Der heutige Sozialstaat „sei erkämpft gegen den nationalen Kapitalismus. Aber den gibt es nicht mehr.“ So Franz Müntefering auf dem SPD-Sonderparteitag am 21. März 2004. Es gehört zu den gängigen Argumentationsmustern neoliberaler Politik, die ökonomischen und politischen Entscheidungszentren im Nirgendwo der Globalisierung verschwinden zu lassen, um damit jegliche Gegenwehr für sinnlos, da ortlos zu erklären. Dies gilt vor allem für die Entscheidungsprozesse in der Europäischen Union, die aufgrund des komplizierten Zusammenspiels bei der Gesetzgebung von nationalen Regierungen, Europäischer Kommission und in manchen Fällen auch des Europäischen Parlaments als besonders verworren, unübersichtlich und daher kaum beeinflussbar erscheinen. Weitgehende Einigkeit besteht darüber, dass diese Prozesse nicht mehr mit den herkömmlichen Mustern der Analyse nationalstaatlicher Machtentfaltung erklärt werden können. Doch selbst kritische Analysen der europäischen Integration, die Hegemonie auf internationaler Ebene als eine Herrschaftsstruktur bezeichnen, die „wesentlich auf den Konsens der Beherrschten beruht, ohne allerdings Dominanz und Zwang auszuschließen“[1], kommen an der Feststellung nicht vorbei, dass „grundsätzlich davon auszugehen ist, dass die nationale Handlungsarena und demzufolge auch die Apparate und Agenturen des Nationalstaats für die Reproduktion der gesellschaftlichen und globalen Machtstrukturen noch immer zentral sind.“[2]
Der Untersuchung der Mechanismen, wie nationale Macht diese transnationalen Strukturen konstituiert, mit deren Hilfe sie wiederum die Reproduktion ihrer jeweiligen nationalen Gesellschaftsordnungen organisiert, absichert und sich in diesem Prozess selbst verändert bzw. verändert wird, kommt demnach zentrale Bedeutung zu. Im Folgenden soll dies an Hand des vom Europäischen Konvent vorgeschlagenen Verfassungsentwurfs näher beleuchtet werden.[3] Es soll gezeigt werden, wie die EU mittels dieser Verfassung aus einer staatenbündischen Ordnung in eine Hegemonialordnung überführt werden soll, die zukünftig von den großen europäischen Mächten, mit Deutschland im Zentrum, bestimmt wird.[4] Dass dieser Prozess keineswegs widerspruchslos verläuft, zeigte sich bereits beim ersten, gescheiterten Versuch, die Europäische Verfassung auf der Ratstagung im Dezember 2003 durchzusetzen. Der Anlass des Scheiterns, der Streit über die Stimmenzahl von Polen und Spanien bei den Abstimmungen im Europäischen Rat und im Ministerrat, war dabei keinesfalls zufällig. Es handelte sich um nichts anderes als um einen Streit über den zukünftigen Einfluss einzelner Nationalstaaten, und hier vor allem ihrer jeweils herrschenden Klassen, auf die Entscheidungen in der Union. Er berührte damit den Kern der Organisation nationaler Macht in einer transnationalen Machtstruktur.
