keine präzisen Kriterien für Auslandseinsätze enthielten, um sich dann den gegebenen Auslandseinsätzen zuzuwenden und die Frage nach der Wahrung der Menschenrechte dabei zu stellen. Die Bilanz war niederschmetternd: Man weiß kaum etwas zu diesem Thema, man erfährt kaum etwas, wenn man fragt. Die Rules of Engagement für die Soldaten sind geheim, in den USA wie auch für die Bundeswehr. Sein Institut habe beim BMVg ohne Ergebnis angefragt, welche Regeln für den Einsatz in Afghanistan beständen, ob es Berichte über die Verletzung von Menschenrechten vor Ort gegeben habe, worin Soldaten verwickelt gewesen seien. Er stellte die Frage, ob es Stellen gebe, bei denen sich die Bevölkerung über Übergriffe der Streitkräfte beschweren könne? Selbst Anhaltspunkte zu gewinnen, sei schwierig: Es wird keine Statistik über zivile Opfer geführt. Nach Kenntnis des Instituts gebe es keine Auswertung von „Zwischenfällen“, jedenfalls kein transparentes Verfahren zu diesem Komplex, es gebe nur die eigenen Untersuchungen der Menschenrechtsorganisationen. Heinz’ Empfehlungen richteten sich auf ein „umfassendes Monitoring“ zur Wahrung der Menschenrechte, auf eine Berichtspflicht der Bundeswehr zu diesem Thema und auf unabhängige Stellen, die Rechtsverletzungen durch Soldaten strafrechtlich behandeln sollen, des Weiteren auf eine Kontrolle des Parlaments (des Ausschusses für Verteidigung.) in diesen Fragen. Er plädierte für eine entsprechende Aus- und Fortbildung innerhalb der Bundeswehr.
Der Diskussionsleiter, Professor der Universität Frankfurt/Oder, derzeit tätig am Naval War College, Newport, wandte sich sofort gegen eine solche Berichtspflicht über Menschenrechtsverletzungen. Die konkreten Empfehlungen des Referenten spielten in der Diskussion weiter keine Rolle, außer dass glaubwürdig versichert wurde, man dürfe die Rules of Engagement während eines Einsatzes auf keinen Fall publizieren. Die anwesenden Vertreter des Struck-Ministeriums hielten sich zu diesem Punkt zurück. Dafür gab es eine Fülle von Beiträgen (bezogen vor allem auf das Referat von Christian Walter), die sich mit dem Recht auf Kriegführung befassten. Als Problem gesehen wurde die Zurechnung eines bestimmten Staates zu terroristischen Aktivitäten und Gruppen, als größeres Problem aber, dass man das „Völkerrecht nicht zu etwas machen (darf), was in der Praxis keine Rolle spielt“. Folglich, wo es nicht zur Wirklichkeit der real geführten und zu führenden Kriege passt, muss es „weiter entwickelt“ werden. Der preemptive strike? Nun ja, die juristische Welt diskutiere darüber...
„... gestufte Grundrechtsbindung“?
