Das Entstehen der globalisierungskritischen Bewegung ist – wie alle sozialen Bewegungen – Ausdruck tiefgreifender gesellschaftlicher Umbruchprozesse. In diesem Fall der neoliberalen Globalisierung. In seinem Kern bedeutet dieser Prozess eine neue Qualität kapitalistischer Entwicklung. Aber unabhängig davon, wie man ihn im einzelnen theoretisch interpretiert, Tatsache ist: Er führt zu dramatischen Veränderungen, die die großen gesellschaftlichen Strukturen ebenso erfassen wie den lebensweltlichen Alltag der Individuen auf dem ganzen Planeten. Kapitalistisch verfasst, produziert die Globalisierung viele Verlierer und wenige Gewinner. Es ist daher nicht überraschend, dass es zu Gegenreaktionen kommt.
Spätestens mit den spektakulären Protesten von Seattle 1999 nahm die „Bewegung der Bewegungen“ deutliche Konturen an. Die globalisierungskritische Bewegung steht in den Traditionen der Aufklärung, des Humanismus, der Friedensbewegungen und der so genannten „Neuen Sozialen Bewegungen“ wie Umweltbewegung, Feminismus und Solidaritätsbewegung. Die Träger der sich formierenden Bewegung sind ein politisch und weltanschaulich heterogener loser Verbund unterschiedlichster Akteurstypen – eine Art Regenbogenkonfiguration. Das Spektrum reicht von sozialen Bewegungen, wie die der Landlosen- und Bauernbewegung Brasiliens und Südindiens über kirchliche Milieus, Einpunktbewegungen wie die Jubilee Kampagne, kritische Wissenschaftler, José Bovés Gruppe gegen Fastfood, gewerkschaftliche Sektoren, zahlreiche NGOs – wenn auch nicht alle – bis zu den Zapatisten. Wie für erfolgreiche soziale Bewegungen typisch, erfasst sie inzwischen auch einige Teile des politischen Systems, Parteien oder Sektoren von Parteien.
Die Geschichte der neuen Bewegung ist eine Erfolgsgeschichte. Zwar hat sie ihre politischen Ziele noch lange nicht erreicht, aber sie wächst in enormem Ausmaß und ist für Millionen von Menschen überall auf dem Planeten zum Hoffnungsträger geworden. Sie hat beträchtlich dazu beigetragen, die diskursiven Kräfteverhältnisse in der öffentlichen Meinung zu verschieben und die Akzeptanz des neoliberalen Projekts zu mindern.
Einer der sichtbarsten neuen Bewegungsakteure ist Attac. Ursprünglich in Frankreich gegründet, gibt es inzwischen in über 30 Ländern Sektionen von Attac. Auch in Deutschland hat Attac einen erstaunlichen Aufstieg vollzogen. Angesichts der Tatsache dass Kritik an der neoliberalen Globalisierung und ihren deutschen Manifestationen, wie die Agenda 2010, parlamentarisch so gut wie nicht mehr repräsentiert ist, trat Attac zum richtigen Zeitpunkt mit einem innovativen Organisationskonzept auf den Plan und konnte sich erfolgreich als prominentester Exponent der deutschen Globalisierungskritik positionieren.
Einer der größten Erfolge der Globalisierungskritiker in Deutschland besteht darin, dem DGB als eine Art Minenhund den Weg aus seiner zögerlichen Unentschlossenheit gegenüber der Agenda 2010 gebahnt zu haben. Noch vor einem Jahr waren die Gewerkschaften mit der Streikniederlage im Osten, der Führungskrise der IG Metall, mickrigen Protesten gegen die Agenda 2010 und einem allgegenwärtigen Gewerkschaftsbashing in den Medien völlig in der Defensive. Selbst jene, die die Agenda 2010 klar ablehnten, hatten nicht den Mut zu offenem Protest, weil sie eine erneute Niederlage befürchteten. Durch die Berliner Demonstration am 1. November 2003 mit ihren 100.000 Teilnehmern wurde diese Angstblockade gelöst und der Weg zu den Massenprotesten am 3. April 2004 frei.
