Das Ergebnis der Bundestagswahlen, so äußerte sich erfreut der Vorsitzende der IG Metall, sei eine „Mehrheit links von der Mitte“. Jürgen Peters hatte dabei die Parlamentssitze im Auge, die SPD, Grüne und Linkspartei für sich gewinnen konnten. Sicherlich wird er nicht mit dem Gedanken gespielt haben, diese drei Parteien könnten gemeinsam Gerhard Schröder in seinem Amt halten. Ein solches Koalitions- und Duldungsmodell hätte jetzt nicht in die politische Landschaft gepasst. Aber vielleicht ist Rot-Rot-Grün demnächst einmal eine Chance? Es gibt Politiker in der Linkspartei, die dies für möglich halten, weil sie annehmen, unter linkem Konkurrenzdruck werde die SPD auf längere Sicht wieder zu sozialdemokratischen Tugenden zurückkehren. Am fernen Horizont also ein neues „Rot-Grünes Projekt“, um ein kräftigeres Rot erweitert? Und die Linkspartei damit endlich von dem Vorwurf entlastet, sie wolle oder könne nur Opposition machen, obwohl es doch in einer Demokratie auf das „Mitgestalten“ ankomme? Angesichts solcher Szenarien ist es nützlich, die Vorstellung von einer – wenn auch zur Zeit nur potenziellen – „linken Mehrheit“ zu überprüfen. Worum handelt es sich, historisch-empirisch betrachtet, bei den drei Parteien? Und in welchem Handlungsfeld bewegen sie sich?
Ein Blick zurück: Das „Rot-Grüne Projekt“
Als 1998 die lange Zeit der Kohl’schen Kanzlerschaft zu Ende war, löste dies Erleichterung aus nicht nur bei treuen Anhängern der SPD und der Grünen. Die Politik in der Bundesrepublik, so die weit verbreitete Hoffnung, werde sich aus einer weithin beklagten Erstarrung lösen, ohne ins sozial Riskante abzudriften. Den Aufbruch in eine „zweite Moderne“, wirtschaftliche und wissenschaftliche Innovation, mit ökologischer Ausrichtung und bei Wahrung sozialer Gerechtigkeit – das versprach die neue, rot-grüne Bundesregierung.
Es schien so, als könne dabei die traditionell enge Bindung der SPD an die Gewerkschaften dafür garantieren, dass die Interessen der Arbeitnehmerbevölkerung nicht vernachlässigt würden; die Grünen, so wurde erhofft, würden dafür sorgen, dass in den Themenfeldern Bürgerfreiheit, Zuwanderungspolitik und nachhaltiger Umgang mit Ressourcen neue Akzente gesetzt werden könnten. Für einen Moment lag der Eindruck nahe, das „rot-grüne Projekt“ werde die Unionsparteien und die FDP über Jahre hin in die Rolle der Opposition abdrängen.
Unerwartet rasch stellt sich dies als Irrtum heraus. Schon bald ließ bei Wahlen in den Bundesländern und Kommunen der „Genosse Trend“ die Sozialdemokraten im Stich, fast durchweg gingen ihnen in großem Umfange WählerInnen verloren, und zumeist sank auch die Wahlbeteiligung ab. Die Grünen, soweit sie sich in den Wahlergebnissen behaupten oder leicht verbessern konnten, waren nicht attraktiv genug, um die Verluste ihres Koalitionspartners zu kompensieren. Zwar kam bei den Bundestagswahlen 2002 Rot-Grün noch einmal mit einem blauen Auge davon und erneut zur Regierungsmacht, aber dieser Erfolg war sehr knapp und eher „zufälligen“ Faktoren zuzurechnen; keinesfalls lag darin ein überzeugender Vertrauensbeweis einer Bevölkerungsmehrheit für ein rot-grünes Programm gesellschaftspolitischer Gestaltung. Bei den dann folgenden Wahlen in Ländern und Kommunen setzte sich der Abwärtstrend der SPD fort, und die Unionsparteien konnten ihre Vetomacht im Bundestag festigen.
Aber gab es das überhaupt – ein rot-grünes Programm? Eines, das mehr bedeutet hätte als Wortgeklingel vor Wahlen?