Die drei Referenten des Nachmittags, alle kurz vor oder nach der Habilitation, wurden eingeführt als „neue Generation im Wehrrecht und Völkerrecht“. Sie arbeiteten sich ab an Themen, die mit dem Erhalt eines gewissen Standards an Menschenrechten oder – aus entgegengesetzter Perspektive – mit deren Aussetzung bei militärischen Einsätzen, mit dem rechtsstaatlichen Rahmen für solche Einsätze zu tun hatten. Folterverbot und Habeas-corpus-Akte seien „im Marschgepäck“ der europäischen Soldaten – so die griffige Formulierung des Referenten Schmidt-Radefeld (ein Regierungsrat, der bei einer Panzergrenadierdivision Dienst tut), die aber nichts Greifbares darüber sagt, ob und wann sie auch ausgepackt und inwieweit sie in Gebrauch genommen werden. Immerhin aber so viel: Sie würden nicht automatisch bei Auslandseinsätzen gelten. Als Beispiel wurde die Bombardierung des serbischen Fernsehens 1999 angeführt, eine Klage sei hier nicht möglich, es handle sich „gewissermaßen um einen Kollateralschaden“. Erst die kriegerische Besetzung eines Territoriums begründe die Anwendung der Menschrechtskonvention. Beim Folterverbot wollte der Referent keine Abstriche machen, sah die gegenteilige Praxis aber durchaus: in Israel, in der Praxis der britischen Streitkräfte in Irland, in den Haftbedingungen in Guantanamo und generell in der Gefahr, dass geltende Standards umgangen werden. Auch beim Verbot willkürlicher Tötung gebe es Ausnahmen, deren nachträgliche gerichtliche Untersuchung allerdings möglich sein sollte. Es müsse „strenge Anforderungen an die Planung und Vorbereitung antiterroristischer Aktivitäten“ geben. Am britischen Beispiel beschrieb er das Problem, dass Soldaten auf den „finalen Rettungsschuss“ statt auf Warnschüsse trainiert würden – auch hier ein weites Feld also, „die Quadratur des Kreises“. Strenge Kriterien sollen gelten; Tötung nur im äußersten Fall. Andererseits, konstatierte der Referent, sei die Tendenz zur Ausweitung der antiterroristischen Mittel gegeben. Er schloss mit dem klaren Votum, dass man diesem Kampf gegen den Terror Einhalt gebieten muss, wenn er sich nicht „selbst ad absurdum führen“ soll.
Mit Definitionen und Beispielen aus aller Welt setzte sich Stefanie Schmahl (Universität Potsdam) mit dem Thema „Derogation von Menschenrechtsverpflichtungen in Notstandslagen“ auseinander. Die Menschenrechtskonvention der UNO sei verpflichtend, aber Menschenrechte seien in bestimmten Lagen einschränkbar, außerdem könne eine „zu rigide Einforderung“ der Menschenrechte Staaten in die Nichtbeachtung der Konvention treiben. Ihre Erörterungen liefen auf die Frage der Abwägung hinaus, wobei die Referentin zu erkennen gab, dass ihr eine möglichst weite Erhaltung der Menschenrechtsverpflichtung wünschenswert scheine.
Auch Heike Krieger von der Universität Göttingen („Die gerichtliche Kontrolle von militärischen Operationen“) befasste sich mit Fällen aus den USA und Großbritannien, um dann der bundesdeutschen Situation breiteren Raum zu widmen. Relativ kurz abgetan wurde am britischen Beispiel die Problematik der Rechtmäßigkeit eines Kriegs schlechthin (in diesem Fall: der Angriff auf den Irak 2003), womit eine nähere Betrachtung des Verbots eines Angriffskriegs im deutschen Grundgesetz entfiel. Entfaltet wurde die Frage, ob deutsche Gerichte Rechtsschutz für die angegriffenen Gebiete leisten können. Hätte ein ausländisches Individuum, beispielsweise, das Recht zu klagen? Die Referentin, anders als der Vorredner Schmidt-Radefeld, neigte zur Bejahung. Sie bezog sich auf den in Bonn verhandelten Varvarin-Prozess, den allerdings die geschädigten serbischen Bürger erst einmal verloren haben. Dem Urteil stimmte die Referentin dennoch zu, da in einem solchen Fall Haftung ausgeschlossen sei. Sie sah aber einen anderen Zugang, der möglicherweise für die Kläger in diesem Fall aussichtsreich sei, denn der Artikel 19.4 des Grundgesetzes – „Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen“ – schütze auch „sekundäre Ansprüche“. Auch am Schluss dieses Referats stand ein bekenntnishafter Satz: dass man auf asymmetrische Bedrohungen nicht mit asymmetrischer Rechtsanwendung reagieren solle.