Aber trotz ihrer Erfolgsgeschichte steht die globalisierungskritische Bewegung jetzt vor strategischen Herausforderungen, deren Bewältigung die Voraussetzung für die Fortsetzung ihres Erfolgskurses ist. Einige Fragen von strategischer Bedeutung, sind:
- wie ist ein produktiver Umgang mit Vielfalt und Pluralismus in der Bewegung möglich?
- wie können neue Formen der Demokratie in der Bewegung entwickelt werden?
- Wie kann der internationalistische Anspruch verwirklicht werden?
- Wie geht man das große Thema „Alternative(n)“ an?
Hier kann es im Wesentlichen nur darum gehen, Fragen aufzuwerfen und auf Defizite aufmerksam zu machen. Tragfähige Antworten können letztlich nur in einem kollektiven Bewegungsprozess entstehen.
1. Herausforderung Pluralität
Die globalisierungskritische Bewegung ist ein äußerst heterogenes, diversifiziertes und plurales Phänomen. Diese Vielfalt bezieht sich auf mehrere Dimensionen:
- die soziale Zusammensetzung der Bewegung, die einen Klassen- und Schichten übergreifenden Charakter hat,
- kulturelle, sprachliche, nationale Vielfalt, die sich aus ihrem transnationalen Charakter ergibt,
- die ideologischen, philosophischen und weltanschaulichen Deutungsmuster, deren sich die einzelnen Akteure bedienen und ihre politischen Orientierungen,
- die Akteurstypen und Organisationsformen (Basisbewegungen, Gewerkschaften, NGOs, Verbände, Parteien etc.),
- die politischen Aktionsformen und Politikinstrumente, die von klassischer Methoden der Aufklärungs- und Öffentlichkeitsarbeit über Massenaktionen bis hin zu Formen des zivilen Ungehorsams und der kalkulierten Regelverletzung reichen,
- die strategischen Vorstellungen und die Vorstellungen darüber, wie die Alternativen zu den bestehenden Verhältnissen aussehen sollten.
Manches davon ist nicht neu. Auch in der Vergangenheit waren soziale Bewegungen heterogen. Früher oder später brachten sie jedoch eine Dynamik zur Homogenisierung hervor. Das lässt sich insbesondere für die historisch bisher bedeutendste und am besten erforschte soziale Bewegung, die Arbeiterbewegung und ihre institutionellen Verkörperungen, wie Gewerkschaften, Parteien (sozialdemokratische, sozialistische, kommunistische, anarchistische) und sogar Staaten (UdSSR etc.) beobachten. Trotz aller Spaltungslinien gab es immer einige zentrale gemeinsame Bezugspunkte:
- eine Theorie/Ideologie; in den meisten Strömungen der Arbeiterbewegung war das der Marxismus, auch wenn der „wahre Marxismus“ stets umstritten und seine Interpretation immer wieder die Quelle von Konflikten und Spaltungen war;
- in institutionelles Zentrum, d.h. „die Partei“ oder „Moskau“. Auch wenn dies von anderen nicht immer anerkannt war, so war die Idee des Zentrums als solche in allen Lagern hegemonial;
- eine große Alternative zum Kapitalismus, die sozialistische/kommunistische Gesellschaft.
Die Arbeiterbewegung hatte diese gemeinsamen Grundlagen allerdings nicht von Anfang an. In ihrer Entstehungsphase im 19. Jahrhundert war sie ebenfalls äußerst heterogen. Dennoch wäre es zu kurz gegriffen, im Analogieschluss zu meinen, die gegenwärtige Vielfalt sei nur eine notwendige Durchgangsphase hin zu einem homogenen Akteur, wie es die großen Strömungen der Arbeiterbewegung (Sozialdemokratien, Kommunisten, Anarchisten etc.) waren. Ja, es ist sogar fraglich, ob dies noch ein wünschenswertes Ziel sein kann. In Homogenität liegt die Tendenz zur Uniformität und zu Monokultur. Die Lebens- und Überlebensfähigkeit dynamischer Systeme – und ein solches ist auch soziale Bewegung –, ihre Fähigkeit, flexibel auf Veränderungen zu reagieren und Innovation hervorzubringen, sind nur auf der Grundlage von Diversität möglich. Hier liegt ein wesentlicher Grund für das Scheitern der traditionellen, um Homogenität zentrierten Politik- und Organisationstypen.
