Nach dem Einstieg in die Beseitigung sozialversicherungsrechtlicher Leistungen zur Übernahme von Standardrisiken (Krankheit, Tod, Invalidität, Arbeitslosigkeit, Unfall) und des Flächentarifvertrags (Tarifautonomie) wird jetzt eine weitere sozialpolitische „Errungenschaft“ der Arbeiterbewegung, die nach Ende des Zweiten Weltkrieges und dem Zusammenbruch des Faschismus durchgesetzt werden konnte, zur Disposition gestellt. Die Mitbestimmung, vornehmlich die Unternehmensmitbestimmung, hat in der Wirtschaft vergleichbare Bedeutung wie in der Sozialpolitik die Einführung der dynamischen Rente und im Arbeitsrecht die durch das Grundgesetz verankerte Tarifautonomie in Verbindung mit Tarifvertragsgesetz und Flächentarifvertrag. Mit diesen unter den Sozialstaatsbegriff zu subsumierenden gesetzlichen Regelungen verbinden sich die wichtigsten Unterschiede zwischen den Klassenverhältnissen der Weimarer und der Bonner Republik.
Von der Mitbestimmung zur „Mitgestaltung“
Die politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen haben sich seit der Zeit der Adenauer-Regierung, als – nach gewerkschaftlicher Androhung eines Generalstreiks – die paritätische Unternehmensmitbestimmung bei Kohle, Eisen und Stahl verankert wurde, gravierend verändert. Die Rolle des Kapitals vor und während der beiden Weltkriege, die Verstrickungen seiner namhaften Vertreter auch bei der Machtübernahme des Faschismus, sind weitgehend aus dem Geschichtsbild verschwunden bzw. verdrängt worden. 1945 und danach war klar: Niemals sollte wieder wirtschaftliche Macht zur politischen Macht werden. Eine Formel, die aus heutiger Sicher eher eine naive Begründung für die paritätische Mitbestimmung in der Wirtschaft ist. Nachdem die zunächst auch von Teilen der CDU mitgetragene Forderung nach „Überführung der Schlüsselindustrien in Gemeineigentum“ (vgl. das Ahlener Programm der CDU) in der alten Bundesrepublik nicht zuletzt durch die Alliierten verhindert wurde, sollten die „Faktoren Kapital und Arbeit“ gleichberechtigt, d.h. paritätisch, die Unternehmenspolitik bestimmen. Die Bundesrepublik sollte das „Schaufenster des Freien Westens“ am „Eisernen Vorhang“ sein, ein dritter Weg zwischen freier Marktwirtschaft und zentralistischer Planwirtschaft. Demzufolge wurde noch im vorletzten DGB-Grundsatzprogramm in der Mitbestimmung ein „Mittel zur Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft“ gesehen.
Die gewerkschaftspolitische Funktion der Mitbestimmung ist innerhalb der Gewerkschaften von Anbeginn an umstritten gewesen. Mit Begriffen wie „Ordnungsfaktor“ und „Sozialpartnerschaft“ auf der einen und „Gegenmacht“ auf der anderen Seite standen sich von Anbeginn die politischen Richtungen gegenüber. Dies setzte sich auch nach der „Wende“ 1989/1990 fort, als die Suche nach einem „Dritten Weg“ sich so nicht mehr stellte und das Kapital auch die bis dahin verbal vertretene Partnerschaft aufkündigte.
Die Positionierung des DGB – allen voran der Hans-Böckler-Stiftung – war und ist durch die von Politik und Wirtschaft vorgegebenen Thesen geprägt: Die Mitbestimmung wurde zum positiv besetzten Standortfaktor im globalen Wettbewerb deklariert und die Mitbestimmungsträger in Aufsichtsrat und Betriebsrat sollten Co-Manager und Moderatoren zwischen Kapital und Arbeit sein. Nicht mehr Mitbestimmung im eigentlichen Sinne des Wortes und die ursprünglich damit verbundenen Inhalte, sondern „Mitgestaltung“ gilt als Ziel gewerkschaftlicher Politik. Unternehmensentscheidungen werden dabei grundsätzlich akzeptiert, ihre Umsetzung soll „sozialverträglich“ mit gestaltet werden. Immer mehr wurde in der öffentlichen Wahrnehmung die Mitbestimmung ihres politischen Charakters (Gleichberechtigung von Kapital und Arbeit, Kontrolle des Kapitals) entkleidet und zum Faktor optimaler Kapitalverwertung und Unterordnung der Arbeitnehmerinteressen modifiziert (Kooperation durch Subordination).