Nach diesem von vielfältiger Rechtskenntnis zeugendem Referateblock des Nachwuchses bewegte die meisten Diskutanten die Frage, wie denn wohl die Dinge in der Praxis aussähen. Immerhin hatte der Vorsitzende der Gesellschaft einleitend und praxisbewusst gefragt, was die Streitkräfte denn erwarte, wenn sie sich auf Auslandseinsätze einließen, und beruhigend hinzugefügt: bis jetzt hätte die Bundeswehr jeden Prozess gewonnen. Gleich der erste Diskussionsredner setzte mit dem Widerspruch von Menschenrechtsverpflichtung und dem „robusten Ansatz“ des Kriegsrechts ein, verwies auf die Übergangssituation, in der sich die in ein fremdes Land einziehenden Truppen befänden und auf die „Grenzziehungsprobleme“, die sich etwa in Hinblick auf die präventive Tötung ergäben. Das Zauberwort der Verhältnismäßigkeit half mehrfach weiter; ein Vertreter der Münchner Staatskanzlei berief sich auf das immerwährende Spannungsverhältnis von Recht und Politik; ein „Mann der Praxis“ sagte knapp und klar: „Man macht es so rechtmäßig wie möglich“. Mit Bezug auf die Besatzungssituation im Kosovo bekannte ein anderer: „Man ist unter Umständen gezwungen, sich an Maßnahmen zu beteiligen, die man selber für zweifelhaft hält.“ Von der Diskussionsleitung kam noch der gewagte Augurensatz, das Bundesverfassungsgericht sei „bereit, eine gestufte Grundrechtsbindung anzuerkennen“. (Demnächst also, nach derartigen Vorstellungen: Grundrechte light, medium, XL oder mikro?)
In ihrem Schlusswort kam Heike Krieger noch auf den Artikel 26 GG zu sprechen: er habe keine Steuerungsfähigkeit, weder im Kosovo- noch im Irakfall. Die einschlägige Klage sei zu Recht abgelehnt worden. Solange es keine internationale Instanz für diese Fragen gebe, sei der Artikel 26 GG „nicht handhabbar“.
„Wenn die politischen Mittel nicht ausreichen“
Mittlerweile mochte sich der Zuhörer fragen, worauf sich wohl die anfangs angesprochenen hohen politischen und praktischen Erwartungen an diese Versammlung richteten.
Mit dem ersten und wichtigsten Referat des zweiten Tages konnte kein Zweifel mehr bleiben: Über „Verfassungsfragen polizeiähnlicher Einsätze der Bundeswehr“ sprach Joachim Wieland, Professor an der Universität Frankfurt/Main, Verfassungsrechtler. Er sprach auch in seiner Eigenschaft als an diesem Morgen neu gewähltes Vorstandsmitglied der Wehrrechtsgesellschaft. Die Diskussionsleitung stellte ihn vor als jemanden, der vor einigen Jahren noch vehement gegen den Einsatz der Bundeswehr im Innern argumentiert und inzwischen seine Meinung geändert habe. Danach blieb dem Referenten wohl nichts anderes übrig, als hier anzuknüpfen: Vor einigen Jahren hätte man die Frage, ob die Bundeswehr Polizeiaufgaben übernehmen dürfe, mit Nein beantwortet. Aber – so die auf der Tagung immer wieder kehrende Begründung – die Welt habe sich mit dem 11. September, den Militäreinsätzen in Afghanistan und Irak geändert. Aus dem Flugzeug, das im Herbst 2003 ein Frankfurter Hochhaus anzusteuern schien, leitete Wieland die Frage ab: Wird Deutschland demnächst nicht nur am Hindukusch, sondern auch am Frankfurter Messeturm verteidigt? Die Schwierigkeit, dass die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland Bundeswehreinsätzen im Innern – außer zur Verteidigung gegen einen Aggressor – entgegen steht, ging der Referent zunächst nicht juristisch, sondern politisch an: Angesichts des hohen Verteidigungsetats und der sich mehrenden Einsätze der Bundeswehr gebe es auch mehr Zustimmung aus der Bevölkerung, da auf diesem Wege mehr Sicherheit produziert würde. Die Bundeswehr genieße Ansehen in der