Eine der wichtigsten Aufgaben des Europäischen Konvents war es, Vorschläge für den institutionellen Aufbau der EU vorzulegen, mit denen die sogenannten „Left-overs“, jene seit dem Vertrag von Amsterdam 1997 ungelöst gebliebene Fragen, geregelt werden sollten. Bei ihnen geht es bekanntlich um die zukünftige Größe der Europäischen Kommission, das Abstimmungsverfahren im Ministerrat und um die Ausweitung der Entscheidungen dort mit qualifizierten Mehrheiten. Ihre Neuregelung wird offiziell für unumgänglich gehalten, um die Union nach ihrer Erweiterung auf 25 Staaten handlungsfähig zu halten. Tatsächlich geht es aber in erster Linie darum, den Einfluss der dominierenden Mitgliedstaaten der Alt-EU auch nach dem Beitritt einer ganzen Reihe kleiner, aber dennoch mit voller Souveränität ausgestatteter Staaten möglichst ungeschmälert zu erhalten. Zumal mit der Osterweiterung einige Länder hinzukommen, die innenpolitisch als instabil gelten müssen und denen man bei Beibehaltung einstimmiger Beschlussverfahren in wichtigen Fragen unberechenbare Blockadehaltungen zutraut.[5]
Eine verkleinerte Europäische Kommission
Im Anschluss an den Beitritt der zehn neuen Staaten wird bei der für November 2004 anstehenden Neuwahl der Kommission die Zahl ihrer Mitglieder auf 25 ansteigen, da nach dem Vertrag von Nizza „der Kommission ein Staatsangehöriger jedes Mitgliedslandes angehört.“ Nach verbreiteter Ansicht behindert eine solch große Zahl von Kommissaren die Arbeitsfähigkeit dieses Gremiums. Einige Staats- und Regierungschefs hatten deshalb im Dezember 2000 auf der Tagung des Europäischen Rats in Nizza versucht, eine Regelung durchzusetzen, nach der die Kommission im Anschluss an die EU-Erweiterung wieder verkleinert werden kann. Dies stieß aber auf den entschiedenen Widerstand der mittleren und kleineren Mitgliedsländer und der in Nizza bereits mit am Tisch sitzenden Beitrittsstaaten. Sie sahen in dem national ausgewählten Kommissar eine unverzichtbare Möglichkeit ihrer Einflussnahme auf die Entscheidungsfindung der Kommission. So erreichten die auf Verkleinerung der Kommission drängenden Länder, unter ihnen in erster Linie Frankreich und Deutschland, lediglich die Verabschiedung einer sogenannten „Rendezvous-Klausel“, was heißt, dass man sich allein darauf verständigen konnte, die Frage später erneut aufzugreifen.
Da aber ungewiss ist, ob sich der Rat künftig wirklich auf eine substanzielle Reduzierung der Zahl der Kommissionsmitglieder und damit auf die Straffung ihrer Arbeit wird einigen können, war es das Ziel des Konvents, dieses Problem jetzt zu lösen. Nach Art. I-25 Abs. 3 des Konventsentwurfs wird die Zahl der Kommissare auf insgesamt 15 begrenzt: „Die Kommission besteht aus einem Kollegium, das sich aus ihrem Präsidenten, dem Außenminister der Union, der Vizepräsident ist, und aus dreizehn Europäischen Kommissaren, die nach einem System der gleichberechtigten Rotation zwischen den Mitgliedstaaten ausgewählt werden, zusammensetzt.“ Um den Staaten, die noch in Nizza hartnäckig an „ihrem Kommissar“ festhielten, diese Reduzierung schmackhaft zu machen, wurde die Funktion des „Kommissars ohne Stimmrecht“ geschaffen, der wenigstens für die gleichzeitige Präsenz aller Mitgliedstaaten am Kommissionstisch sorgen soll.
Kaum beachtet wurde bisher, dass nach dem Konventsentwurf die Stellung des Kommissionspräsidenten erheblich gestärkt wird. Ihm fällt zukünftig nach Art. I-26 Abs. 2 das Recht zu, die übrigen Kommissionsmitglieder zu benennen. Er wählt dazu aus einer Liste von drei Personen aus, die jeder Mitgliedstaat erstellt. Gegenwärtig ist es nach Art. 124 EG-Vertrag noch der Europäische Rat, der im Einvernehmen mit dem Kommissionspräsidenten über die auf Grundlage der Vorschläge der Mitgliedstaaten zusammengestellte Liste der Kommissare mit qualifizierter Mehrheit beschließt. Dabei sind die Vorschläge der EU-Länder in der Regel allein ausschlaggebend. Nach den Vorstellungen des Konvents erhält der Kommissionspräsident künftig auch die Möglichkeit, einzelne Kommissionsmitglieder entlassen zu können. Schließlich bekommt er nach Art. I-26 Abs. 3 eine Kompetenz für Leitlinien, „nach denen die Kommission ihre Arbeit ausführt“.