Die wichtigsten gesellschaftspolitischen Weichenstellungen jedenfalls, die in der rot-grünen Regierungszeit vollzogen wurden, waren nicht in der rot-grünen Wahlwerbung vorangekündigt, und die meisten rot-grünen WählerInnen hatten mit ihnen nicht gerechnet; das betrifft vor allem die Agenda 2010 mitsamt den Hartz-Gesetzen und die enormen Steuergeschenke an die großen Kapitalgesellschaften.
Es waren gerade diese beiden Strukturentscheidungen, die auf Seiten der Sozialdemokratie zu einem Desaster führten, das aller Wahrscheinlichkeit nach langfristige Folgen hinterlassen wird: Die SPD verlor nicht nur WählerInnen, sondern auch Mitglieder in einer seit 1945 bzw. 1949 einmaligen Größenordnung; die herkömmliche Verschränkung zwischen der SPD und dem gewerkschaftlichen Milieu lockerte sich; zum ersten Mal seit den 1950er Jahren hat inzwischen die SPD links neben sich eine ernsthafte parteipolitische Konkurrenz.
Gewiss war die Vorgehensweise, mit der Gerhard Schröder seine Amtszeit und die Legislaturperiode des Bundestages vorzeitig beendete, nicht gerade seriös; er selbst sprach seiner Fraktion und seiner Partei das Misstrauen aus. Aber plausibel war, dass der rot-grünen Regierung die gesellschaftliche Basis für eine „Projekt“ mit strukturgestaltendem Anspruch abhanden gekommen war.
Das alles bedeutet nun nicht, die sieben Jahre rot-grüner Regierungspolitik hätten im gesellschaftspolitischen Profil der Bundesrepublik keine Spuren hinterlassen. Es waren durchaus intensive Wirkungen mit der Tätigkeit des ersten und des zweiten Kabinetts Schröder verbunden; man wird sie als „Türöffnereffekte“ kennzeichnen können. Um die besonders bemerkenswerten regierungspolitischen Entscheidungen in Erinnerung zu bringen:
Mit der „Riester“-Rente wurde der erste Schritt getan, um von dem kollektiven, über paritätische Beiträge und den Generationenvertrag geregelten System der Altersversorgung wegzukommen – hin zur kommerziell organisierten Rente. Hier eröffnet sich auf längere Sicht ein riesiges neues Geschäftsfeld für Kapitalfonds. Auch die Krankenversicherung wurde unter Druck gesetzt, sich für private Zusatzversicherungen weiter zu öffnen. Insgesamt ist damit ein Sog zugunsten kapitalistisch geformter Absicherungen gegen materielle Risiken entstanden. Das Solidarprinzip und der Grundsatz des sozialen Ausgleichs verlieren so an Überzeugungskraft.
Die Neuregelungen bei Arbeitslosigkeit führen dahin, dass die Gesellschaft sich an zunehmende Armut gewöhnt; zugleich wird die Tendenz hin zu einem größeren Sektor von Niedrigentlohnung gestärkt, zu Arbeitsverhältnissen, die nicht mehr existenzsichernd sind. Das kollektive, die Einzelbetriebe übergreifende Tarifvertragssystem gerät in Auflösung; es war Gerhard Schröder, der in seiner Regierungserklärung 2003 ankündigte, gegebenenfalls müsse der Vorrang der einzelbetrieblichen Vereinbarung auf gesetzlichem Wege durchgesetzt, also das Tarifrecht gewerkschaftlicher Prägung aufgebrochen werden. Steuerpolitisch ist unter Rot-Grün ein regelrechter Durchbruch zum Zwecke der Entlastung der großen Kapitalgesellschaften erfolgt, eine Umverteilung von unten nach oben in spektakulären Dimensionen.
Was bisher öffentliche Güter, öffentliches Eigentum und öffentliche Dienstleistungen angeht, so hat Rot-Grün auf vielfältige Weise „Privatisierung“ betrieben, also die Umformung zugunsten unternehmerischer, auf Kapitalverwertung ausgerichteter Strukturen. Rot-Grüne Sozial-, Wirtschafts- und Steuerpolitik ist durchweg einer bestimmten Logik gefolgt: In Zeiten verschärfter internationaler Konkurrenz müsse am Standort Deutschland das Kapital in gute Laune versetzt werden, damit es investitionswillig bleibe oder werde, und deshalb heiße die Devise: Sozialkosten runter, Löhne runter, Kapitalsteuern runter – damit die Gewinnmargen steigen.