Aber selbst wenn man diese grundsätzliche Fragestellung einmal ausblendet, so ist ohnehin nirgendwo eines jener klassischen Elemente in Sicht, das für die politische Homogenität konstitutiv war:
- es gibt nicht die Theorie, wie dies früher zumindest annäherungsweise der Marxismus war, nicht das Programm, das Kommunistische Manifest des 21. Jahrhunderts,
- es gibt kein gesellschaftliches Gegenmodell – weder konzeptionell noch realexistierend – zum Kapitalismus, es sei denn, man wollte sich auf die VR China, Kuba oder Nordkorea beziehen,
- es gibt kein Zentrum, weder geografisch noch politisch,
- es gibt nicht das Subjekt der Veränderung, wie dies einmal die Arbeiterklasse war,
- es gibt nicht mehr die Organisation, wie dies einmal die Partei – sozialdemokratisch oder kommunistisch – war.
Die Zukunft emanzipatorischer Bewegung kann also nur noch plural gedacht werden. Und in der Tat findet diese Feststellung – von wenigen Ausnahmen abgesehen – heute breite Zustimmung. Allerdings scheint es, dass dieser Konsens recht abstrakt und wenig reflektiert ist. Was bedeutet Pluralismus? In der bewegungspolitischen Praxis stößt man immer wieder auf recht unterschiedliche Vorstellungen. Wenn man eine Typologie linken Pluralismusverständnisses macht, ließen sich folgende Grundmuster identifizieren, wobei im wirklichen Leben natürlich vielfach Grauzonen und Überlappungen vorkommen:
- a) taktische Akzeptanz von Diversität als vorübergehendes Übel, das unter Bedingungen konkurrierender Interessen und gegebener Kräfteverhältnisse in der Bewegung hingenommen werden muss. Gleichzeitig aber wird alles getan, um die anderen Strömungen in der Bewegung mit machtpolitischen Instrumenten (Mitgliederzahl, finanzielle Mittel, überlegene Organisiertheit, Zugang zu Medien etc.) zu übertreffen. Man wartet nur auf die Gelegenheit, irgendwann doch die Führung zu übernehmen und zur dominierenden Kraft zu werden.
Diese Art konfliktiver Kooperation ähnelt in ihrer Struktur dem Kalten Krieg, bei dem angesichts des atomaren Patts eine Durchsetzung des eigenen Systems nicht möglich war. Unterhalb der Schwelle der direkten militärischen Auseinandersetzung aber wurde versucht, die Kräfteverhältnisse zu eigenen Gunsten zu verschieben, um sich dann doch noch irgendwann durchzusetzen.
Dieser Denktypus findet sich nach wie vor in einigen Gruppen und Parteien oder parteiähnlichen Strukturen, die implizit oder explizit Avantgardekonzepten anhängen, aber auch in einigen großen Organisationen, die sich für den „natürlichen“ Hegemon in der Bewegungen halten. Allerdings gibt es auch bemerkenswerte Beispiele für die Einsicht, dass dieses Denken nicht mehr den Realitäten entspricht. So sagte der Vorsitzende der italienischen Rifundazione Comunista, Fausto Bertinotti, 2002 in Porto Alegre: „Die politischen Kräfte der Linken, Kommunisten und andere, müssen aufhören, in Kategorien von ideologischer Vorherrschaft und Avantgardismus zu denken und zur Kenntnis nehmen, dass dies ein ex-cathedra-Verhalten ist, das niemand mehr hinzunehmen bereit ist.“
- b) Zielgruppenorientierte, klientelistisch motivierte Pluralität. Hier sehen unterschiedliche Positionen sich als zueinander komplementäre und arbeitsteilige Elemente eines Gesamtprojekts, das nach außen hin mittels Pluralität unterschiedliche Sektoren der Gesellschaft erreichen bzw. einbinden soll. Die einzelnen Strömungen haben ein Interesse, ihre eigene Identität aufrecht zu erhalten, zumindest solange ihre Zielgruppen oder ihre Basis dies fordert. Allerdings ist darin eine Tendenz zum Statischen angelegt. Veränderungen entstehen in der Regel nur durch machtpolitische Verschiebungen, wie in Punkt a) beschrieben. Bekannt ist dieses Pluralismusverständnis seit langem aus den Volksparteien, die auf diese unterschiedliche Weise Wählerschichten für sich zu mobilisieren vermögen.