Eine weitere Konzentration der Macht innerhalb der Kommission würde sich ergeben, wenn der erst nach Abschluss der Arbeit des Konvents von den Regierungschefs Frankreichs, Großbritanniens und Deutschlands vorgelegte Vorschlag Wirklichkeit werden würde, einen Vizepräsidenten der Kommission für die Wirtschaftskoordinierung zu schaffen.[6] Und natürlich soll dieser Vizepräsident aus einem dieser drei Länder kommen, wobei das deutsche Kapital daran denkt, jemand aus seinem Land in dieses Amt zu bringen.[7]
In einer verkleinerten Kommission, deren Mitglieder von ihrem Präsidenten ausgewählt werden, verstehen sich die Kommissare kaum noch als Vertreter ihres Entsendestaates. Mit einer deutlich gestärkten Rolle des Kommissionspräsidenten und schließlich mit dem neu geschaffenen Amt des Außenministers der Union, der zugleich Vizepräsident der Kommission ist, würde dieses Gremium schon sehr dem Bild einer klassischen Regierung ähneln. Vor diesem Hintergrund fällt um so schwerer ins Gewicht, dass der Kommissionspräsident auch zukünftig nicht frei vom Europäischen Parlament gewählt werden kann. Das dazu vom Konvent in Art. I-26 vorgesehene Verfahren sieht in Absatz 1 vor: „Unter Berücksichtigung der Wahlen zum Europäischen Parlament schlägt der Europäische Rat diesem im Anschluss an entsprechende Konsultationen mit qualifizierter Mehrheit einen Kandidaten für das Amt des Präsidenten der Kommission vor. Das Europäische Parlament wählt diesen Kandidaten mit der Mehrheit seiner Mitglieder. Erhält dieser Kandidat nicht die Mehrheit, schlägt der Europäische Rat dem Europäischen Parlament innerhalb eines Monats einen neuen Kandidaten vor, wobei dasselbe Verfahren wie zuvor angewandt wird.“ Die entscheidende Vorauswahl bleibt demnach dem Europäischen Rat vorbehalten.
Die Stärkung des Europäischen Rats
Der Europäische Rat, das Gremium der Staats- und Regierungschefs, das nach Art. I-20 „der Union die für ihre Entwicklung erforderlichen Impulse gibt und ihre allgemeinen politischen Zielvorstellungen und Prioritäten festlegt“, soll ebenfalls gestärkt und seine Arbeit gestrafft werden. Die Schaffung des Amtes eines hauptamtlichen Ratspräsidenten war im Konvent lange Zeit umstritten gewesen. Die kleineren und mittleren Länder sahen in ihm das Symbol eines Direktoriums der großen Mitgliedstaaten. Auch lehnten sie die damit verbundene Abschaffung der halbjährlichen Rotation der Ratspräsidentschaft ab, da dies den Verlust von Möglichkeiten zur Beeinflussung der Arbeit des Rates bedeutet.
Der Streit über die Abstimmungsregelung im Ministerrat und Europäischen Rat
Der Beitritt von nicht weniger als zehn Staaten, denen mit Bulgarien und Rumänien und womöglich der Türkei bald weitere folgen werden, wird die Union grundlegend verändern. Ein Berater des Konventmitglieds Erwin Teufel beschrieb diese Herausforderung wie folgt: „Mit Blick auf die bevorstehende Erweiterung der EU von 15 auf 25 und mehr Mitgliedstaaten war in den neunziger Jahren klar geworden, dass die große gesamteuropäische Union des 21. Jahrhunderts einer neuen verfassungsmäßigen Ordnung bedarf, um handlungsfähig zu bleiben.“ Und unter Handlungsfähigkeit wird dabei immer auch die Wahrung des eigenen, deutschen Interesses verstanden.
Der Europäische Rat legte im Dezember 2000 in Nizza die Regeln für die Abstimmungen im Ministerrat und Rat neu fest. Der Einfluss der bevölkerungsstarken Staaten wurde dabei vergrößert. Frankreich beharrte jedoch darauf, mit 29 der so genannten „gewichteten“ Stimmen gleich viel wie Deutschland zu erhalten. Ebenfalls 29 bekamen Italien und Großbritannien. Polen und Spanien wurden jeweils 27 zugestanden. Nun wurde in jüngster Zeit immer wieder als Skandal herausgestellt, dass Polen und Spanien noch nicht einmal zusammen über so viel Einwohner wie Deutschland verfügen und dennoch jeweils nur zwei Stimmen weniger haben. Übersehen wurde dabei allerdings, dass ihr Abstand bei der Bevölkerungszahl zu Frankreich, Italien und Großbritannien geringer ist als die Differenz der jeweiligen Bevölkerungszahl dieser drei Länder zu Deutschland. Das Ungleichgewicht bei der Stimmenverteilung entstand also dadurch, dass in Nizza vier Ländern die gleiche Stimmenzahl von 29 gegeben wurde, obwohl Deutschland sehr viel größer als die übrigen drei ist.