Die Verheißungen, die mit dieser Politik unters Volk gebracht wurden, haben sich allerdings nicht eingelöst. Das von Gerhard Schröder versprochene Arbeitsmarktwunder ist ausgeblieben. Die Logik, der die rot-grüne Politik sich angeschlossen hatte, erwies sich als realitätsfremd; vor allem hatte sie völlig vernachlässigt, dass auch beim Exportweltmeisterland Bundesrepublik wirtschaftliches Gedeihen und Beschäftigungsvolumen zu weiten Teilen vom Binnenmarkt abhängig sind und der wiederum auf Massennachfrage der eigenen Bevölkerung angewiesen ist.
Ganz erstaunlich ist, dass hierzulande – anders als selbst in den USA – die neoliberale Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik im öffentlichen Diskurs über lange Zeit hin kaum Widerspruch gefunden hat. Zu erklären ist das wohl vornehmlich durch den historischen Umstand, dass SPD und Grüne regierten; wenn „arbeitnehmerorientierte“ und „linke“ politische Kräfte dem Neoliberalismus legislative und exekutive Dienste leisten, dann – so wurde weithin geglaubt – handele es sich tatsächlich um einen Sachzwang, dem man nicht opponieren dürfe.
Informell war eine rot-grüne Koalition mit den Unionsparteien schon seit etlichen Jahren tätig. Die Hartz-Gesetze beispielsweise waren deren Gemeinschaftswerk, und bei der Misstrauensdebatte im Bundestag hat Angela Merkel ausdrücklich bestätigt, dass die Unionsparteien den Kurs, der mit der Agenda 2010 eingeschlagen wurde, für richtig hielten; insofern seien sie Gerhard Schröder dankbar.
Fazit: In der regierungspolitischen Praxis ist ein „rot-grünes Projekt“ nicht zu erkennen gewesen, auch als konfliktfähiger Entwurf im Diskurs über die soziale Zukunft der Bundesrepublik hat es nicht existiert. Rot-Grün war Teil eines Parteienkartells, in dem es Machtgefälle, Unterschiede im Detail und verteilte Rollen gab – im Rahmen der gemeinsamen Anerkennung neoliberaler Prämissen. Bei deren Umsetzung zur Seite der Arbeitnehmerbevölkerung und der Gewerkschaften hin Flankenschutz zu leisten, war Aufgabe vornehmlich der SPD.
Bei denjenigen, die in Sachen Gesellschaftspolitik die rot-grüne Regierungszeit negativ bilanzieren, ist zum Teil die Meinung zu finden, immerhin habe sich doch die Schröder-Fischer-Regierung von den Unionsparteien und der FDP eindeutig dadurch unterschieden, dass umwelt- oder energiepolitisch und friedenspolitisch ein alternativer Kurs gesteuert worden sei. Aber auch diese Einschätzung ist nicht haltbar. Der Einstieg in den Ausstieg aus der Atomwirtschaft stand und steht unter Vorbehalt und war nicht verbunden mit einem neuen energiewirtschaftlichen Konzept; unter Rot-Grün ist die Macht der Energiekonzerne weiter angewachsen. Die Weigerung, sich am Krieg gegen den Irak zu beteiligen, entsprang nicht dem Willen, gegen eine globale militärische Interventionspolitik anzugehen, vielmehr verabschiedete sich die Bundesrepublik von ihrer grundgesetzlichen Einschränkung der Militärpolitik auf die Defensivfunktion und führte durch die Teilnahme am Krieg gegen Jugoslawien vor, was die von Gerhard Schröder proklamierte, „Enttabuisierung des Militärischen“ praktisch bedeutet. Auch in dieser Hinsicht existierte in den Grundauffassungen eine informelle Große Koalition, die sich nicht auf SPD und CDU/CSU beschränkte, sondern – ganz groß – Grüne und FDP mit einschloss. SPD und Grüne übernahmen dabei speziell die Rolle, kriegerische Zugriffe „menschenrechtlich“ zu rechtfertigen.