Bevölkerung, die Gefahr eines „Staats im Staate“ existiere nicht. Nach Ansicht Wielands steht in einer solchen Situation eine entsprechende Verfassungsänderung zur Debatte. Er erwähnte die vergangenen Vorstöße von Wolfgang Schäuble und anderer Unionspolitiker in diese Richtung[1] und ließ die innenpolitischen Situationen Revue passieren, für die Schäuble u.A. sich Bundeswehreinsätze im Innern vorstellen konnten: weltweite Migrationsbewegungen, Terrorismus, Massenveranstaltungen, Großdemonstrationen, Chaostage … mithin, die Bundeswehr als „Risikoreserve“. Die Reaktionen seien überwiegend negativ gewesen. Wilhelminische Armee und Reichswehr hätten innenpolitische Machtfaktoren dargestellt, sie seien oft gegen soziale Protestbewegungen eingesetzt worden. Aus diesen Erfahrungen heraus seien die Wehrverfassung in den 50er und die Notstandsverfassung in den 60er Jahren formuliert worden, die einen Einsatz der Bundeswehr nur in eng begrenzten Fällen vorsehen. Der Notstands-Artikel 87a, 2 GG („Außer zur Verteidigung dürfen Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt.“) mache eine Grundgesetzänderung erforderlich. Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1994 zu Bundeswehreinsätzen gebe die Richtschnur für eine solche Änderung. Auch der Grundgesetz-Artikel zur Katastrophenhilfe lasse sich nicht beliebig ausweiten. „Neuartige Bedrohungen erfordern entweder eine entsprechende Ausrüstung der Polizei oder eine Änderung des Grundgesetzes“. Die erste Möglichkeit wurde im Referat nicht weiter behandelt, im Gegenteil, die Schlussfolgerungen liefen eindeutig auf die Ermöglichung des Bundeswehreinsatzes im Innern durch eine Grundgesetzänderung hinaus. Gegenüber den neuartigen Bedrohungen verfüge die Bundeswehr über die entsprechenden Waffen, ihr Bild in der Bevölkerung habe sich geändert, die Beziehung zur Politik auch. „Warum sollte ein Bundeswehreinsatz nicht möglich sein?“ Auf die unschuldige Frage folgte das knallharte Statement: „Die Verfassung muss nicht auf dem Stand von 1968 versteinert werden.“ Wieland warnte vor einer „interpretativen Lösung“, indem man den Begriff der Verteidigung so ausweite, dass schon jetzt ein polizeiähnlicher Einsatz der Bundeswehr möglich sei. Man müsse den Artikel 87a dahin gehend ergänzen, dass er den Einsatz der Bundeswehr im Innern zulasse, „wenn die politischen Mittel nicht ausreichen“. Der andere Weg – dass das Bundesverfassungsgericht nach einem solchen Einsatz die Entscheidung absichere – sei den Soldaten nicht zuzumuten.
Hatte Joachim Wieland die Frage nicht näher untersucht, ob der Entwurf eines Luftsicherheitsgesetzes, den das Haus Schily vorgelegt hat, sich mit dem bestehenden Grundgesetz vereinbaren lässt – er hatte nur kurz erwähnt, dass dieser Entwurf „einen anderen Weg“ gehe – behandelte Tade Spranger, wissenschaftlicher Assistent an der Universität Bonn, es als „überzeugenden Gesetzentwurf“, der der Verfassung gerecht werde. Der Ton wurde um einiges dramatischer, wenn die drohenden Gefahren beschworen wurden, im Verein mit dem Unvermögen der Polizei, ihnen zu begegnen. Auch Spranger ging die Notstands- und Katastrophenhilfeparagraphen durch, um den Schluss zu ziehen, dass dieses Gesetz, das an den Artikel 35 GG anknüpfe, nötig sei. Im Zusammenhang mit der Amtshilfe bei „einem besonders schweren Unglücksfall“ durch die Bundeswehr spiele es keine Rolle, ob der Unglücksfall schon eingetreten sei. “Wo polizeiliche Mittel nicht ausreichen, darf man die Bundeswehr nicht hindern einzugreifen.“ Dieser juristische Standpunkt ist allerdings für weite Interpretationen offen.