In Nizza wurde aber auch erstmalig die Berücksichtigung des demografischen Faktors bei Abstimmungen beschlossen. Zukünftig kann ein Beschluss angefochten werden, wenn er nicht mindestens 62 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentiert. Die Bevölkerungsquote kann aber nur angewandt werden, um Beschlüsse zu verhindern, sie vermag nicht, bei Abstimmungen Stimmendefizite auszugleichen. In einer Analyse des Ergebnisses von Nizza heißt es zu den Konsequenzen der Einführung dieses demografischen Faktors: „Spielt man die verschiedenen Staatenkonstellationen durch, zeigt sich, dass die Bevölkerungsquote nur Deutschland als dem größten Mitgliedstaat zusätzliche Blockademöglichkeiten eröffnet. (...) Unter Berufung auf das Bevölkerungserfordernis erreicht Deutschland eine Sperrminorität schon dann, wenn es einen zweiten und einen der kleinen Staaten (außer Luxemburg) auf seiner Seite hat. Ähnlich verhält es sich auch nach Aufnahme der zwölf Kandidatenländer. Deutschland kann dann mit seinem Bevölkerungsanteil Entscheidungen verhindern, wenn es die Unterstützung von zwei der drei nächst größeren Staaten findet. Alle anderen Staaten brauchen hierfür mindestens drei Partner. Letztlich gleicht das demographische Netz also die deutsche Unterrepräsentation bei der Stimmengewichtung wieder aus, jedenfalls im (negativen) Sinne einer Sperrminorität. (...) Die eigentliche und wichtigste Neuerung ist die erleichterte Blockademöglichkeit durch Deutschland mit Hilfe der Bevölkerungsklausel.“[8]
Der Konventsvorschlag sieht nun in Art. I-24 vor, diesen demografischen Faktor zu einer von zwei Bedingungen für das Zustandekommen eines jeden mit qualifizierter Mehrheit gefassten Beschlusses zu machen: „Beschließt der Europäische Rat bzw. der Ministerrat mit qualifizierter Mehrheit, so muss diese der Mehrheit der Mitgliedstaaten entsprechen und mindestens drei Fünftel der Bevölkerung der Union repräsentieren.“ Bei 25 Mitgliedstaaten können demnach bis zu 12 Staaten überstimmt werden. Bei 450 Millionen Unionsbürgern umfasst die überstimmbare Minderheit von 40 Prozent immerhin ca. 180 Millionen EU-Bürger.
Was würde sich bei der Annahme dieses Konventsvorschlags konkret ändern? Nach dem geltenden Vertrag von Nizza sind für eine qualifizierte Mehrheit erforderlich: In der auf 25 Staaten erweiterten EU mindestens 72,3 Prozent der sogenannten gewichteten Stimmen, eine Mehrheit der Mitgliedstaaten und, sollte dies von einem Mitgliedstaat verlangt werden, der Nachweis, dass die hinter dem Beschluss stehende qualifizierte Mehrheit im Ministerrat zumindest 62 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentiert.
Sollte die Bevölkerungszahl, wie es der Konventsentwurf nun vorsieht, als positives Kriterium an die Stelle der gewichteten Stimmen treten, so würden sich die Machtverhältnisse zwischen den Staaten erheblich verschieben. Begünstigt wären davon die vier bevölkerungsstärksten Länder, und hier insbesondere wiederum Deutschland. Da die Länder Frankreich, Großbritannien, Italien und Deutschland gegenwärtig jeweils 29 gewichtete Stimmen haben, beträgt ihr prozentualer Anteil an den 345 Gesamtstimmen nach der Erweiterung nur jeweils 8,4 Prozent. Ganz anders sähe es hingegen aus, wenn die Bevölkerungszahl zu dem entscheidenden Kriterium wird. Dann würde sich allein der Anteil Deutschlands glatt auf 17 Prozent verdoppeln. Die Anteile Frankreichs, Großbritanniens und Italiens würden sich auf immerhin noch jeweils ca. 12 Prozent erhöhen. Da sich aber die von Spanien und Polen nur geringfügig von 7,8 auf 8 Prozent vergrößern, ginge der Einfluss dieser beiden Staaten zurück. Dies ist denn auch der Grund für ihren bislang hartnäckigen Widerstand gegen die vom Konvent vorgeschlagenen Abstimmungsregeln.[9]
Betrachtet man nun die möglichen Rückwirkungen des Konventsvorschlags auf denkbare Konstellationen bei Koalitionsbildungen im Ministerrat und Europäischen Rat, so ist bereits auf einen Blick erkennbar, dass die vier Großen mit zusammen 53 Prozent bereits fast die erforderlichen 60 Prozent erreichen würden. Für das Zustandekommen qualifizierter Mehrheiten bedarf es aber noch der Mehrheit der Mitgliedstaaten als zweites Erfordernis. Hier besitzt jeder Staat nur eine Stimme, egal ob es sich um Malta oder um Deutschland handelt. Da die vier großen Länder aber nur noch wenige Bündnispartner zum Erreichen der 60 Prozent-Schwelle bei der Bevölkerungszahl benötigen, werden sie bei der Suche nach einer Mehrheit der Mitgliedstaaten freier in ihrer Wahl. Nach dem Konventsvorschlag steigt daher auch die Bedeutung der kleinen Staaten, denn sie werden bei der Herstellung der einfachen Mehrheit der Mitgliedstaaten dringend gebraucht. Verlierer wären dagegen die mittelgroßen Staaten, neben Polen und Spanien die Niederlande aber auch Staaten mit jeweils rund zehn Millionen Einwohnern, wie Belgien, Griechenland, Portugal, Ungarn und die Tschechische Republik. Da mit der Einführung des demografischen Faktors ihr Gewicht zurückgeht, sinkt auch ihre Bedeutung als Bündnispartner.
