Während einiger Wochen im März 2004 konnte für interessierte PressenutzerInnen der Eindruck entstehen, die deutsche Parteienlandschaft bilde sich dramatisch um. Das Presseecho auf die „Wahlalternative 2006“, von der es zu diesem Zeitpunkt gerade einmal einen Grundlagentext[1] und ein erstes bundesweites Treffen am 5. März in Berlin gab, und die parallele „Initiative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“[2] (im weiteren: Initiative ASG) aus Nordbayern war umfangreich und alleine dadurch beeindruckend. Schützenhilfe der leicht hysterisch reagierenden SPD[3] kam hinzu. Die veröffentlichte Resonanz stand zu diesem Zeitpunkt freilich in keinem Verhältnis zur realen Stärke der beiden Initiativen, sondern signalisierte nur, um einen häufig gebrauchten Satz zu benutzen, dass so etwas wie eine linke Parteigründung „eigentlich“ in der Luft liege. Nachdem der erste Medienhype nun vorbei ist, stellt sich die Frage, ob daraus nun eine wahlpolitisch relevante Realität wird. Die beiden Initiativen, die sich stark überlappen[4], sind nun in einer Phase der Mühen der Ebene angelangt und arbeiten am Aufbau regionaler Strukturen. Ein bundesweites Treffen der „Wahlalternative“ ist auf den 20. Juni verschoben worden, findet also eine Woche nach der Europawahl und den parallelen Landtagswahlen in Thüringen sowie mehreren Kommunalwahlen statt.
Ein zentraler Gegenstand dieses Beitrags ist die Frage nach der künftigen Rolle der PDS. Ein „Führungsanspruch“ der beiden Initiativen gegenüber der PDS und anderen Linken wäre nur dann zu legitimieren, wenn die Initiativen drei Bedingungen eindeutig besser als die PDS und andere, sich radikaler als die PDS und die Initiativen verstehende Linke erfüllten:
- Sie müssten programmatisch innovativer und kohärenter sein.
- Sie müssten fähig sein, soziale Akteure und MultiplikatorInnen zusammen zu führen und eine Wahlkandidatur auf diese und insofern auf „soziale Bewegungen“ zu stützen.
- Sie müssten zusätzliche und also größere WählerInnenpotenziale erschließen können.
Im Folgenden wird versucht, diese drei Kriterien skizzenhaft zu untersuchen. Wer sich ein klares, eindeutiges Ergebnis verspricht, wird enttäuscht werden – zu unklar, oder, positiv formuliert: offen ist der bisherige Stand, als dass ein eindeutiges Urteil möglich wäre; zu schwierig die Lage aller linken Strömungen, als dass ich mir Gewissheiten zu verbreiten zutrauen würde. Infolge dessen handelt es sich bei diesen Ausführungen nur um tastende, etwas zähe Annäherungsversuche.
Linkskeynesianische Wirtschaftspolitik und Sozialstaats-
verteidigung
Die bisher erkennbaren programmatischen Orientierungen der beiden Initiativen sind verkürzt als Verteidigung des Sozialstaats (im Wesentlichen in seiner bisherigen Form) sowie als Ausrichtung auf eine linkskeynesianisch geprägte Wirtschafts- und Finanzpolitik zu beschreiben[5]. Diese Konzentration auf eine nicht-neoliberale Wirtschafts- und Sozialpolitik ist Stärke und Schwäche zugleich. Stärke, weil eine klare Fokussierung auf Themenbereiche (Arbeitslosigkeit, Rente, Gesundheit, breit gefasste öffentliche soziale Infrastruktur) stattfindet, die die öffentliche Diskussion bestimmen und in denen der Unmut und die „Vertretungslücke“ im Parlament deutlich werden, zumal diese Themen gleichzeitig erstmals seit langem ins Zentrum sozialer Proteste rücken. Stärke auch, weil es weder linksgrünen Ansätzen noch der PDS oder anderen Linken in den letzten Jahren wirklich gelungen ist, als klarer Gegenpol zum wirtschaftspolitischen Einheitsbrei von „Rot-Grün“ und Union/FDP wahrgenommen zu werden. Indirekte Stärke schließlich, weil wirtschafts-, finanz- und sozialpolitische Positionen in den letzten Jahren selten in ein kohärentes Verhältnis zu anderen emanzipatorischen Politikzielen (Friedenspolitik, globaler sozialer Ausgleich, Demokratisierung, Geschlechtergerechtigkeit, Antirassismus u.a.) gestellt werden konnten, sondern allzu oft aufaddierte, nebeneinander stehende Programmforderungen formuliert wurden.