Für den letzten Beitrag hatte man einen Referenten aus Israel gewonnen. Im Zusammenhang der Diskussion um den Einsatz der Bundeswehr im eigenen Land das Thema „Die Zulässigkeit präventiver Tötungen durch Militär und Polizei“ aufzuwerfen, ist konsequent – aber die Provokation wäre wohl zu groß, würde man es hier und jetzt direkt auf die bundesdeutsche Wirklichkeit beziehen. Immerhin, das Thema war da und die Veranstalter werden sich wohl etwas dabei gedacht haben, als sie einen Referenten aus einem Land einluden, wo „preventive killings“ keine Frage der Theorie sind. Mordechai Kremnitzer (Hebräische Universität Jerusalem) ging davon aus, dass ein sich gegen terroristische Bedrohung verteidigender Staat das Recht auf präventive Tötung hat, wenn keine anderen Mittel zur Gefahrenabwehr mehr zur Verfügung stehen. Das bestehende Kriegsrecht hindere keine Armee, sich ein Individuum als Ziel zu wählen, solange keine hinterlistigen Mittel wie Betrug oder Täuschung angewandt wurden. Aber das ist offenbar ein weites Feld: „Angenommen, Israel sei in seinem Kampf gegen den palästinensischen Terrorismus durch das Kriegsrecht gebunden, so verbieten diese Gesetze keine Überraschungs-Tötung (surprise assassinations), solange nicht Betrug oder Täuschung eine Rolle spielen. Es wurde eingewandt, dass die Tötungen, die Israel begangen hat, verboten waren, weil die Informationen über palästinensische Kollaborateure gesammelt werden, gegen die Israel manchmal illegale Mittel wie Drohungen, Erpressung und sogar Betrug anwendet. Meiner Meinung nach rückt dies, auch wenn die relevante Information durch Zuhilfenahme von Betrug gesammelt wurde, das Töten selbst nicht in die Kategorie der Hinterlist (treachery).“ Zugleich wollte der Referent keiner palästinensischen Gruppe den Kombattantenstatus zubilligen. Er machte jedoch Einwände gegen die Praxis der israelischen Armee geltend: Die geheimdienstlich erworbenen Informationen müssen nicht notwendig wahr sein; wenn man die präventive Tötung für die eigene Seite als rechtens sieht, kann man nicht erwarten, dass die andere Seite das nicht auch so sieht; es bestehe die Gefahr, dass „diese Methode überstrapaziert wird“. Kremnitzer sah den moralischen wie auch den langfristigen Schaden, den „diese Methode“ anrichten kann, insbesondere da ja auch Unbeteiligte getötet werden. Als bessere Alternative benannte er internationale Kooperation im Kampf gegen Terrorismus, „die massiven unüberwindlichen Druck auf Regierungen und andere Autoritäten ausübt, terroristische Aktivitäten in ihrem Territorium durch rigorose Anwendung des Gesetzes zu verhindern“. Solange das aber nicht real sei, seien selbst Angriffe auf souveräne Staaten gerechtfertigt (“Der Staat muss nicht warten, bis ein Terrorist sein Territorium betritt.“). Letztlich mündeten auch diese martialischen Perspektiven in die scheinbar versöhnliche Forderung nach Verhältnismäßigkeit: Prävention nur, wenn es „keine vernünftige Alternative“ gebe und „wenn die Regeln betreffend Kollateralschäden und Verhältnismäßigkeit eingehalten werden“. Ambivalent auch der Schluss: „Wir können annehmen, dass der Kampf der Vereinigten Staaten gegen den Terrorismus einem Staat, der sich selbst gegen den Terrorismus verteidigt, größeren Spielraum gewähren wird. Obwohl eine gewisse Ausweitung nötig ist, könnte eine Überstrapazierung gefährlich sein.“