- c) Diversität als desinteressierte Koexistenz. Dieser Ansatz betrachtet soziale Bewegung als Markt der Möglichkeiten, auf dem man seine eigenen Ideen und Vorschläge feilbietet, ohne sich auf einen politischen Prozess mit anderen Akteueren einzulassen und dabei eine Veränderung der eigenen Positionen in Erwägung zu ziehen. Auch besteht hier keine Verpflichtung, sich zu einem gemeinsamen „Großen und Ganzen“ bekennen und zu seiner Verwirklichung beitragen zu müssen. Dieses Pluralismusverständnis ähnelt der Liberalität des Speakers Corner oder der „Spielwiese”, wo jeder sagen kann was er will. Auf Dauer ist diese Art toleranter Koexistenz jedoch undynamisch und politisch unproduktiv. Allerdings kann sie als Eingangs und Durchgangsstadium durchaus einen Stellenwert haben. Denn das Prinzip der Toleranz ist für plurale Bewegung natürlich von zentraler Bedeutung.
- d) Pluralität als Produktivkraft. Dieser Ansatz interpretiert Differenz nicht als Unfähigkeit, Rückständigkeit oder eine andere Erscheinung subjektiver bzw. kollektiver Unzulänglichkiet, sondern als Reflex einer in sich pluralen und widersprüchlichen Wirklichkeit. Allerdings werden hier die Unterschiede miteinander in Reibung gebracht und in diskursiven Verfahren bearbeitet, um sie möglichst in einen Konsens zu überführen. Dies erfordert die Fähigkeit, Differenz akzeptieren und aushalten zu können. Das ist mehr als klassische Kompromissbereitschaft, wie sie auch in Typ a) und b) notwendig ist. Dieses Pluralismusverständnis setzt die Bereitschaft zu lernen und zur Veränderung eigener Positionen voraus. Letztlich liefe es darauf hinaus, Hegemonie, d.h. Meinungsführerschaft, durch Konsens zu erzeugen, und zwar durch die Überzeugungskraft von Argumenten, ohne machtpolitische Mittel. Sicher handelt es sich hier um ein normatives, idealtypisches Konzept, das nie vollständig realisiert werden kann. Als Leitbild aber, dem man sich in der Praxis anzunähern versucht, ist es ein zentrales Element einer neuen, emanzipatorischen Politik.
Es kommt heute also darauf an, Pluralität als ein methodisches Prinzip im Bewegungsalltag und als politische Produktivkraft für die Entwicklung der großen Linien der Politik wirksam werden zu lassen. Dann könnte aus dem schönen Slogan „Vielfalt ist unsere Stärke“ Wirklichkeit werden.
Dazu ist allerdings die Herausbildung einer politischen Kultur notwendig, die nicht-machtförmige Verfahren einer emanzipatorischen Diskussionskultur, der partizipativen Konsens- und Entscheidungsfindung ermöglicht. Gebraucht werden entsprechende Methodenkompetenz, Kommunikationsverhalten und Verfahren der Konfliktbearbeitung.
Vor allem die traditionelle Linke – wenn auch nicht nur sie allein – hat hier noch einige historische Altlasten zu entsorgen. Sie muss ihre unseligen historischen Traditionen des Polemisierens und der persönlichen Abwertung von Andersdenkenden, der Intoleranz und Rechthaberei, wie sie leider auch die großen Vordenker des Marxismus gegenüber Differenz und Dissidenz innerhalb der eigenen Bewegung häufig praktizierten, überwinden.
Erst auf der Basis der Akzeptanz eines echten Pluralismus wird es möglich sein, jenen Grundbestand an Gemeinsamkeit, der emanzipatorische Politik ausmacht und der die Voraussetzungen für gemeinsame Handlungsfähigkeit ist, zu entwickeln und zu erhalten.
2. Ambivalenzen partizipatorischer Demokratie
Die Erkämpfung der repräsentativen Demokratie gegenüber dem Feudalismus war ein großer zivilisatorischer Fortschritt. Ihre Struktur- und Verfahrenslogik haben sich auch im zivilgesellschaftlichen Bereich durchgesetzt. Heute funktioniert jeder Kaninchenzüchterverein und jeder Sportclub via Vereinsgesetz nach ihrem Bilde. Auch die herkömmlichen Organisationsmodelle der alten und neuen sozialen Bewegungen bis hin zum demokratischen Zentralismus der kommunistischen Parteien orientierten sich zumindest in der Theorie am Repräsentativmodell. Alternativen, wie z.B. das Rätesystem oder die Basisdemokratie der Grünen blieben Episoden.