Eine Aufstellung der Hans-Böckler-Stiftung
Im Februar 2004 legte die Hans-Böckler-Stiftung („Fakten für eine faire Arbeitswelt“) ein Papier „Zur aktuellen Kritik der Mitbestimmung im Aufsichtsrat“ vor. Es fasst dreizehn Kritikpunkte an der Mitbestimmung unter folgenden Überschriften zusammen:
1. Die Deutsche Mitbestimmung ist in einer modernen Wirtschaft nicht mehr zeitgemäß.
2. Zur Motivation und Beteiligung der Beschäftigten ist die Unternehmensmitbestimmung überflüssig geworden.
3. In einer globalisierten Wirtschaft bedeutet die deutsche Unternehmensmitbestimmung einen erheblichen Standortnachteil.
4. Die deutsche Unternehmensmitbestimmung schädigt die Interessen der Anteilseigner.
5. Die deutsche Mitbestimmung beeinträchtigt die Entwicklung der Unternehmen.
6. Die Vertretung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten führt zu übergroßen, nicht arbeitsfähigen Gremien.
7. Es ist Zeit, die internationale Besonderheit der deutschen Unternehmensmitbestimmung zu beseitigen.
8. Neue Entwicklungen machen die deutsche Unternehmensmitbestimmung in Europa zu einem Störfaktor.
9. In internationalisierten Unternehmen und Wirtschaftsabläufen sind die ausschließlich mit deutschen Vertretern besetzten Aufsichtsräte ein schwerer Konstruktionsfehler.
10. Die Vertretung der Arbeitnehmer in den Aufsichtsräten verhindert eine effiziente Aufsichtsratsarbeit. Die Arbeitnehmer in Aufsichtsräten sind für diese Funktion nicht qualifiziert.
11. Arbeitnehmern fehlt die für die Ausübung eines Aufsichtsratsmandats notwendige Unabhängigkeit.
12. Gewerkschaftsvertreter gehören prinzipiell nicht in den Aufsichtsrat.
13. Gewerkschaftsvertreter im Aufsichtsrat unterliegen einer Interessenskollision.
Immerhin wird in der Übersicht der Hans-Böckler-Stiftung der Zusammenhang mit dem Abbau sozialer Rechte in anderen Fällen konstatiert: „Im vergangenen Jahr gab es eine von den Medien massiv unterstützte Kampagne der Wirtschaft und der Oppositionsparteien, die sich unter der verlockenden Überschrift ‚Bündnis für Arbeit’ gegen die Tarifautonomie richtete. Nunmehr wird die Unternehmensmitbestimmung angegriffen. ... Die aktuellen Angriffe auf die Unternehmensmitbestimmung verfolgen vor allem das Ziel, die Mitbestimmung zu beseitigen.“ Nicht näher thematisiert, geschweige denn analysiert, werden die ökonomischen und machtpolitischen gesellschaftlichen Zusammenhänge. Der unbefangene Leser gewinnt den Eindruck, dass es um Probleme von Gruppen in einer geradezu klassenlosen Gesellschaft geht und unterschiedliche Meinungen zur Effizienzsteigerung der Wirtschaft gegenübergestellt werden.
Beschluss des DGB-Bundesvorstandes
In einem (nicht nur) zeitgleichen Zusammenhang zum Papier der Hans-Böckler-Stiftung hat der DGB-Bundesvorstand am 3. Februar 2004 einen dreizehnseitigen Beschluss „Teilhaben und gestalten: Mitbestimmen – auf gleicher Augenhöhe“ gefasst. Die Beschlussformulierungen kommen zu keinem grundsätzlich anderen Ergebnis, was auch nicht zu erwarten war. Sie enthalten allerdings einige – wenn auch allgemeine und an der Oberfläche verbleibende – (Halb-)Wahrheiten und politische Aussagen, die zitiert werden sollen:
- „In Deutschland wurde in einem historischen Kompromiss auf Sozialisierung von Unternehmen zugunsten von Teilhabe und Mitbestimmung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verzichtet. Angestellte und Arbeiter, die Wertschöpfung im Unternehmen hervorbringen, sollen gleichberechtigt mit den Kapitaleignern die Unternehmensleitung beaufsichtigen. Im künftigen Europa muss teilhaben und gestalten für alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gelten. Ein europäisches Gesellschaftsrecht, dass einseitig das Kapital bevorzugt, wäre ein sozialer Rückschritt. Unter Herrschaft sind Menschen nicht frei.“
- „Mitbestimmung hat sich fünf Jahrzehnte in Deutschland bewährt. Sie hat mit dafür gesorgt, dass Deutschland führende Exportnation ist. Sie hat stabile gesellschaftliche und betriebliche Beziehungen hervorgebracht. Dieser soziale Friede ist ein klarer Standortvorteil.“
- „Mitbestimmung ist Ausdruck gelebter Demokratie im Wirtschaftsbereich. Mit reinen Verteilungskämpfen wird die Zukunft nicht gestaltet werden können.“
- „Die Idee der Mitbestimmung und ihre Funktion ist exportfähig. Ihre konkrete Ausgestaltung in anderen Ländern Europas steht noch aus.“
Der DGB setzt für die Gestaltung in den Unternehmen eine Reihe von Schwerpunkten. Mit Blick auf „Unternehmen und Corporate Governance“ betrifft dies folgende Aspekte:
Unter „1. Effektivität der Aufsichtsratsarbeit“ werden thematisiert die Größe des Aufsichtsrats, die Parität der Ausschüsse, die Abschaffung der Zweitstimme des Aufsichtsratsvorsitzenden in Fragen der inneren Organisation des Aufsichtsrats sowie Berichtspflichten der Leitungsorgane an den Aufsichtsrat.