In der Diskussion spielte dieser Beitrag kaum eine Rolle. Wichtig war in diesem Kreise der nächste juristische Schritt zu einem Einsatz der Bundeswehr im Innern. Auch Minister Struck war inzwischen eingetroffen – ausdrücklich dieser Debatte wegen. Es gab nur eine profilierte Gegenposition – seitens eines der anwesenden Universitätsjuristen – zum vom Referenten Joachim Wieland angeführten Mainstream: Aus Gründen der Liberalität sei vom Einsatz der Bundeswehr im Innern, außer im Verteidigungsfall, den das Parlament feststelle, abzusehen. Sowohl dem Vorstandsmitglied der Wehrrechtsgesellschaft von Heimegg wie auch Vertretern des Bundesministeriums für Verteidigung erschien die Verfassungsänderung für einen polizeiähnlichen Einsatz der Bundeswehr unabweisbar. Man könne sich nicht auf immer neue Interpretationen, neue gerichtliche Entscheidungen stützen, darauf vertrauen, das „Bundesverfassungsgericht werde schon irgendwann dazu nicken“ (Wieland). Sei überhaupt die „Trennung zwischen militärischen und polizeilichen Aufgaben noch zeitgemäß?“ „Die Lage hat sich verändert, das Grundgesetz ist gleich geblieben“, es bestehe also Handlungsbedarf. Von beamteter Seite – aus der Rechtsabteilung des BMVg – wurde laut nachgedacht, ob nicht „ein umfassender Ansatz erforderlich“ sei, den Auftrag der Bundeswehr zu systematisieren. Eine neue Wehrverfassung also. Mit respektvollem Unterton zitierte ein Diskutant sinngemäß das stern-Interview von Minister Struck, in dem er nach dem Frankfurter Flugzeugzwischenfall sagte, er hätte unter Umständen einen Schießbefehl gegeben, wäre dann aber zurück getreten. So weit weg hat das Referat von Professor Kremnitzer dann doch nicht gelegen? Ein verfassungstreuer Zivilist kann nur betroffen staunen, welche Horizonte das Denken in diesem Kreise streift.
... schon auf der Tagesordnung
Peter Struck hielt das Schlusswort und betonte noch einmal selbst, für wie wichtig er diese Diskussion hielt. Er sei der Meinung von Joachim Wieland, dass eine Verfassungsänderung sein müsse. „Der Pilot (der im eigenen Luftraum ein Flugzeug abzuschießen hätte) muss wissen, dass er von der Verfassung gedeckt ist“. Zum Referenten Spranger gewandt: Interpretationen seien interessant, aber sie seien Vorfeld, „wir brauchen klare Bedingungen“. Über den Weg dahin solle sich die Rechtsabteilung seines Hauses Gedanken machen. Kostproben davon, wohin dieser Weg führt, hatten Vertreter seines Hauses in dieser Tagung schon geliefert.
Abschließend unterstrich der bisherige Vorsitzende der Gesellschaft, Fleck, nochmals die politische Aktualität der Tagung. Es gebe schon Anfragen aus dem Bundestag, wann die Tagungspapiere vorlägen. Fleck kündigte an, dass der Tagungsband im Sommer erscheinen werde und die Buchpräsentation im Reichstag stattfinden solle.
Die CDU/CSU-Fraktion hat nicht so lange gewartet. 10 Tage später legte sie ihren Gesetzentwurf für einen Einsatz der Bundeswehr im Innern vor. Die Abschaffung eines entscheidenden Verfassungsgrundsatzes ist von den daran interessierten Kräften auf die laufende Tagesordnung gesetzt, viel zu wenig beachtet von der zivilen Öffentlichkeit.
[1] Die Tagung fand vor den Anschlägen von Madrid und vor der Veröffentlichung des verfassungsändernden Gesetzentwurfs der CDU/CSU-Fraktion für einen Einsatz der Bundeswehr im Innern statt.