Wenn heute spekuliert wird, dass eine Bundesregierungskoalition von SPD und CDU/CSU vielleicht nur ein Zwischenspiel sei, dem dann Rot-Rot-Grün folgen könnte, ist zu fragen: An welches Erbe aus der rot-grünen Regierungszeit sollte denn eine solche „neue linke Mehrheit“ anknüpfen?
Die rot-grüne Bundesregierung hat, wenn man es dramatisch ausdrücken will, eine ganz bestimmte historische Mission erfüllt: Sie hat bei der Demontage der Sozialstaatlichkeit den sozialen Protest gedämpft und die Gewerkschaften zahm gehalten (eine Leistung vornehmlich der SPD); sie hat der ökologischen Bewegung den Biss genommen (eine Leistung der Grünen) und sie hat kriegsgegnerische Stimmungen auf einen „Menschenrechtsinterventionismus“ umgebogen oder abgelenkt in den Zorn nur auf die US-Politik (eine Gemeinschaftsleistung von SPD und Grünen).
Der Partnerwechsel einer Partei neuen Typs
Mit der einsamen (oder, wenn man Franz Müntefering als am Coup Beteiligten ansieht, zweisamen) Entscheidung Schröders, vorzeitige Bundestagswahlen zu erzwingen, war die rot-grüne Koalition aufgekündigt, zur Verblüffung der Grünen. Schröder ging es nicht um eine erneute Wahlmehrheit für Rot-Grün, sondern um den Wechsel zur Koalition mit der CDU/CSU, allerdings so, dass die SPD einen Vorsprung vor den Unionsparteien erreichen und auf diese Weise die Kanzlerschaft ihm zufallen sollte. Schon 1998 wäre ihm die Große Koalition lieber gewesen als die Liaison mit den Grünen.
Um nun die eigene Partei in der Gunst der WählerInnen wieder nach oben zu ziehen, inszenierte er einen „Richtungs“-Wahlkampf: Die SPD als „Interessenvertretung der Masse der kleinen Leute“, als „Partei mit sozialem Herz“ gegen die „Merkelschen Marktradikalisten“, gegen die „Partei der sozialen Kälte“. Selbst von einer „Reichensteuer“ war die Rede. Der Noch-Kanzler trat auf als Anführer einer emotional aufgeladenen Opposition gegen die eigene Agenda-Politik. Dieser dreiste Bluff blieb nicht ohne Erfolg, aber dessen Ausmaß reichte nicht hin, um den Anspruch aufs Kanzleramt zu halten. Die Große Koalition wurde realisierbar, nur eben mit der christdemokratischen Rivalin in der Spitzenfunktion.
Die Grünen waren damit in die Opposition entlassen, aber so auch freigesetzt, in längerfristiger Perspektive, für die Hinwendung zur CDU/CSU. Darin liegt kein Bruch mit der bisherigen Linie der grünen Partei. Schon längst bestehen zahlreiche kommunale Koalitionen zwischen den Grünen und der Union, wirtschaftspolitisch dominiert bei den Grünen die Sympathie für Deregulierung, und sozialpolitisch müssen sie – anders als die SPD – auf gewerkschaftliche Wünsche kaum Rücksicht nehmen, nicht einmal symbolisch. Die WählerInnenschaft der Grünen ist überwiegend materiell gut situiert, von der Absenkung sozialer Leistungen nicht selbst betroffen. Die kulturelle Prägung der Grünen, ihre positive Bezugnahme auf „1968“, stellt für die professionellen Unions-PolitikerInnen kein Ärgernis mehr dar, der grüne Pazifismus ist Schnee von gestern. Das alles schließt nicht aus, dass die Grünen sich, wenn die Situation dies gerade nahe legt, als „moderne Linke“ definieren, aber damit haben CDU und CSU kein Problem. Und atomwirtschaftlich würde sich ein Kompromiss finden lassen – jedenfalls dann, wenn die Energiekonzerne ihn für akzeptabel halten. Innerparteiliche Kritiker des Anpassungskurses der Grünen, an der Basis minoritär noch vorhanden, werden vermutlich nach und nach das Feld räumen, der grüne Parteiapparat hat einen Aufstand im eigenen Terrain nicht zu befürchten, und auch eine grüne Annäherung an die Union wird bei den Workshops der Heinrich-Böll-Stiftung ihre intellektuelle Weihe erhalten.