Gleichzeitig birgt diese klare Fokussierung auch Schwächen in sich. Der Breite der unterschiedlichen linken Initiativen und Milieus trägt sie nicht Rechnung. Die angedeuteten sozial- und wirtschaftspolitischen Richtungen wirken zu traditionell, konstruktive linke und demokratische Kritik an bisheriger Sozialstaatspolitik, z.B. aus feministischer oder migrantisch-antirassistischer Sicht, drohen so zu kurz zu kommen[6]. Die bisherigen programmatischen Andeutungen beider Initiativen gehen offenbar davon aus, dass gut entwickelte, von den meisten Linken anerkannte Positionen z.B. der Memorandum-Gruppe und der Abteilung Wirtschaftspolitik bei der ver.di-Bundesverwaltung die programmatische Grundlage einer Wahlkandidatur bilden können. Für ein wahlpolitisches Projekt bedarf es aber einer weiter gefassten, pluralen Diskussion, in die auch andere Impulse aus weniger gewerkschaftsorientierten Bereichen einfließen können (etwa zu Modellen sozialer Grundsicherung, zur Berücksichtigung der Interessen von prekär Beschäftigten mit längst existierenden Niedriglöhnen, die von einer gewerkschaftlichen Hochlohnstrategie kaum erfasst werden, oder zu statusunabhängigen Mindestrechten, etwa in der medizinischen Versorgung illegalisierter Menschen).
Zu den programmatisch offenen Punkten gehört auch die europäische und globale Gestaltungsform künftiger demokratischer und international solidaritätsfähiger, sich nicht abschottender Sozialstaatsmodelle. Hier scheint mir eine generelle Unsicherheit linker Konzepte vorzuliegen[7]. Vage bleibt schließlich auch die Rolle anderer Politikfelder.
Entscheidend wird sein, ob die beiden Initiativen den Willen und die Kommunikations- und Kontaktreichweite haben, eine breite programmatische Debatte mit anderen emanzipatorischen Strömungen zu führen und so die genannten und andere Defizite zu überwinden. Dies hängt eng mit der Zusammensetzung der bisherigen Akteursgruppen und ihrer Zielgruppenorientierung zusammen.
GewerkschafterInnen plus ein bisschen Attac?
Zur Akteursfrage
Die Stärke der beiden Initiativen, vor allem der „Initiative ASG“, liegt in ihrer Verankerung im aktiven, z.T. hauptamtlichen Gewerkschafts- und Betriebsrätebereich. Darüber hinaus sind, vor allem bei der „Wahlalternative“, einige AktivistInnen aus dem verkürzt mit „Attac“ bezeichneten globalisierungskritischen Bereich und Personen aus einigen wenigen anderen Initiativen beteiligt. Schwach vertreten scheinen bisher jüngere Akteure, politisch aktive MigrantInnen (außer einigen wenigen aus dem Gewerkschaftsbereich), Aktive aus dem antirassistischen Bereich, Menschen aus dem Teil des internationalistischen Spektrums, für den Attac nicht alles ist, und Menschen aus einer zwar diffusen, aber lebendigen jüngeren alternativ-kulturellen Szene. Nun mögen alle diese Gruppen wahlpolitisch begrenzt wirksam sein. Sammlungsversuche im Sinne einer „Rainbow Coalition“ haben jedenfalls bei Wahlen schwach abgeschnitten, seit die Grünen ihren Platz auf der Linken geräumt haben. Dies zeigte sich zuletzt im Wahlergebnis von „Regenbogen“ in Hamburg 2001 und 2004[8]. Als soziale, intensiv vernetzte, häufig jüngere Akteure und damit für die Entwicklung emanzipatorischer Programmatik sind Menschen aus diesen Spektren aber auf jeden Fall von Bedeutung; ganz davon abgesehen, dass keine linke Wahlformation so vermessen sein sollte zu glauben, auf die Stimmen anderer Linker verzichten zu können.