Unterscheidet man bei möglichen Mehrheiten zwischen alten und neuen Mitgliedstaaten, also zwischen der EU-15 und der zukünftigen EU-25, so können die alten Mitgliedsländer nach den Vereinbarungen von Nizza ihre Mehrheit noch gerade so halten. Kommen aber Bulgarien und Rumänien (EU-27) dazu, so würden sie diese verlieren. Würde auch noch die Türkei (EU-28) Mitglied werden, so hätten die gegenwärtigen EU-Länder überhaupt keine Gestaltungsmehrheit mehr. Die neuen Mitglieder würden andererseits die ihnen nach dem Nizza-Vertrag zustehende Sperrminorität nach der Annahme des Verfassungsentwurfs verlieren. Weder in einer EU der 25, noch der 27 oder der 28 würden sie darüber noch verfügen.
Die Abstimmungsregelungen sind für die politischen Auseinandersetzungen in der EU von entscheidender Bedeutung, insbesondere bei der Ausfechtung der anstehenden Verteilungskonflikte. Dies gilt sowohl für die Neuordnung der gemeinsamen Agrarpolitik als auch für die Zukunft der Regional- und Strukturfonds. Verlieren die neuen Mitgliedstaaten ihre Sperrminorität, so wird es für sie sehr viel schwerer werden, etwa bei den Entscheidungen über die Reform der Regional- und Strukturpolitik ihre Interessen zur Geltung zu bringen. Die von Transferleistungen der Union besonders abhängigen Kohäsionsländer (Spanien, Griechenland, Portugal, Irland und bald auch die mittel- osteuropäischen Staaten) verfügen nach der geltenden Nizza-Regelung in der EU der 25 ebenfalls noch über eine Sperrminorität. Sollte aber die vom Konvent vorgeschlagene Regelung Anwendung finden, so würden auch sie sie verlieren. Schon allein deshalb wird wohl Spanien, auch unter der neuen sozialistischen Regierung, kaum der im Konventsentwurf vorgesehenen 60 Prozent-Klausel zustimmen können. Von der gegenwärtigen irischen Ratspräsidentschaft wurden daher bereits mögliche Quoren von 64 bzw. 66 Prozent genannt.
Die Ausweitung der Entscheidungen mit qualifizierten Mehrheiten
Die gegenwärtig vertraglich festgeschriebene Notwendigkeit der Einstimmigkeit im Ministerrat bei vielen Entscheidungen wird als ein besonderes Hemmnis für die zukünftige Handlungsfähigkeit der Union angesehen. Zwar waren bereits bei den vorangegangenen Vertragsrevisionen von Maastricht, Amsterdam und Nizza immer mehr Bereiche hinzugekommen, in denen mit qualifizierten Mehrheiten im Ministerrat abgestimmt wird, der große Durchbruch war jedoch ausgeblieben. Nach dem Konventsentwurf sollen nun Entscheidungen mit qualifizierten Mehrheiten gemäß Art. I-33 in Verbindung mit Art. III-302 zur Norm werden. Die Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit wird daher auch als „ordentliches Gesetzgebungsverfahren“ bezeichnet. Da dabei regelmäßig das Europäische Parlament mit einbezogen ist, wird es auch Mitentscheidungsverfahren genannt. Im Konvent wurde die konkrete Frage, welche einzelnen Entscheidungen zukünftig in diesem Mitentscheidungsverfahren getroffen werden sollen, so gut wie überhaupt nicht angesprochen. Diese Dinge sind im Teil III des Entwurfs geregelt, dessen Entwurf erst kurz vor Ende der Konventsarbeit präsentiert wurde.