Andererseits erweist sich das repräsentative Modell immer stärker als Hindernis für zivilgesellschaftliches Engagement. Wie zahlreiche empirische Studien, darunter die Shell-Jugendstudien, belegen, wollen sich immer weniger Menschen und vor allem immer weniger junge Menschen in Parteien, Gewerkschaften, Kirchen und Verbänden betätigen. Das Gefühl, nur ein Rädchen in einem großen Getriebe zu sein, die Aussicht, wirklichen Einfluss nur nach einem langen und aufopferungsvollen Marsch durch die Institutionen zu erlangen, hält immer mehr Menschen davon ab, politisch aktiv zu sein. Die Ansprüche an Mitreden, Mitmachen und Mitgestalten sind enorm. Im Kern ist dies eine positive Entwicklung. Sie verweist auf ein beträchtliches demokratisches Potenzial und bildet eine Motivationsressource für politisches Aktivsein. In der Substanz handelt es sich also um ein emanzipatorisches Phänomen, dem eine zukunftsfähige linke Politik Rechnung zu tragen hat. Hierarchische und zentralisierte Organisationsmodelle werden dem nicht gerecht. Stattdessen sind Netzwerkförmigkeit und Dezentralität angemessen – freilich bei einem Minimum an Koordination und einem Höchstmaß an Transparenz.
Attac versucht, seine Strukturen in diese Richtung zu entwickeln. Auch die internationalen Foren der globalisierungskritischen Bewegungen, wie das europäische und das Weltsozialforum funktionieren nach dem gleichen Verfahren. Vieles trägt experimentellen Charakter.
Eine tragende Säule des partizipatorischen Ansatzes ist dabei das Konsensprinzip. Es besagt, dass politische Entscheidungen in einem – gewichteten – Konsens getroffen werden. Gewichtet bedeutet, dass nicht 100 Prozent einer Entscheidung zustimmen müssen. Das liefe auf ein Veto für einzelne oder sehr kleine Minderheiten hinaus. Es bedeutet in der Regel, dass so lange diskutiert wird, bis ein Konsens erzielt wird. Zeichnet sich ab, dass die Differenzen unüberbrückbar sind, kann keine Entscheidung gefällt werden.
Von besonderer Bedeutung ist hierbei, dass die demotivierende Wirkung, die Mehrheitsentscheidungen bei der Minderheit meist hervorrufen, sich bei Konsensentscheidungen nicht entfalten kann. In einer Bewegung, wo die Beteiligung möglichst vieler an den gemeinsamen Aktivitäten unverzichtbar ist, ein entscheidender Vorteil. Denn sich gegen seine Überzeugung für etwas einsetzen zu müssen, erfordert Disziplin, Selbstüberwindung u. a. Sekundärtugenden, wie sie im Bild des „Parteisoldaten“ verkörpert sind. Dieser Verhaltenstypus ist aber immer weniger anzutreffen. Und wahrscheinlich ist das gut so.
Insgesamt zeigen die Erfahrungen, dass das Konsensprinzip durchaus funktioniert. Zwar kommt es nicht bei allen Themen und in allen Fragen zu Übereinstimmung und damit zu gemeinsamer Handlungsfähigkeit, aber im Großen und Ganzen funktioniert das System. Andernfalls hätte die Bewegung auch nicht die Erfolge, die sie hat, sondern wäre paralysiert.
Einer der Gründe für das Funktionieren liegt sicher auch darin, dass mit dem Internet ein neues Medium zur Verfügung steht, das den Interessen der globalisierungskritischen Bewegung sehr entgegenkommt. Es ist zu einem Element der Bewegungsinfrastruktur geworden, das in seiner Bedeutung meist unterschätzt wird. Das Netz ersetzt bis zu einem gewissen Ausmaß Leistungen, wie Information, Orientierung, Transparenz, Interaktivität etc., die unter traditionellen Kommunikationsbedingungen mühsam und unter hohem Aufwand bereitgestellt werden mussten. Eine Kampagne kann heute durch das Web derart rasch und effizient Mobilisierung zustande bringen – auch transnational –, wie dies unter früheren Bedingungen allenfalls große Staats- oder Parteiapparate vermochten.