Eine fundamentale Schwäche der bisherigen Zusammensetzung beider Initiativen ist der extrem geringe Anteil von Frauen. An einem ersten bundesweiten Treffen der „Wahlalternative“ Anfang März waren unter mehr als dreißig Mitwirkenden gerade einmal zwei Frauen beteiligt. Unter den 35 regionalen AnsprechpartnerInnen der „Initiative ASG“ sind nur vier Frauen genannt[9]. Dies unterstreicht die Notwendigkeit einer aktiven programmatischen und politisch-kulturellen Öffnung beider Initiativen, denn ein vorwiegend auf gewerkschaftlich aktive Männer der mittleren und älteren Generation gestütztes Projekt könnte vielleicht einen wahlpolitischen Achtungserfolg erringen, mehr aber auch nicht[10].
Erfolgschancen
Laut einer Forsa-Umfrage vom März[11] 2004 könnten sich 3 Prozent der Befragten vorstellen, eine neue Linkspartei zu wählen, weitere 18 Prozent würden sie vielleicht wählen. Ganz aus der Luft gegriffen ist die von der „Wahlalternative“ in einer früheren Arbeitsfassung des Aufrufs genannte 20 Prozent-Marke also nicht. Die Wahrscheinlichkeit aber, dass eine vage Überlegung, eine kaum in Konturen erkennbare neue Partei zu wählen, auch in einen realen Stimmenanteil von über 5 Prozent umschlägt, wenn sich ein konkretes Partei- oder Wahlbündnismodell herauskristallisiert und der Charme unverbindlicher Vagheit nachlässt, ist nicht sehr hoch. Je konkreter eine Wahlentscheidung ansteht, desto stärker prägen taktische Erwägungen die Stimmabgabe, zumindest bei denen, die zwischen der Wahl verschiedener Parteien schwanken (etwas weniger vermutlich bei potenziellen NichtwählerInnen). Für taktische WählerInnen können symbolische, sozial erscheinende Korrekturen von „Rot-Grün“ (Einstieg in eine BürgerInnenversicherung, Ausbildungsplatzabgabe, soziale Abgrenzungsrhetorik zum „bürgerlichen“ Lager) in Verbindung mit dem Wunsch, Merkel, Koch oder Stoiber die Kanzlerschaft zu verbauen, ausreichen, letztlich doch wieder SPD oder Grüne zu wählen.[12]
Auch aus dem europäischen Vergleich[13] lässt sich nur begrenzt Optimismus herleiten. Zwar erhalten Parteien links der Sozialdemokratie bzw. der Grünen in einer Reihe von Ländern Stimmenanteile von 5 Prozent bis hin zu mehr als 10 Prozent, doch wachsen die Stimmenanteile nur in wenigen Fällen. Meist haben linke Parteien sogar mit Stagnation oder rückläufigen WählerInnenanteilen zu kämpfen, trotz eines parallelen Anstiegs sozialer Proteste und Bewegungen. Sinkende Wahlbeteiligungen sind ein fast durchgängiger Trend. Diffusen sozialen Protest können häufig nur solche populistischen Parteien (zeitweilig) erfolgreich aufnehmen, die sicherlich nicht als Vorbild genommen werden sollen (Frankreich, Österreich, Niederlande, Dänemark, mit Einschränkungen Polen[14] u.a.).