Interessanter ist also, wenn über eine „Mehrheit links von der Mitte“ nachgedacht werden soll, die Sozialdemokratie. Die SPD ist – ähnlich wie die CDU/CSU – in der Mechanik des deutschen Parteiensystems darauf angewiesen, ihr Gewicht als „Volkspartei“ zu halten. Sie muss also – und auch das gilt gleichermaßen für die Unionsparteien – darum bemüht sein, weiterhin möglichst viele Wählerinnen und Wähler aus den sozialen Schichten einzufangen, die unter der Umgestaltung der Bundesrepublik zum Wettbewerbsstaat und den damit verbundenen sozialen Grausamkeiten zu leiden haben. Wie bringt man Opfer parteipolitischen Handelns, bereits vorhandene und potenzielle, zur Stimmabgabe für die Parteien, die Täter waren und sind – diese Frage hatten SPD und CDU/CSU beim jüngsten Bundestagswahlkampf zu lösen. Die Union versuchte es so, dass sie ihre Unterstützung der Agenda-Politik vertuschte und im Falle eigener Regierungsgewalt „Vorfahrt für Arbeit“ versprach. Aber sie verquickte dies mit allerlei marktradikalen Ankündigungen, zudem mit einer Festlegung auf die FDP als Koalitionspartner. Der Erfolg blieb aus. Einerseits gingen WählerInnen zum neoliberalen Musterknaben über, also zur FDP; andererseits brach in der Arbeitnehmerbevölkerung das Vertrauen in die Union weg. Die SPD hingegen hatte, indem sie sich als Alternative zum Marktradikalismus darstellte, einigen Erfolg; damit war der Weg in die Große Koalition geebnet.
Bemerkenswerterweise haben in der SPD die doch recht heftigen Strategiewechsel, die bei alledem vollzogen wurden, keine inhaltliche Debatte ausgelöst. Ganz lapidar ist festzustellen: Innerparteiliche Demokratie findet in der SPD nicht mehr statt – es sei denn, man wollte darunter Personengerangel verstehen. Aus dem „rot-grünen Projekt“ löste sich die SPD, als sei nicht einmal die Rede davon gewesen; die wahlkampfbedingte kurzzeitige Umwandlung in eine Art Protestbewegung gegen die Marktwirtschaft vollzog die Partei ebenso unbedenklich wie die anschließende Rückverwandlung in eine „Reformkraft“ zum Zwecke der weiteren Durchsetzung der Agenda 2010. Und der Schritt hin zur Großen Koalition wurde in der Partei nicht gesellschaftspolitisch diskutiert, sondern lediglich unter dem Aspekt der personellen Repräsentation und der Ämterverteilung in der Regierung.
Dass hier eine Partei neuen Typs in Erscheinung trat, hat seine Vorgeschichte: Nach dem Rücktritt Oskar Lafontaines hatte der SPD-Parteitag ohne lästige Fragerei zur Kenntnis genommen, dass Gerhard Schröder als Kanzler nebenbei auch der Partei vorsitzen werde. Die Agenda 2010 mitsamt den Hartz-Gesetzen wurde der Partei auferlegt, ohne lange Debatte und obwohl sie im Widerspruch stand zu vorhergehenden Programm- und Wahlaussagen der SPD. Kritiker gerieten schnell ins Abseits, den es galt ja die Kanzlerschaft abzusichern, da hätte Bedenkenträgerei störend gewirkt. Die konzeptionelle Vorbereitung der Agenda-Politik geschah in vom Kanzler einberufenen Kommissionen; deren Ideen durften dann Partei und Fraktion abnicken. Zur Disziplinierung von Abgeordneten wurde das Verlangen nach einer demonstrativen „Kanzlermehrheit“ eingeführt (auch wenn diese zur Verabschiedung eines Gesetzesentwurfes gar nicht erforderlich war). Ihre Einwände durften Parlamentarier zu Protokoll, d.h. zu den Akten geben, folgenlos. Ohne einen Prozess innerparteilicher Willensbildung ließ Gerhard Schröder den Parteivorsitz, um sich zu entlasten, an Franz Müntefering übertragen. Nach dem Desaster bei den Landtagswahlen in NRW entschloss sich Gerhard Schröder, den Regierungskrempel hinzuwerfen, in der Absicht, ihn dann nach Neuwahlen unter günstigeren Bedingungen wieder in die Hand zu nehmen. Die Partei wurde von dieser Entscheidung völlig überrascht.