Andererseits sind die Affekte gegen Strukturen und formalisierte Verfahren auch höchst ambivalent. Die Absenz von offiziellen Regeln öffnet nämlich auch Räume für informelle Hierarchien und Machtstrukturen. Und in der Tat ist die Diversität der Bewegung gleichzeitig die Quelle von Asymmetrien. Gut organisierte und mit personellen und finanziellen Ressourcen sowie politischem Know How und fachlicher Expertise ausgestattete Akteure können zu mehr Einfluss kommen als andere. Manchmal handelt es sich um NGOs, in einigen Ländern auch um politische Parteien. Insofern ist die Realität der globalisierungskritischen Bewegungen von Hybridstrukturen geprägt, einer Mischung von partizipatorisch-basisdemokratischen und konventionellen Strukturen. Ein Beispiel dafür ist die professionelle Medienarbeit von Attac. Zwar ist sie einerseits ein wichtiges Moment für den Erfolg des Projekts, andererseits erlaubt die Dynamik der Medien und deren Zwänge im Einzelfall nur bedingt demokratische Konsensfindung.
Unter Effizienzgesichtspunkten haben beide Komponenten wechselseitig Synergieeffekte hervorgebracht und das Gesamtprojekt befördert. Insofern ist auch das Argument, Attac oder die globalisierungskritische Bewegung brauchten feste, repräsentative Strukturen, um effizient und handlungsfähig zu sein, nicht zutreffend. Als Teil eines übergreifenden Ganzen sind solche Strukturen ja vorhanden. Anders als in rein konventionellen Formationen ist ihre Bedeutung jedoch relativiert. Zwar ist das Risiko, dass es zu einer faktischen Dominanz von NGOs oder parteiförmigen Organisationen kommt, nicht ganz auszuschließen. Aber da diese damit zugleich den Ast absägen würden, auf dem sie sitzen, relativiert sich wiederum auch dieses Risiko.
Andererseits werden basisdemokratische Puristen in dieser Hybridkonstruktion ebenso wenig ihre Idealvorstellungen verwirklicht sehen. Daher ist es nicht verwunderlich, dass das Thema Demokratie unterschwellig permanent und von Zeit zu Zeit auch als offen konfliktives präsent ist.
Allerdings besteht kein Grund, das partizipatorische Moment per se als nur positiv zu sehen – auch nicht unter Demokratiegesichtspunkten. Der bereits erwähnte geringe Regelungsgrad öffnet nicht nur „informellen Mechanismen der Macht“ (Bourdieu) von ideell und/oder materiell ressourcenstarken Akteuren Räume. Die Partizipation als solche birgt das Risiko der „Aktivistendemokratie“. Selbst ohne jegliche machtpolitischen Motive führt die Tatsache, dass bestimmte Gruppen, z.B. Studentinnen und Studenten oder Seniorinnen und Senioren allein aufgrund ihrer Lebenssituation mehr Zeit in politische Arbeit investieren können, dazu, dass sie in eine dominierende Position gelangen können. Andere, die aus familiären und/oder beruflichen Gründen weniger Möglichkeiten politischer Arbeit haben, werden in der Tendenz in den Hintergrund gedrängt. Damit einher geht die Gefahr, dass nach wie vor sehr wichtigen Bevölkerungsgruppen nur unzulänglich in der Bewegung widergespiegelt werden.
Ein weiteres Problem der geringen Formalisierung ist, dass es keine Ausschlussverfahren gibt. Schiedskommissionen u. ä. existieren nicht. Bei aller politischen Pluralität findet diese doch ihre Grenzen an Nationalismus, Rassismus, Antisemitismus u. a. reaktionären Ideologien. Und da Demokratie nicht nur eine Frage von Strukturen und Regeln, sondern auch von politischen Inhalten ist, können offene Strukturen hier ein Problem bekommen.