Interessant ist der Ansatz der beiden Initiativen, solche Menschen als potenzielle WählerInnen anzusprechen, die sich ganz aus der Wahlbeteiligung zurückziehen. Es erscheint aber fraglich, ob die schon länger marginalisierten und resignierten NichtwählerInnen durch eine Gruppierung erreicht werden können, die aus den Resten noch existierender politisch-sozialer Milieus industriell geprägter Gewerkschaften kommt. Trotz aller berechtigten Bedenken, die emanzipatorisch ausgerichtete Linke gegen Stellvertreterpolitik und vor allem die Gefahren eines populistischen Politikansatzes haben, stellen sozial ausgerichtete, demokratische Wahlangebote für marginalisierte Bevölkerungsgruppen eine Herausforderung dar, der sich die beiden Initiativen zu stellen versuchen. Der Göttinger Politikwissenschaftler Franz Walter stimmte nicht in die verbreitete Geißelung der „Wahlalternative“ wegen ihres – in der Tat problematischen, mindestens ungeschickten – Schill-Vergleiches ein, sondern billigt politischen Neuformierungen auf der Linken und auch einem Linkspopulismus durchaus seinen gesellschaftlichen Platz zu: „Die politische Dynamik von Spaltungen verläuft oft anders, bringt nicht selten Bewegung in starre Fronten, eröffnet häufig neue Zugänge, erweitert vielfach gar das soziale und politische Gelände.“ Walter bezweifelt aber, dass die beiden Initiativen ein linkspopulistisches Projekt zu Stande bringen könnten: „Die potenziellen Parteigründer auf der Linken sind vielmehr durchweg ordentliche Gewerkschaftsfunktionäre, die Wert auf Organisation, Programme, Stetigkeit, Disziplin, Verlässlichkeit und all dergleichen gediegene Facharbeiter-/Angestelltenmentalitäten legen“[15].
Offen bleibt bei Walter, ob ein linkspopulistisches Wahlprojekt mehr Stabilität als die meisten rechtspopulistischen Parteien haben könnte, fraglich ist auch, ob eine Abgrenzung gegenüber demagogischen, antidemokratischen Ressentiments durchzuhalten wäre.
Eher könnte es den beiden Initiativen gelingen, solche Menschen zu erreichen, die bisher noch an Wahlen teilgenommen haben, dies aber wegen der Entwicklung der SPD künftig nicht mehr tun würden. Das Zusammenhalten bisheriger traditioneller sozialdemokratisch-gewerkschaftlicher Mitglieder und WählerInnen, die sich ganz aus der Politik zurückzuziehen drohen, ist eine unbedingt notwendige politische Aufgabe. Ob sie in einer isolierten Wahlkandidatur münden muss, ist eine andere Frage.
Wie hältst Du’s mit der PDS?
Die hier geäußerte Skepsis, zu der auch der häufig vorgebrachte Verweis auf die lange Geschichte der Misserfolge von Parteien links der SPD in der Bundesrepublik[16] hinzuzunehmen wäre, meint aber nicht, dass die beiden Initiativen von vornherein abzuschreiben sind. Eine solche Haltung wäre nicht nur arrogant, wozu die (Miss)Erfolgsbilanz anderer linker Wahlbeteiligungen und die dramatische Schwäche aller linken Strömungen keinen Anlass bietet, sie wäre auch voreilig, denn in Zeiten sinkender Parteienbindung und wachsender „Unberechenbarkeit“ von WählerInnen müssen Muster früherer Jahrzehnte nicht unbedingt gültig bleiben. Die Hoffnung auf einen Durchbruch ist aber vage, und die inhaltliche und kulturelle Attraktivität der Initiativen bisher nicht so groß, dass sie ihrerseits Grund zu Dominanzansprüchen hätten. Genau dies scheint aber zumindest bei der „Initiative ASG“ durch. Sehr deutlich wird dies in Bezug auf die PDS: „Nach wie vor wird in einigen Medien berichtet, wir strebten eine engere Zusammenarbeit mit der PDS an. Einige PDS-Vertreter ‚umgarnen’ uns und wollen uns dazu animieren (…) ‚gemeinsam auf offenen Listen der PDS’ zu kandidieren. Es bleibt dabei: Wir haben in der Pressekonferenz am 19. März erklärt, die PDS sei keine Alternative, sie ist eine Ostpartei geblieben und ist nie angekommen, um hier eine breite Oppositionsbewegung zu bündeln. Sie hat sich ferner mit ihren Regierungsbeteiligungen in Berlin und Rostock völlig desavouiert. Die in Regierungsbeteiligung mitvertretenen Positionen stehen in eklatantem Widerspruch zu ihrer eigenen Programmatik. Wir freuen uns über eine Zusammenarbeit mit allen Menschen, die sozialstaatliche Prinzipien verteidigen wollen – gleich welcher Partei sie angehören.“ [17]
Einmal davon abgesehen, dass Schwerin und nicht Rostock die Landeshauptstadt von Mecklenburg-Vorpommern ist, was man in Bayern ja nicht unbedingt wissen muss (aber vielleicht ist es doch ein Ausdruck einer unbewussten Überheblichkeit gegenüber dem Osten und der PDS?), ist gegen den ersten und letzten Satz dieser Passage wenig einzuwenden. Tatsächlich hat es die PDS, trotz einer in manchen Orten und sozialen Bewegungen durchaus vorhandenen Verankerung, nur sehr punktuell vermocht, eine eigenständige, linke westdeutsche Funktion zu finden. Die Bundespartei hat sich nach der verlorenen Wahl 2002 noch stärker auf den Osten zurückgezogen, was organisationspolitisch ebenso einleuchtend und verständlich wie für ihren bundesweiten Anspruch verheerend ist. So verwundert es nicht, dass tatsächlich nur wenige sozial orientierte Menschen im Westen der Republik auf die Idee kommen, die PDS als einen zentralen Netzwerkknoten von Protest und alternativer Politik zu betrachten.