Man kann all dies als Schröder’schen Cäsarismus deuten, und in einer Großen Koalition unter der Führung von Angela Merkel kommt die SPD in eine Lage, in der ihr Parteibetrieb so nicht gesteuert werden kann, aber es bleibt der Struktureffekt, der in der Regierungszeit Gerhard Schröders dem Parteien- und Parlamentssystem verändernd eingegeben wurde. Innerparteiliche Willensbildung und repräsentative, parlamentarisch verfasste Demokratie haben auch in der Bundesrepublik nie so funktioniert, wie es in Politikfibeln idealiter beschrieben war, aber es haben sich neue Gewohnheiten durchgesetzt, verstärkt unter der Kanzlerschaft Schröders, die – im JUSO-Vokabular benannt – so etwas wie eine „systemtranszendierende Reform“ bedeuten. In aller Kürze: Die Parlamente haben im gesellschaftspolitischen Diskurs wenig mehr zu sagen, die legislativen Vorgaben werden von in der Verfassung nicht vorgesehenen Beiräten und „Denkfabriken“ geliefert. Die Parteien haben sich in Marketingagenturen für das Angebot einer Politikerkaste verwandelt, die ihre Eignungstests in Talkshows zu absolvieren hat. Die Wahlen, aus denen Parlamente hervorgehen, werden als Duelle der BewerberInnen für Kanzler- oder Ministerpräsidentenämter inszeniert, TV-Befragungen des Publikums täuschen demokratische Teilhabe vor ...
Die Vorgänge beim Abschied Franz Münteferings vom Parteivorsitz deuten keineswegs auf eine Revitalisierung innerparteilicher Demokratie in der SPD hin, und sie waren kein „Aufstand der Linken“. Abseits, oder besser: oberhalb der Willensbildung der Parteimitglieder wurde von einem Führungskreis, der sich selbst seine Legitimation dazu gab, dann ein Personalwechsel in der Parteispitze arrangiert, der Profi-Nachwuchs stärker einbinden soll – alles andere als ein „Richtungskampf“.
Theoretische Deutungen des Hintergrundes dieser „Transformation der Demokratie“ hat vor vielen Jahren schon Johannes Agnoli in die Diskussion gebracht, sie sind immer noch weitaus anregender als das Geplauder der meisten professoralen Experten, die derzeit im Fernsehen aufzutreten pflegen.
In einen Bundestag, der unter den oben skizzierten Bedingungen seine Existenz fristet, ist nun eine Partei eingerückt, die sich – modisch ausgedrückt – eigentlich erst noch richtig „erfinden“ muss.
Stachel für die SPD? Neue Sozialdemokratie? Parlamentarischer Ausdruck außerparlamentarischer Bewegungen?