Banaler, wenn auch im Alltag lästiger ist das Problem, dass die Offenheit der Strukturen auch Personen und Gruppen anlockt, die dem Skurrilen, Bizarren und Exzentrischen zuneigen. Da sie in „normalen“ Organisationen leichter ausgefiltert und marginalisiert werden können, sind offene Strukturen besonders attraktiv für sie.
3. Herausforderung Internationalisierung
Dass die globalisierungskritische Bewegung international ist, scheint auf den ersten Blick eine tautologische Formulierung zu sein. Richtig ist, dass sie praktisch auf allen Kontinenten vertreten ist. Tatsache ist auch, dass sie sich an internationalen oder globalen Regierungsevents wie die G8 oder die Konferenzen von WTO, IWF und Weltbank in großen Protestaktionen physisch artikuliert. Auch hat es erfolgreiche internationale Kampagnen gegeben, wie die gegen das Multilaterale Investitionsabkommen (MAI) in der OECD. Auch war ihr Agieren in Seattle und in Cancùn ein Faktor für das Scheitern der WTO-Verhandlungen. Eine wichtige Bedingung für diese Erfolge war die gut funktionierende Vernetzung von NGOs, die hier eine internationale Bewegungsinfrastruktur bildeten.
Eine neue Qualität internationaler Kooperation waren die parallelen Demonstration gegen den Irak-Krieg mit Millionenbeteiligung in vielen Ländern am 15. Februar 2003. Allerdings ist hier einschränkend festzuhalten, dass die Massenmedien und die Gegenseite mit den live übertragenen spektakulären Auftritten im Weltsicherheitsrat ein wesentlicher Mobilisierungsfaktor waren.
Die globalisierungskritische Bewegung hat durch das Weltsozialforum und die kontinentalen Sozialforen inzwischen aber auch Ansätze entwickelt, ihre Vertreter und Vertreterinnen ohne den Katalysator von Protest- und Gegenveranstaltung in direkte face to face-Kommunikation zu bringen.
Die Bewegung konnte auf diesem Weg das Meinungsklima auch international beeinflussen, von einer transnationalen Interventionsfähigkeit ist sie jedoch noch weit entfernt. Bisher wird internationale Handlungsfähigkeit meist nur beschworen. Nationale, kulturelle und andere Besonderheiten haben noch immer ein Gewicht, das weithin unterschätzt wird. Das macht sich bereits auf europäischer Ebene bemerkbar, wo die Voraussetzungen dafür eigentlich am günstigsten sind, da die EU das avancierteste Projekt supranationaler Staatlichkeit ist.
So war z.B. der europäische Aktionstag am 3. April diesen Jahres, zu dem der Europäische Gewerkschaftsbund und die Europäische Versammlung der Sozialen Bewegung aufgerufen hatten, zwar mit einer halben Million Menschen in Berlin, Stuttgart und Köln ein großer Erfolg – in Deutschland. In den anderen Ländern der EU fand jedoch sehr wenig oder nichts statt. Das gilt für die sozialen Bewegungen noch mehr als für die Gewerkschaften. Noch verläuft die Dynamik der gesellschaftlichen Auseinandersetzung nicht synchron. Und wenn in Italien Generalstreiks gegen neoliberale Angriffe stattfinden, so kann es anderswo ruhig bleiben, bzw. eine Mobilisierung findet zu einem anderen Zeitpunkt statt. Der Mobilisierungsrhythmus wird primär noch immer von nationalen Strukturen und Dynamiken bestimmt. Auch bei der europäischen Verfassungsdebatte oder beim Thema Osterweiterung ist gemeinsames Handeln bisher nicht möglich gewesen.
Die kommunikativen Schwierigkeiten, wie Sprachbarrieren, kulturelle und politische Differenzen sowie hohe Transaktionskosten für konkrete Kooperation sind noch immer ein Hindernis auf dem Weg zu gemeinsamer Interventionsfähigkeit. Selbst zwischen den einzelnen Mitgliedern der europäischen Attac-Familie existieren nur rudimentäre Mechanismen des transnationalen Dialogs und der Kooperation. Der praktische Internationalismus ist also noch immer eine Herausforderung, für deren Bewältigung die konkreten Instrumentarien fehlen.