Von einer ärgerlichen Überzeichnung zeugt es aber, die PDS als Bundespartei wegen ihrer beiden Landesregierungsbeteiligungen pauschal abzutun. Fraglos wirkt insbesondere die Berliner Regierungsbeteiligung auf politisch aktive Menschen in Gewerkschaften, Sozialverbänden und sozialen Bewegungen in Berlin selbst, aber auch bundesweit zutiefst abschreckend. Zur Verteidigung der konkreten Landespolitik lässt sich nicht allzu viel sagen. Wenn sich, unter teilweiser Überschneidung mit AkteurInnen der beiden bundesweiten Initiativen, in Berlin ein Bündnis für ein Volksbegehren zur Auflösung des Abgeordnetenhauses und damit zur faktisch zur Abwahl des Senats und daraufhin ein Wahlbündnis in Konkurrenz zur PDS bildet, ist dies legitim und verständlich, bleibt aber im Kern eine landespolitische Angelegenheit. Der Umgang der Bundespartei, die sich einerseits natürlich nicht hart von der Berliner Landespartei abgrenzen kann, andererseits aber inhaltlich und taktisch eine gewisse Distanz an den Tag legen und betonen müsste, dass eine anders ausgerichtete Bundespolitik Vorrang für sie hat, reicht nicht aus, die Glaubwürdigkeit der PDS unter diesen politisch Aktiven wiederherzustellen. Immerhin hat der Europaparteitag der PDS Anfang 2004 mit der Nominierung von Tobias Pflüger[18] und Sahra Wagenknecht auf aussichtsreichen Plätzen der PDS-Europaliste die sehr Berlin-zentrierte, parteipolitisch engere Vorschlagsliste des Parteivorstandes korrigiert, was die PDS zwar nicht grundlegend positiv verändert, aber doch auf eine gewisse Lern- und Öffnungsbereitschaft und eine innerparteiliche Kritik hindeutet.
Fraglich ist allerdings, ob die Masse der politisch mäßig interessierten, nicht oder nur teilweise aktiven Menschen im Westen wirklich so viel Notiz von der Berliner oder Schweriner Regierungsbeteiligung der PDS nimmt. Hier scheint vielfach eine Überbewertung der Wirkung Berlins vorzuliegen, die aus der Gefahr der Selbstbespiegelung politischer MultiaktivistInnen herrührt. „Berlin“ ist ein großes und zu einem guten Teil selbstverschuldetes Problem der PDS, aber reicht nicht aus, um der PDS jede Berechtigung abzusprechen, wichtiger Teil einer emanzipatorischen bundesweiten Gegenströmung zu sein. Insbesondere klingt eine solche Kritik wie die oben zitierte von Thomas Händel nicht sehr überzeugend, wenn sie von Personen kommt, die z.T. jahrzehntelang in der SPD organisiert und aktiv waren, wie kritisch auch immer. Mensch mag meinen, die Existenz der PDS sei ein Hemmschuh für eine sich neu organisierende Linke. Doch wäre eine solche Position überzeugender, wenn sie aus einer linksradikalen oder linksalternativen Richtung käme, von Menschen, die generell ein anderes, weniger parteiförmiges Organisierungsmodell vertreten und skeptisch eingestellt sind hinsichtlich der Möglichkeiten von Wahlpolitik. Geäußert von den VertreterInnen der „Initiative ASG“ und teilweise der „Wahlalternative 2006“ mit ihrem eher traditionellen, auf Gewerkschaften und allgemein Großorganisationen gerichteten Politikverständnis, verliert eine solche Radikalkritik an der PDS an Glaubwürdigkeit.