Gerhard Schröder hatte sich von der „Operation Neuwahlen“ sicherlich auch versprochen, dass einem sich anbahnenden linken Wahlbündnis per Zeitdruck der Weg ins Parlament versperrt werde. Dieses Kalkül ging nicht auf. In aller Eile wurde eine „Linkspartei in spe“ konstruiert. Die PDS stellte dafür, was nach Lage der Dinge nur sie konnte, den organisatorischen Rahmen. Oskar Lafontaine und Gregor Gysi traten als fernsehtaugliche Zugpferde auf. Man sollte freilich den Stellenwert der beiden für den Wahlerfolg der PDS-“Linkspartei mit WASG-Zusatz“ nicht überschätzen. Begünstigend waren vor allem zwei Faktoren: Der Zorn über die Agenda-Politik, insbesondere über die Rolle der SPD in diesem Stück war kräftig genug, der „Linkspartei“ in den alten Bundesländern WählerInnen weit über den Kreis der Traditionslinken hinaus zuzuführen, trotz aller demagogischen Kunststücke der meisten Massenmedien. Und der PDS mit ihrem Stammpotenzial in den neuen Bundesländern gab die „Öffnung nach Westen hin“, mit Hilfe der WASG, einen aufmunternden Schub. Nun hat eine Opposition von links her ihre Repräsentanz im Bundestag – aber die Schwächen und inneren Probleme des Projekts „Linkspartei“ sind unverkennbar. Um nur einige davon zu benennen: Zwar ist die Verschmelzung von PDS und WASG als Ziel verabredet, aber damit ist sie noch nicht gelungen. Die beiden Organisationen entstammen historisch getrennten politischen Kulturen, die Differenz zwischen ihnen ist nicht einfach per Beschluss wegzuräumen. In Berlin hat sie ihre Gründe auch in gegensätzlichen Optionen, was die Beteiligung an der Stadtregierung angeht. Generell ist die Mehrheitsstimmung bei der PDS eher auf „Mitgestaltung“ (zumindest in Kommunen und Ländern), bei der WASG eher auf Opposition in den Parlamenten ausgerichtet, was sich auch aus den unterschiedlichen Größenordnungen, also dem jeweiligen Anteil an Stimmen und Mandaten erklärt. Die dahinter liegende Frage, auf welche Weise überhaupt die „Linkspartei“ Einfluss auf die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse nehmen kann, ist bisher noch kaum andiskutiert.
Ziemlich heterogene politische Ideenwelten sind aber auch in den Binnenräumen der beiden Organisationen anzutreffen, sobald über das Themenfeld „Widerspruch gegen die Sozialdemontage“ hinaus gedacht wird. Sowohl in der PDS als auch in der WASG finden sich prinzipiell antikapitalistische Positionen (unterschiedlicher Ausformung) neben Auffassungen, die „Marktwirtschaft“ ganz in Ordnung finden, wenn diese nur für sozialmaterielle Sicherheit garantiere. In beiden Organisationen ist die analytische Auseinandersetzung mit den heute sich entfaltenden Funktionsweisen kapitalistischer Herrschaft nicht sonderlich weit entwickelt (und woher auch ...), der geforderte Politikwechsel wird weithin verengt begriffen, lediglich als Schwenk hin zu einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik, zur „Reichenbesteuerung“ und Wiederanhebung von Sozialtransfers.
Kontroversen über Gründsätze einer künftigen „Linkspartei“ werden mitunter so geführt, als müsse entschieden werden, ob diese sich „zum Sozialismus bekennen“ wolle. Soweit sich darin nicht die Frage versteckt, was denn von der Geschichte der untergegangenen DDR zu halten sei, betrifft die Auseinandersetzung eine Formel, die nicht näher ausgefüllt ist; wer könnte schon präzisieren, was gegenwärtig die PDS unter „Sozialismus“ versteht? In der gesellschaftspolitischen Substanz interessanter wären linksparteiliche Kontroversen darüber, wie tiefgreifend die Angriffe der ökonomischen Machtzentren auf die Sozialstaatlichkeit gemeint sind, welche Reichweite von „Systemreformen“ da vermutet werden kann und in welcher Weise die politische Klasse in der Bundesrepublik in diese Absichten eingebunden ist. Klärungen solcher Fragen könnten dazu verhelfen, die eigene Position der „Linkspartei“ genauer zu bestimmen und auch herauszuarbeiten, ob und mit wem diese, perspektivisch gedacht, Bündnisse anzielen kann; wie sie „Opposition“ ausformen, wo sie mit Aussicht auf Erfolg Druck ausüben kann. Ein in diesem Sinne programmatisches Selbstverständnis der „Linkspartei“ kann nur Station in einem Prozess sein, eine „abschließende“, als verbindlich erklärte „Parteitheorie“ ist weder zu realisieren noch zu wünschen. Von ihrer Herkunft und ihrem theoretischen Bestand her spezifisch profilierte politische Gruppierungen, die zur Zeit die „Linkspartei“ unterstützen (zum Beispiel DKP und „Linksruck“) können zu einem Prozess der inhaltlichen Positionierung beitragen, wenn sie nicht den Versuch machen, die programmatische Debatte und Entwicklung zu dominieren oder zu steuern.
