Editorial

Dezember 2005

Das Ergebnis der Bundestagswahl vom 18. September hat die politische Landschaft der Bundesrepublik deutlich verändert: Abwahl der für Agenda 2010 und Hartz IV verantwortlichen SPD und Grünen, keine Mehrheit für die auf eine Verschärfung des neoliberalen Kurses drängende CDU-FDP-Koalition und Einzug der Linkspartei mit 54 Abgeordneten in den Bundestag. Das Wahlergebnis der Linkspartei hat den Durchmarsch einer schwarz-gelben Mehrheit blockiert und damit bereits Spuren hinterlassen. Das Ergebnis signalisiert, dass mit einem offenen Plädoyer für Fortsetzung und Verschärfung der Sozialstaatsdemontage und sozialen Polarisierung keine Wahl gewonnen werden kann. Aber zugleich haben die de facto diesen Kurs in und außerhalb der großen Koalition vertretenden Parteien im Bundestag die absolute Mehrheit. Hier liegt der Widerspruch, den die außerparlamentarische und parlamentarische Opposition jetzt thematisieren und zur Wirkung bringen muss, wenn der großen Koalition Schranken gesetzt und die Neuformierung der Linken vorangetrieben werden sollen. Arno Klönne und Ekkehard Lieberam kommentieren in ihren Beiträgen die mit der Großen Koalition und dem Auftreten der Linkspartei entstandene Lage unter der Fragestellung, wie die Linke gesellschaftlichen Einfluss gewinnen kann. Sie sind sich einig, dass dies entscheidend von den sozialen Bewegungen abhängen wird. Aus autonomer Sicht kommentiert Bernd Hüttner die kulturellen und sozialen Differenzen in der Linken.

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Der Schwerpunkt des vorliegenden Heftes behandelt ein in Z lange vernachlässigtes Thema: Rüstung und Kapitalismus. Lühr Henken gibt eine detaillierte Übersicht zur Umstrukturierung der Bundeswehr. Sie ordnet sich ein in die Neubestimmung der NATO-Strategie nach 1991, d.h. nach dem Zusammenbruch der Militärmacht des Warschauer Vertrags. Nicht mehr der „Fall Rot“, sondern die globale Bekämpfung von „Risiken und Instabilitäten“ außerhalb des Bündnisgebietes durch „Sofort- und Schnellreaktionskräfte“ wurden als militärisches Einsatzgebiet der Zukunft definiert: Einstellung auf die postsozialistische Globalkonstellation. Die Ebene der Rüstungsproduktion und -exporte, das europäische und bundesdeutsche Waffengeschäft, behandelt Martin Hantke im Bericht über ein Hearing der Linksfraktion im Europa-Parlament. Die EU ist heute größter Rüstungsexporteur; die staatlich-monopolistischen Strukturen zur Planung, Abstimmung und Abwicklung der Rüstungsproduktion und -geschäfte sind den neuen Bedingungen angepasst worden („Europäische Verteidigungsagentur“). Jörg Miehe steuert Überlegungen zu Krieg, Militär und Kapitalinteressen bei, in denen die Frage nach den objektiven Interessen gestellt wird, die hinter der auf weltweite Einsätze ausgerichteten Umrüstung der Bundeswehr zu suchen sind. Sind sie als direkte und eigenständige Reaktion auf Kapital-Interessen an der Sicherung von Auslandsinvestitionen, Rohstoffquellen oder Transportrouten zu interpretieren, wie dies für die klassische imperialistische Hochrüstung anzunehmen war, oder geht es unter den Bedingungen der heutigen globalen Verflechtung und der militärischen US-Dominanz primär um die Platzbehauptung im imperialistischen Bündnis?

Die Binnen-Analysen des bundesdeutschen Kapitalismus beginnen mit einer besonders hinsichtlich der sozialstrukturellen Auswirkungen der staatlich-politischen Umverteilungspolitik aufschlussreichen Auswertung des Armuts- und Reichtumsberichts für Nordrhein-Westfalen von Daniel Kreutz. Otto Weiss und Herbert Kreibich untersuchen „Brennpunkte im Gesundheitswesen“: Defizite in der ärztlichen Versorgung, öffentliche Sparpolitik, Privatisierung von Kliniken. Zwei Beiträge behandeln Betriebs- und Gewerkschaftsprobleme: Der BR-Vorsitzende von VW-Baunatal, Jürgen Stumpf, berichtet über Auseinandersetzungen im VW-Konzern, den massiven Druck, mit dem Belegschaftsrechte sukzessive eingeschränkt werden sollen und neue Wege der betrieblichen Mobilisierung der Beschäftigten. Die erste wissenschaftliche Untersuchung über rechtsextreme Orientierungen von Gewerkschaftern diskutieren Julika Bürgin und Michael Ebenau. Sie gehen u.a. der Frage nach, welche Defizite in der gewerkschaftlichen Politik vorliegen mögen, wenn, wie die Studie zeigt, rechtsextreme Einstellungen bei Gewerkschaftsmitgliedern kaum weniger verbreitet sind als bei Nichtmitgliedern.

Im Mai nächsten Jahres wäre Wolfgang Abendroth hundert Jahre alt geworden. Für die marxistische Linke wird dies Anlass für vielfältige Würdigungen sein. Andreas Diers zeigt in seinem Beitrag, wie Abendroth in seiner Rechts- und Politiktheorie Klassenkampf und Klassenverhältnisse reflektiert. Klassenverhältnisse und internationaler Klassenkampf sind auch der Gegenstand einer Studie von Beverly Silver über die globale Arbeiterbewegung, die Ingar Solty vorstellt. Silver untersucht die globale „Wanderung“ von Zentren der Arbeiterbewegung in Raum und Zeit, die sie mit der Kapitalwanderung in Zusammenhang sieht. Absteigenden stehen aufsteigende Zentren gegenüber, heute ihrer Erwartung nach insbesondere in den neuen peripheren kapitalistischen Ländern. Solty stellt Stärken, aber auch Kritikpunkte an dieser anregenden Studie heraus. Zu den rasant aufsteigenden Zentren gehört China. Florian Flörsheimer versucht mit einem kritischen Überblick zu neueren China-Veröffentlichungen mehr Klarheit über die Perspektiven des gegenwärtigen chinesischen Reformprozesses zu gewinnen. Wir setzen die Debatte um den Umgang mit der Postmoderne mit einem Diskussionsbeitrag von Edgar Radewald fort. Themen der aktuellen linken Diskussion spiegeln sich in den diversen Konferenzberichten und Buchbesprechungen.

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Die Linke ist in Bewegung gekommen. Die Redaktion wünscht allen LeserInnen ein auch in dieser Hinsicht erfolgreiches neues Jahr. Themen, die 2006 in Z eine Rolle spielen sollen, betreffen u.a. Klassentheorie (März-Heft, mit Beiträgen von einer Tagung in Köln, über die in diesem Heft berichtet wird), Konflikte und Bewegungen im prekären Sektor, Kapitalismus in Ländern der „Peripherie“, und die alle bewegende Frage: Kommt ein neuer Zyklus sozialer Kämpfe in Gang?