Die bisher erkennbaren programmatischen Eckpunkte von „Wahlalternative“ und „Initiative ASG“ liegen nicht so weit von denen der PDS entfernt, wenn etwa das Grundsatzprogramm, so kontrovers die Debatte darüber auch war, oder die „Agenda sozial“[19] zu Grunde gelegt werden. Differenzen können sich zuweilen in der regionalen und lokalen Wirtschaftspolitik in Ostdeutschland ergeben, in der Vorstellungen kleiner Selbständiger und Freiberufler (auch) aus dem Umfeld der PDS mit gewerkschaftlich-sozialstaatlichen zu kollidieren scheinen, Unvereinbarkeiten für die Bundespolitik lassen sich daraus jedoch nicht ableiten.
Die Wahlchancen einer sich auf die beiden Initiativen stützenden Wahlformation sind, wie beschrieben, gegenwärtig nur schwer abzuschätzen. Im Westen hat eine neue Formation zumindest eine Chance, aus dem 1 Prozent-Bereich der PDS herauszutreten. Im Osten macht eine Konkurrenzpartei zur PDS für Bundestagswahlen keinen rechten Sinn, zudem fehlt angesichts relativ schwacher Gewerkschaften und sozialer Bewegungen auch eine Erfolg versprechende Trägerbasis. Die Überlegungen des DGB-Vorsitzenden von Sachsen und SPD-MdL, Lucassen, zur Gründung einer „Sächsischen Arbeiterpartei“[20] wirken vor dem Hintergrund einer massiven CDU-Mehrheit und einer extrem schwachen SPD (10,7 Prozent 1999) nur dann verständlich, wenn diese eine Art Auffangbecken für eine völlig weg brechende SPD sein soll. Prinzipiell scheint für eine neue Linkspartei im Osten wenig zu gewinnen zu sein, wenngleich auch geringe Abwanderungen in diese Richtung für die PDS ein großes Problem wären. Im Westen hat die PDS umgekehrt wenig erreicht, ein Verlust aber auch nur von 100.000 bis 200.000 ihrer rund 450.000 Stimmen in den alten Bundesländern (bei den Wahlen 1998 und 2002) würde sehr wahrscheinlich ihren Einzug in den nächsten Bundestag verhindern, denn die Wachstumsmöglichkeiten der PDS sind auch im Osten begrenzt.
All together now?
Der 13. Juni ist für die PDS ein zentraler Termin – und damit auch für die beiden Initiativen nicht ohne Belang. Gelingt der PDS der erneute Einzug in das Europaparlament, schafft sie es gleichzeitig, in Thüringen ein Ergebnis von 20 Prozent oder mehr zu erreichen und wiederholt sie Ergebnisse von rund 20 Prozent oder mehr schließlich im September in Brandenburg und Sachsen[21], dann erhält sie sich die Möglichkeit, als bundespolitische Kraft zu überleben. Nicht mehr, aber immerhin das. Diese relative Stabilisierung müssten dann auch die beiden Initiativen ins Kalkül ziehen. Umgekehrt hätte auch die PDS bei einem Wahlerfolg im Juni und September keinen Anlass, sich auf der sicheren Seite zu wähnen. Ihr Einzug in den Bundestag 2006 (oder früher?) bliebe ungewiss, ein Durchbruch im Westen und damit eine wirkliche bundesweite Bedeutung ist unwahrscheinlich, die politisch-kulturelle Attraktivität der PDS wird bescheiden bleiben. Angesichts dessen muss die PDS ihre Öffnung radikal vorantreiben, was in letzter Konsequenz langfristig auch die Existenz der PDS in ihrer bisherigen Form zu Gunsten eines neu zu entwickelnden linken Projekts (zu dem auch die beiden Initiativen wohl nur eine Zwischenstation wären) zur Disposition stellen kann. Konzeptionelle Grundlagen für eine solche Öffnung sind durchaus vorhanden[22]
So sehr sich insbesondere die „Initiative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ bemüht, Abstand zur PDS zu betonen, und auch wenn in der ersten Fassung „Für eine wahlpolitische Alternative 2006“ von einem WählerInnenpotenzial von rund 20 Prozent die Rede war, realistisch ist 2006 allenfalls der Einzug einer wahlpolitischen Formation links von „Rot-Grün“. Treten PDS und Wahlalternative/Initiative ASG 2006 getrennt an, wird es sehr wahrscheinlich gar keine linke Fraktion im Bundestag geben. Linke Dominanzansprüche sind daher wenig hilfreich. Die wahlrechtlichen Schwierigkeiten sind beträchtlich, im Augenblick jedoch nicht das Hauptproblem.