Vielfach wird befürchtet, dass zukünftige Vertragsänderungen und damit auch eine weitere Ausweitung des Mitentscheidungsverfahrens angesichts von 25 und mehr EU-Staaten immer schwieriger werden, da jede einzelne Vertragsänderung ja von allen Staaten ratifiziert werden muss. Dies ist immer ein langwieriges und ein zudem ungewisses Verfahren, wie die überraschende Ablehnung des Nizza-Vertrages durch die irische Bevölkerung gezeigt hat. Es bestand deshalb vor allem im Präsidium des Konvents ein großes Interesse daran, eine Regelung zu finden, mit der der Anwendungsbereich des Mitentscheidungsverfahrens ausgeweitet werden kann, ohne gleich ein offizielles Vertragsänderungsverfahren durchführen zu müssen. In Art. I-24 wird mit der sogenannten „Passarelle“ nun ein autonomes Vertragsänderungsverfahren vorgeschlagen. Danach kann der Europäische Rat nach einem Prüfungsverfahren von mindestens sechs Monaten von sich aus einstimmig einen Beschluss erlassen, wonach bisher einstimmig zu treffende Entscheidungen in den Bereich der mit qualifizierter Mehrheit zu treffenden Entscheidungen übertragen werden können. Damit wäre dem Europäischen Rat erstmals die Möglichkeit gegeben, das Entscheidungsverfahren für einzelne Fragen von sich aus in ein anderes Abstimmungsverfahren zu überführen, ohne zuvor den Vertrag ändern zu müssen.
Eine neue Hegemonialordnung wird erkennbar
Direkt nach dem Scheitern des ersten Anlaufs zur Verabschiedung der Europäischen Verfassung im Dezember 2003 wurde von den Regierungen in Berlin und Paris der Eindruck erzeugt, als führe an der Schaffung einer kerneuropäischen Zusammenarbeit einiger weniger Mitgliedstaaten, gruppiert um die deutsch-französische Achse, kein Weg mehr vorbei.[10] Inzwischen ist es um diesen Vorschlag wieder sehr ruhig geworden. Der deutsche Außenminister Fischer, der am Beginn der Verfassungsdiskussion im Mai 2000 noch von der Notwendigkeit eines „Gravitationszentrums“ um Deutschland und Frankreich gesprochen hatte[11], sieht nun in „klein-europäischen Vorstellungen“ nur noch Lösungen, die „die strategische Dimension des Kontinents nicht ausfüllen können.“[12] Und in einem Interview mit der FAZ sagte er auf die Frage, welche Inhalte der Humboldt-Rede er heute anders formulieren würde: „Es ist die Frage, ob eine kerneuropäische Perspektive außerhalb der Verfassung im heutigen Europa noch Bestand haben könnte.“[13]
Und in der Tat, warum sollte auch auf eine kerneuropäische Lösung orientiert werden, wo doch nach dem Verfassungsvertrag die vier großen Staaten zusammen nur noch dicht unterhalb der zur Erreichung qualifizierter Mehrheiten erforderlichen Grenze blieben? Und warum sollten neue, kerneuropäische Entscheidungsgremien mühsam aufgebaut werden, wo doch in einer deutlich verkleinerten Kommission die großen Staaten durch ihr gemeinsames Vorgehen im Rat mit Leichtigkeit die Schlüsselressorts des Kommissionspräsidenten, des europäischen Außenministers und auch eines möglichen Superkommissars für Wirtschaft unter sich verteilen könnten? Schon jetzt treffen sich die Regierungen der großen Länder in verschiedenen Koordinationsrunden mit unterschiedlichen Zusammensetzungen, um die politische Agenda der Ratssitzungen vorzubereiten.[14] Man sieht: Nationale Macht verschwindet keineswegs im Nirgendwo, sondern reorganisiert sich auf transnationaler Ebene.