4. Alternativen
„Eine andere Welt ist möglich“ lautet der Hauptslogan der globalisierungskritischen Bewegung. Er ist das Kontrastprogramm zur Ideologie der Alternativlosigkeit zum neoliberalen Projekt. Allerdings ist die Bewegung über diese emotionale und ermutigende Parole bisher nicht wirklich hinausgekommen. Nach wie vor ist sie weitgehend auf Negation, auf Kritik und Abwehr orientiert.
Eine Wende wird aber nur eintreten können, wenn zur Unfähigkeit der Herrschenden, so weiter zu machen wie bisher, eine überzeugende Alternative auf den Plan tritt. Soweit ist das Konsens. Aber damit hören die Gemeinsamkeiten bereits auf. Denn was eine Alternative ist, darüber bestehen höchst unterschiedliche Vorstellungen. Einige der Varianten von Alternative sind (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):
- a) eine andere Gesellschaft, eine komplette Systemalternative, so wie einst der Sozialismus als Alternative zum Kapitalismus aufgefasst wurde;
- b) eine andere Variante von Kapitalismus, die den Neoliberalismus überwindet und an seiner Stelle eine globalisierte Version des „rheinischen“, sozialstaatlich orientierten Kapitalismus etablieren will;
- c) ein Reformprogramm von tagespolitischer bis mittlerer Reichweite, etwa wie die Memorandum-Gruppe sie regelmäßig vorlegt. Auch Attac Frankreich hat 2002 ein Programm diesen Typs („Attac au Zénith“) veröffentlicht. Einige Befürworter dieses Typs von Alternative sehen solche Programme als Teil eines langfristigen Transformationsprozesses, entweder über den Neoliberalismus hinaus oder gar hin zu einer anderen Gesellschaft. In Attac Deutschland gibt es eine Strömung, die in gleicher Manier gegenwärtig an einem „Programm für eine alternative Weltwirtschaft“ arbeitet. Die einzelnen Programmentwürfe unterscheiden sich dann noch in ihrer ideologischen und theoretischen Orientierung. So gibt es (neo)keynesianische, wachstumskritische, „radikale“ und „gemäßigtere“ Varianten;
- d) ein Set von alternativen Leitbildern und Wertorientierungen, wie Solidarität, Gerechtigkeit, Demokratie, ökologische Nachhaltigkeit u. a. Protagonisten dieses Ansatzes argumentieren oft, dass sich die Massen für Programme ohnehin nicht interessieren und nur auf zündende Parolen vom Typus „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ oder „Brot, Land, Frieden“ zu mobilisieren seien;
- e) eine Kombination aus b. und c. Die Leitbilder für den Massenerfolg und das Reformprogramm als Leitfaden für den Fall der Regierungsübernahme;
- f) ein Projekt, das sich um einen Knotenpunkt der gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung herum kristallisiert und das dann kampagnenförmig Massenunterstützung gewinnen kann; ein solches Projekt wäre z.B. „Steuergerechtigkeit“ oder „Grundsicherung“, die beide sowohl in nationalem Rahmen wie international attraktiv sein könnten;
- g) eine Organisation, eine Partei oder eine Koalition von Organisationen, die zum Protagonisten der Veränderung wird und entweder in außerparlamentarischen oder/und parlamentarischen Kampf für Veränderung eintritt. Oft – aber nicht zwangsläufig – damit verbunden ist auch die Vorstellung von Alternative(n) in Form einer oder mehrerer prominenter Personen, die sich an die Spitze der Bewegung stellen. Im deutschen Kontext wird dann oft eine neue Linkspartei genannt, mit der Untervariante Lafontaine und Gysi als personelle Speerspitze.
Einige dieser Punkte sind höchst kontrovers und polarisieren die globalisierungskritische Bewegung. Gegenwärtig ist das in der deutschen Debatte vor allem das Parteiprojekt. Es hat schlagartig zu einer wie auch immer beschränkten, aber höchst intensiven Diskussion geführt. Im europäischen Rahmen oder global kann von einer intensiven Diskussion jedoch noch nicht die Rede sein. Diese ist aber dringend notwendig. Sie muss breit, offen und demokratisch geführt werden. Denn erfolgreiche emanzipatorische Alternativen werden nicht in Zirkeln ausgeklügelt, nicht von Experten und in Kommissionen formuliert, sondern sie entwickeln sich aus der politischen Praxis der Bewegung heraus.