[1] „Für eine wahlpolitische Alternative 2006“, www.wahlalternative.de.
[3] Eine andere Lesart sieht die SPD-Reaktionen als durchaus zweckrational an, wenn nämlich angenommen wird, die KritikerInnen aus SPD und Gewerkschaften wollten eigentlich nur eine Drohkulisse für eine innerparteiliche Kurskorrektur aufbauen. So etwa der Parteienforscher Jürgen Falter (Uni Mainz) in Zitty 8/2004, März 2004. Siehe auch: Georg Wißmeier (ak Nr. 483, 23. April 2004, www.akweb.de)
[4] Die Namensliste der regionalen AnsprechpartnerInnen der „Initiative ASG“ macht die personellen Überschneidungen zur „Wahlalternative“, insbesondere in NRW, Norddeutschland und Berlin, deutlich.
[5] Nur angedeutet bei der „Initiative ASG“: http://www.initiative-asg.de/homepages/initiative-asg/file_uploads/aufrufiasg.pdf. Etwas deutlicher bei der „Wahlalternative 2006“: http://projekte.warenform.de/wahlalternative.de/downloads/Wahlalternative.pdf und im Selbstdarstellungsflyer (Ende April/Anfang Mai).
[6] Eine solche, ernstzunehmende Kritikrichtung wird andeutungsweise z.B. bei Georg Wißmeier im ak (Nr. 483, 23. April 2004, siehe: www.akweb.de) und Regina Stötzel in der „Jungle World“ (Noch ’ne SPD, Nr. 14/2004) sichtbar.
[7] In diesem Punkt ist Fausto Bertinotti zuzustimmen, der in einem Artikel für den „Guardian“ schrieb: „Now there is the chance of re-opening a Europe-wide battle over the welfare state. In the face of converging government policies, only an organisation fighting at European level can make its case”. Ob die Generalthese des Beitrags zutrifft, ist eine andere Frage: “Reformist social democracy is no longer on the agenda. The anti-globalisation movement is the basis of a left alternative.” (“The Guardian”, 11. August 2003; www.politics.guardian.co.uk/Print/0,3858,4730502,00.html.)
[8] Siehe auch: Florian Weis, Uruguay, Österreich und andere Vergleiche. Anmerkungen zu den Hamburger Wahlen. (http://www.rosaluxemburgstiftung.de/Aktuell/wtext/04kw10.htm.)
[9] http://www.initiative-asg.de/homepages/initiative-asg/regionalgruppen.html. Berichte von verschiedenen Regionaltreffen deuten ebenfalls auf einen geringen Anteil beteiligter Frauen hin
[10] Hinsichtlich der Altersmischung und der politischen Breite (nicht aber des Frauenanteils) wird ein Regionaltreffen in Wuppertal im April von den Beteiligten als erfreulich heterogen eingeschätzt. Siehe dazu: http://www.wahlalternative.de/newsletter.php?id=37.
[11] Siehe „Stern“, 23. März 2004, http://www.stern.de/politik/deutschland/index.html?id521862
[12] Eine wohltuend klare, nüchterne Einschätzung zu taktischen Motiven von WählerInnen hat Christoph Spehr nach der Bundestagswahl 2002 vorgenommen: Zur Bundestagswahl 2002: Eine Verteidigung der WählerInnen. In: Das Argument. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, Heft 3/2002 (246), siehe auch: www.rosaluxemburgstiftung.de/Einzel/Analyse/Texte/spehr.htm.