Verlierer dieser neuen Hegemonialordnung in der EU werden die mittleren und kleinen Mitgliedstaaten sein. Es ist daher zu erwarten, dass der stärkste Widerstand gegen den Verfassungsvertrag von den kritischen Öffentlichkeiten dieser Länder kommen wird. Vor allem in Skandinavien, insbesondere in Dänemark und Schweden, gibt es ein waches Bewusstsein über den engen Zusammenhang zwischen der Abgabe von Souveränitätsrechten an die EU und dem Abbau des Wohlfahrtsstaates
Wie man aber zukünftig mit Störenfrieden, insbesondere aus den osteuropäischen Staaten, zu sprechen gedenkt, demonstrierte schon einmal der Leiter des Centrums für angewandte Politikforschung (CAP), Werner Weidenfeld, in seiner Wut über das Scheitern des EU-Gipfels im Dezember 2003: „Polen wird sehr schnell spüren, was es bedeutet, alleine den historischen Kurs Europas aufhalten zu wollen. Von der Finanzplanung bis zur Strukturpolitik wird der polnischen Regierung ein eisiger Wind ins Gesicht wehen ‑ was naturgemäß die Verhandlungsbereitschaft wachsen lässt und die innenpolitische Bereitschaft zum Kompromiss fördert.“[15]
Es ist zu erwarten, dass dieser Ton nicht unbeantwortet bleiben wird. Vor allem in den Beitrittsstaaten wird er auf empfindliche Ohren treffen. In Malta und Zypern ist die Erinnerung an die eigene Vergangenheit als Kolonie noch sehr lebendig. Und bei Slowenien, der Slowakei und den drei baltischen Staaten handelt es sich um Länder, die erst Anfang der neunziger Jahre ihre staatliche Souveränität überhaupt begründen bzw. neu erringen konnten. Aber auch die früheren Mitgliedsländer der Warschauer Vertragsorganisation werden sich an die erst kürzlich vergangene Zeit der „eingeschränkten Souveränität“ erinnert fühlen.
Hier zeichnen sich neue Reibungsflächen oder gar Bruchlinien einer erweiterten EU ab, da in einer wachsenden Zahl von Staaten die Bereitschaft zur Hinnahme weiterer weitreichender Souveränitätsverzichte abnimmt.[16] Mit dem Verfassungsvertrag werden nun aber gerade jene Bestimmungen für eine neue europäische Ordnung festgelegt, mit denen der Kern über die Peripherie der EU seine Hegemonie entwickeln kann. Von der Entscheidung über diese Verfassung wird daher der gesamte weitere Weg der Europäischen Union abhängen.
[1] Robert W. Cox, Soziale Kräfte, Staaten und Weltordnungen: Jenseits der Theorie internationaler Beziehungen; in: ders., Weltordnung und Hegemonie in der Internationalen Politischen Ökonomie, FEG-Studie Nr.11, Marburg 1998, S. 26-28.
[2] Hans-Jürgen Bieling, Die neue europäische Ökonomie: Transnationale Machtstrukturen und Regulationsformen, in: Martin Beckmann, Hans-Jürgen Bieling, Frank Deppe (Hrsg.), Eurokapitalismus und globale politische Ökonomie, Hamburg 2003, S. 45.
[3] Der vom Konvent am 18. Juli 2003 vorgelegte „Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa“ wird entsprechend seinen Teilen mit römischen Ziffern wiedergegeben.
[4] Vgl. Andreas Wehr, Europa ohne Demokratie? Die europäische Verfassungsdebatte – Bilanz, Kritik und Alternativen, Köln 2004, hier insbesondere S.39-81.
[5] Einen Vorgeschmack darauf erhielt die europäische Öffentlichkeit bereits mit dem von einigen polnischen Politikern formulierten Kampfruf „Nizza oder Tod“, mit dem sie in der Auseinandersetzung um den Verfassungsentwurf ihren unbeugsamen Willen unterstrichen, an der auf dem Gipfel von Nizza gefundenen Stimmenverteilung im Europäischen Rat und im Ministerrat festzuhalten, die Spanien und Polen privilegiert.
[6] Über einen solchen „Superkommissar“ heißt es in der FAZ: „Die europäischen Regierungschefs sollten aus ihrem Kreis sowie in Übereinstimmung mit dem Europaparlament eine Art Broker ernennen, fordern einige hinter verschlossenen Türen. Dieser sollte sich mit einem qualifizierten Mitarbeiterstab und möglichst ungebremst von institutionellen Verflechtungen den größten Problemen widmen und Lösungsvorschläge unterbreiten.“ FAZ vom 9.3.2004 „Ein Broker für Brüssel“.