Weitere Punkte betreffen die Zusammensetzung des Aufsichtsrats (2.), Mitbestimmung und Europa (3.) sowie „4. Wahlverfahren nach dem Mitbestimmungsgesetz 1976.“
„Modellwechsel“ zur Abschaffung der Mitbestimmung?
Der Angriff auf die Mitbestimmung wird mit dem Vorantreiben der EU-Integration und der Sicherung von Unternehmer-Interessen auf der supranationalen EU-Ebene weiter befördert. Wolfgang Franz, Mitglied des Sachverständigenrats und Präsident des „Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung“ in Mannheim, stellt mit einer gewissen Zufriedenheit in der FAZ vom 30.3.2004 fest: Der Europäische Gerichtshof (EuGH) „hat den Weg dafür geebnet, dass, vereinfacht ausgedrückt, ausländische Unternehmen die Rechtsform ihres Heimatlandes beibehalten können, wenn sie ihren Sitz nach Deutschland verlagern. Damit unterliegen sie dann nicht den hierzulande gültigen Regelungen der betrieblichen Mitbestimmung. Der Wettbewerb der Rechtssysteme wird eröffnet und dadurch verstärkt, daß heimische Unternehmen eine Sitzverlagerung ins ‚mitbestimmungsfreie’ Ausland vornehmen und danach beispielsweise als Tochtergesellschaft einer Holding mitbestimmungsfrei nach Deutschland zurückkehren können.“ Damit bleibe faktisch nur übrig, „die betriebliche Mitbestimmung durch grundlegende Reformen international wettbewerbsfähig zu machen, ihre Vorteile zu stärken und ihre Nachteile zu verringern.“
Die Vorteile der betrieblichen Mitbestimmung sieht Franz „in einer vertrauensvollen Kooperation zwischen Unternehmensleitung, Beschäftigten und Betriebsrat ..., welche die Motivation der Arbeitsnehmer und ihre Identifikation mit den Zielen des Unternehmens festigt.“ Dadurch würden „Missstände und Konfliktpotentiale“ beizeiten erkannt und beseitigt, „bevor es zu erheblichen Beeinträchtigungen des Betriebsklimas oder gar zur Abwanderung insbesondere qualifizierter Arbeitnehmer kommt.“ Aber auf der anderen Seite gibt es, so Franz, „gegenteilige Erfahrungen“: „Sie reichen von unkooperativen, von den Gewerkschaften gesteuerten Betriebsräten, die sich ihre Blockadehaltung im günstigen Fall mit Hilfe sachfremder Kompensationsgeschäfte abringen lassen, bis zu dem absurden Tatbestand, dass ein Unternehmen von einer Gewerkschaft bestreikt wird, deren Vorsitzender gleichzeitig Aufsichtsratmitglied ist, mithin zum Wohle desselben Unternehmens agieren muß.“ Nicht nur dies. Die Mitbestimmung ist auch ein hochgradiger Kostenfaktor für die Unternehmen in Form „direkte(r) Aufwendungen für den Betriebsrat und indirekte(r) Belastungen auf Grund bürokratischer und verzögerter Betriebsabläufe. Die jährlichen Gesamtkosten des Betriebsverfassungsgesetzes wurden im Jahr 2000 vom Institut der deutschen Wirtschaft auf durchschnittlich rund 550 Euro je Beschäftigten in Deutschland geschätzt.“
Franz empfiehlt einen „Modellwechsel“ der betrieblichen Mitbestimmung, ohne den „der internationale Wettbewerb der Rechtsinstitutionen die hiesige betriebliche Mitbestimmung zum Auslaufmodell herabstufen“ werde. Seine Empfehlung (sicher auch an die Gewerkschaften und die Bundesregierung): „Wer dies beklagt, sollte sich an die Spitze zielführender Reformen stellen.“ Den Kern solcher Reformen sieht Franz in „Freiwilligkeit und Kostenteilung“. Betriebliche Mitbestimmung soll demnach in Zukunft nur noch eine „freiwillige“ betriebliche Einrichtung sein und die gesetzliche Mitbestimmungsregelung abgeschafft werden („Des gesetzgeberischen Zwangs bedarf es dazu nicht, es sei denn, man huldigt der abwegigen Vorstellung, die Unternehmen müßten vom Gesetzgeber zu ihrem Glück gezwungen werden.“). Darüber hinaus „sollten die Arbeitnehmer prinzipiell hälftig an den Kosten des Betriebsrats beteiligt werden“. Beides bewirke eine „international wettbewerbsfähige Mitbestimmung“, die „sogar zu einem Markenzeichen eines effizient gewährleisteten innerbetrieblichen Friedens“ werden könne.