[13] Zu Wahlergebnissen siehe: http://www.parties-and-elections.de/indexe.html. Zu linken Organisationen: http://www.broadleft.org/index.htm. Ferner: Michael Brie (Hrsg.), Linksparteien im Vergleich. Rahmenbedingungen, strategische Ansätze und Erfolgskriterien. Rosa-Luxemburg-Stiftung, Manuskripte 41, Berlin 2003 (http://www.rosaluxemburgstiftung.de/Bib/Pub/Manuskripte/manuskripte%2041.pdf
[14] Samoobrona, die Partei des militanten Bauernführers Andrzej Lepper, ist heute nicht mehr ausschließlich als rechte (nach wie vor aber als populistische) Partei einzuordnen, ein positives Beispiel für eine neue Protestpartei in Deutschland kann aber auch sie schwerlich sein.
[15] Süddeutsche Zeitung, 22.3. 2004, S. 13.
[16] Die „Demokratischen Sozialisten“ (DS) werden vor allem genannt, weisen sie doch gewisse Gemeinsamkeiten zu den jetzigen Initiativen auf. Zu berücksichtigen ist dabei jedoch, dass sich Anfang der achtziger Jahre die Grünen in ihrer Aufschwungphase befanden und den größten Teil des emanzipatorischen Protestes bündeln konnten. Eine vergleichbare Konstellation besteht heute nicht.
[17] Rundbrief 2 /2004 der Initiative ASG vom 7.4. 2004, herausgegeben von Thomas Händel, S. 4 (http://www.initiative-asg.de/homepages/initiative-asg/file_uploads/rundbrief2.pdf). Bei der „Wahlalternative 2006“ heißt es etwas differenzierter: „Im bestehenden parteipolitischen Raum bietet sich dazu nur die PDS an. Bei aller Kritik an der PDS hat ihr Ausscheiden aus dem Bundestag 2002 den sozialreaktionären Kräften ihren Vormarsch in die Politik und in der öffentlichen Meinung erheblich erleichtert. Auf der anderen Seite bleibt diese Option hinter den Erfordernissen und den gesellschaftlichen Möglichkeiten dramatisch zurück. Die PDS ist nicht in der Lage, den überwiegenden Teil des Potentials für eine wahlpolitische Alternative auszuschöpfen. (…) In den letzten Jahren hat sie sich durch ihre Regierungsbeteiligung in Berlin zusätzlich desavouiert. Sie erscheint als sehr auf sich selbst und auf Mitregieren fixiert. Sie bzw. ihre führenden VertreterInnen sind offenbar für die notwendige klare und offensive und zugleich populär vorgetragene Gegenposition zum Neoliberalismus in der öffentlichen Meinung weder politisch-inhaltlich noch kulturell geeignet.“ (Für eine wahlpolitische Alternative 2006, http://projekte.warenform.de/wahlalternative.de/downloads/Wahlalternative.pdf, S. 4.)
[18] Siehe auch: www.wahlinitiative-tobias-pflueger.de und www.tobias-pflueger.de.
[19] Siehe: http://www.pds-online.de/politik/agenda_sozial/index.htm.
[20] Siehe etwa: Kletterübungen eines DGB-Vorsitzenden, Frankfurter Rundschau, 13.4. 2004, S. 5.
[21] Das alles ist keineswegs sicher, aber den Umfragen zu Folge durchaus möglich, die die PDS Ende April bei bundesweit durchschnittlich 4,9 Prozent (in einer Spannbreite von 4,0 bis 5,3 Prozent) und in den genannten ostdeutschen Ländern bei rund 20 Prozent sehen (siehe: www.wahlrecht.de).
[22] Verwiesen sei z.B. auf die Analyse „Ist die PDS noch zu retten?“ von Michael Brie aus dem Mai 2003: http://www.rosalux.de/Bib/Pub/standpunkte/Analyse.pdf. Darin wurde eine Perspektive „PDS plus“ dargestellt, die von Brie und anderen Mitwirkenden in Diskussionszusammenhängen der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Richtung auf eine gleichberechtigte Kooperation der PDS mit anderen Linken (also nicht nur PDS plus Anhängsel) weiterentwickelt wurde.