[7] „Auch bei der Besetzung des voraussichtlichen Vizepräsidenten der EU-Kommission für die Wirtschaftskoordinierung zum 1. November könnte Frankreich der Bundesregierung den Rang ablaufen, warnen deutsche Wirtschaftsfachleute.“ FAZ vom 16.3.2004 „Berlin will EU-Gesetzgebung schneller übertragen“.
[8] Thomas Widmann, Der Vertrag von Nizza – Genesis einer Reform, in: Europarecht, Heft 2, 2001, S.206.
[9] „Gewinner des Konvents-Modells wäre Deutschland. Denn hier würde der Tatsache Rechnung getragen, dass die deutsche Bevölkerung mit Abstand die größte in der EU ist. Im Nizza-Vertrag hat Deutschland noch genauso viele Stimmen wie die anderen drei großen Mitgliedsländer“, FAZ vom 2.2.2004 „Die Macht der Prozente“. Vgl. auch Andreas Wehr, Kommt jetzt die große Krise? in: Marxistische Blätter, H.1/2004.
[10] Vgl. etwa den Artikel in der Frankfurter Rundschau vom 15.12.2003 unter der Schlagzeile „Kerneuropa rückt näher“. Die Überschrift im Handelsblatt vom 16.12.03 lautete gar „Romano Prodi segnet Kerneuropa ab“.
[11] Vgl. Rede des Bundesaußenministers Fischer am 12.5.2000 in der Berliner Humboldt-Universität „Vom Staatenbund zur Föderation – Gedanken zur Finalität der europäischen Integration“.
[12] Jan Ross, Mehr Welt, weniger Nabel – Kerneuropa ist tot, meint Joschka Fischer. Es lebe das strategische Europa, in: Die Zeit vom 4.3.2004.
[13] FAZ vom 6.3.2004 „Die Rekonstruktion des Westens“.
[14] Eine solche fest etablierte informelle Runde existiert bereits unter den EU-Innenministern Deutschlands, Frankreichs, Italiens, Großbritanniens und Spaniens. Dieser Kreis trifft sich etwa zweimal im Jahr und spricht die wichtigsten Vorhaben im Bereich der EU-Innenpolitik ab. Die Verteidigungsminister Belgiens, Deutschlands, Frankreichs und Luxemburgs wiederum verabredeten auf dem sogenannten Brüsseler „Pralinengipfel“ im April 2003 eine enge militärische Zusammenarbeit. Nach der erfolgten Klarstellung, dass es bei dieser Koordination nicht um eine Konkurrenz zur NATO gehe, zeigt nun auch Großbritannien Interesse daran. Und schließlich könnte aus dem Treffen der Regierungschefs Deutschlands, Großbritanniens und Frankreichs von Anfang März 2004 jenes „Direktorium“ der EU entstehen, vor dem etwa die italienische Regierung bereits warnte.
[15] Vgl. Süddeutsche Zeitung vom 18.12.2003 „Europas historische Chance“. Das CAP wird gemeinsam von der Münchener Maximilians-Universität und der Bertelsmann-Stiftung getragen. Es hat als Think Tank durch Veranstaltungen und Schriften, etwa durch die Herausgabe des Info-Dienstes „Spotlight“, die Konventsarbeit ständig begleitet und zu beeinflussen versucht. Mitarbeiter im Konzern Bertelsmann ist auch der einflussreiche CDU-Europaabgeordnete Elmar Brok. Er ist Vorsitzender des Ausschusses für Außen- und Sicherheitspolitik des Europäischen Parlaments und war Konventsmitglied. Als einer von zwei Parlamentsvertretern war er bereits an den Vorarbeiten der 1997 in Amsterdam und 2000 in Nizza ausgehandelten Verträge beteiligt. Auch der Regierungskonferenz, die den Konventsentwurf im Herbst 2003 überarbeitete, gehörte er als einer von zwei Berichterstattern des Europäischen Parlaments an.
[16] Bereits die überraschende Ablehnung des Vertrags von Nizza in einer Volksabstimmung in Irland wird auf die besondere Sensibilität der irischen Bevölkerung im Hinblick auf drohende Souveränitätseinbußen zurückgeführt. Das Nein erinnerte daran, dass es sich bei Irland um den jüngsten Staat der Alt-EU handelt, der erst nach langen und blutigen Kämpfen in den zwanziger Jahren seine Unabhängigkeit errang.