In den Deklarationen von PDS und WASG heißt es durchweg, eine „Linkspartei“ in ihrer erhofften, künftigen Gestalt könne und dürfe sich nicht auf die Zusammenführung dieser beiden Organisationen beschränken, sondern müsse „weiteres gesellschaftliches Potenzial“, „andere Gruppierungen“ miteinbeziehen. Das leuchtet ein – aber wie soll es geschehen, an wen ist da gedacht? Zur Zeit gibt es in der PDS und in der WASG einen Überhang an Konventionalismus, was die Formen und Methoden parteipolitischer Betätigung angeht. Die knappe Zeitspanne, in der die Öffnung hin zu einer gemeinsam getragenen Wahlalternative zustande kommen musste, hat für Innovationen kaum Raum gelassen. Der Einzug ins Parlament hat dazu geführt, dass jetzt die Fraktion (mitsamt ihrem Stab an Gehilfen) parteiorganisatorisch großes Gewicht hat; das kann sich als Problem erweisen, denn zweifellos hat eine Existenz im Reichstag zu Berlin ihre Sozialisationseffekte, dämpfende nämlich, wenn es um außerparlamentarischen Elan an der Basis geht. Lothar Bisky ist (was nicht herabsetzend gemeint ist) kein Karl Liebknecht.
Die „Linkspartei“ würde gut daran tun, historische Studien im Hinblick auf den Werdegang und Wandel der Grünen zu betreiben. Da lässt sich beobachten, wie außerparlamentarische Dynamik und „Basisdemokratie“ in Zeiten der gesicherten parlamentarischen Existenz verloren gingen, ein negatives Vor-Bild.
Ungeklärt ist, welchen Platz im Parteiensystem der Bundesrepublik die „Linkspartei“, wenn sie sich endgültig herausgebildet und vielleicht auch erweitert hat, für sich beanspruchen will. Ein linkes Korrektiv neben einer sozialdemokratischen Partei, dieser gegenüber teils kritisch, teils bündnisbereit? (Für diese Verortung gibt es Beispiele in anderen europäischen Ländern.) Aber wird es eine sozialdemokratische Partei, auf die hin eine solche Funktion gedacht wäre, in der Zukunft geben? Und was ist mit den Bürgerinnen und Bürgern, die jetzt noch (aus „kulturgeschichtlichen“ Gründen) trotz vieler Vorbehalte den Unionsparteien anhängen, in der Hoffnung, diese würden sich wieder für ein Politikkonzept à la Geißler oder Blüm öffnen?
Oder eine „Linkspartei“, die schrittweise den Platz der „alten“ Sozialdemokratie einnimmt, den Sozialstaat herkömmlicher Art wiederherzustellen versucht, den Schulterschluss mit den Gewerkschaften (so wie diese sind) zu ihrer Sache macht? Aber weshalb ist die SPD nicht mehr das, was sie (tatsächlich oder vermeintlich) einmal war, sozialpolitisch? Und können die Gewerkschaften, wenn sie etwas zu Wege bringen wollen, so bleiben wie sie jetzt sind? Oder schließlich eine „Linkspartei“, die sich prioritär als bis in die Parlamente hineinreichende Vertretung außerparlamentarischer Opposition versteht, mit starkem Engagement für BürgerInnen-Initiativen, für plebiszitäre Formen der Demokratie? Aber kann es dann für eine solche Partei bei den jetzigen Themenschwerpunkten bleiben, bei der Adressierung der eigenen Alternativkonzepte an den Staat, an die Legislative?
Fragen über Fragen, und es ließen sich viele weitere stellen. Immerhin ist es ein vor einigen Jahren noch nicht erwarteter Fortschritt, dass der Erfolg bei der Bundestagswahl solche Überlegungen überhaupt praxisrelevant macht.
Für die nächste Wegstrecke der „Linkspartei“ entscheidend ist, meinem Eindruck nach, ob sie zur Kenntnis nimmt: Die repräsentative Form der bürgerlichen Demokratie ist systematisch heruntergewirtschaftet. Eine „Linkspartei“, die sich den Regeln des jetzigen Parteien- und Parlamentsbetriebs unterwerfen würde, wäre schon bald wieder weg vom Fenster. Volkssouveränität, und das ist beim linksparteilichen Wahlkampf leider zu kurz gekommen, muss neu angeeignet werden.