Ist die Mitbestimmung zu retten?
Die Vertreter des Kapitals machen aus ihrer Position zur Mitbestimmung keinen Hehl. BDI-Chef Michael Rogowsky schlägt im Handelsblatt vom 18. Februar 2004 vor: „Eine Alternative zur geltenden Mitbestimmung im Aufsichtsrat könnte auch ein Konzernwirtschaftsausschuss mit beratender Funktion sein. Mit ihm müssen Planungen beraten werden, aber ein Mitentscheidungsrecht hätte er nicht. Entscheiden muss immer der Eigentümer, denn letztlich geht es um sein Kapital.“
Dieser grundsätzlichen Auffassung, wie sie im letzten Satz zum Ausdruck kommt, wird offensichtlich von Gewerkschaftsseite nicht mehr prinzipiell widersprochen. Die Gewerkschaften haben sich faktisch mit der Juniorpartnerschaft abgefunden. Zwar wird auch in dem vorgenannten DGB-Beschluss die 1976 verloren gegangene Parität im Aufsichtsrat wieder eingeklagt, Konsequenzen werden hieraus voraussichtlich nicht entstehen. Hinzu kommt die auch bei anderen Anlässen zu konstatierende Unfähigkeit bzw. Unwilligkeit zur Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse und damit der eigenen Situation. Der Eindruck besteht, dass eine seriöse Beschreibung des „Ist-Zustandes“ auch deshalb nicht vorgenommen wird, weil die daraus entstehenden Forderungen für den „Soll-Zustand“ gescheut werden.
Die Frage, ob die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für den Erhalt der heutigen Mitbestimmung bereit wären zu kämpfen, ist offen. Zweifellos haben Mitbestimmungsträger zur sozialverträglichen Abfederung bei Arbeitsplatzvernichtung beigetragen – meist hinter verschlossenen Türen. Das Austragen von Konflikten ist nicht das Metier von Aufsichtsratsmitgliedern, schon gar nicht von sogenannten Arbeitsdirektoren. Sie sollen ja auch, wie der DGB immer wieder anführt, den Arbeitsfrieden sichern, d.h. Konflikte zwischen Kapital und Arbeit vermeiden. Dort, wo sich Belegschaften mit Erfolg gewehrt haben, indem sie Konflikte aufgriffen und sich ganz oder teilweise mit Betriebsrat und Gewerkschaft durchsetzten, haben Aufsichtsräte, wenn überhaupt, keine nach außen erkennbare Rolle gespielt.
Die DGB-Gewerkschaften haben in der heutigen Situation keinen Spielraum, die Erhaltung ihres Vorzeigemodells, der deutschen Mitbestimmung, mit anderen Themen zu kompensieren. Nach den Demonstrationen gegen die Agenda 2010 und nach den innergewerkschaftlichen Auseinandersetzungen ist der Druck der Basis stärker geworden. Durch den Abbau sozialpolitischer Errungenschaften und die Angriffe auf das Tarifvertragssystem scheiden diese Felder als kompensierende, behandelbare Themen aus. Falls es nicht gelingt, die Angriffe von Kapital und Kabinett auf den Sozialstaat insgesamt abzuwehren, besteht die Gefahr, dass auch die Mitbestimmung – ähnlich wie Tarifautonomie und Sozialstaat – zu einer denkmalgeschützten, inhaltlich ausgehöhlten Ruine verkommt. Dies könnte auch im Zuge einer „Reform“ der Mitbestimmung geschehen.