Neuformierung der Linken

Soziale und kulturelle Linke

Ein Blick auf die Linkspartei aus autonomer Sicht

Dezember 2005

Durch die neue Linkspartei ist einiges in Bewegung gekommen. Gewerkschafter plädieren für eine starke außerparlamentarische Linke als Korrektiv gegenüber der Partei (Schmitthenner 2005), und Alt- und Postautonome appellieren in einem offenen Brief an das Parteiprojekt. Nicht nur in diesen beiden Beispielen wird übersehen, dass es zwei unterschiedliche Register/Grammatiken gibt, in denen Linke derzeit sprechen und handeln. Ich versuche im folgenden, das neue linke Wahlprojekt unter der Lupe der Erfahrungen von 30 Jahren neuen sozialen Bewegungen v.a. in Westdeutschland zu betrachten.

Die beiden Register haben sich historisch gebildet und sind mitursächlich für die Probleme der Linken (miteinander): Es gibt a) soziale Linke. Dies sind die (alten) sozialen Bewegungen, also Arbeiterbewegung, Gewerkschaften und auch der Staatssozialismus. Sie treten für Gerechtigkeit durch materielle Umverteilung ein, die Ökonomie wird als Zentrum der Gesellschaft angesehen, vorrangiger Akteur zur Herstellung von Gerechtigkeit ist der Staat. Ich spreche hier von Umverteilungsregister.

Daneben gibt es b) kulturelle Linke. Dies sind vor allem die so genannten neuen sozialen Bewegungen (wie z.B. feministische und Schwulenbewegung, Bürgerinitiativen, kulturelle und antirassistische Initiativen). Sie fordern zwar auch Umverteilung, betonen aber stärker die Herstellung von Gerechtigkeit durch die Anerkennung von Differenzen (z.B. Geschlechterfragen, Antirassismus, Demokratisierung Lebensstile); die Akteure sind Staat und Zivilgesellschaft. Ich spreche hier von Anerkennungsregister. Diese Unterscheidung stammt aus den Debatten in den USA (Fraser 2001), sie ist auf die Verhältnisse hierzulande, wo die soziale Linke gesellschaftlich weit mächtiger und die kulturelle Linke weit weniger akademisiert ist als in den USA, nicht vollständig übertragbar. Ihre Anwendung auf die Situation hierzulande ist aber trotzdem hilfreich. In der Grafik sind die zwei Grammatiken dargestellt.

Wir haben also zwei unterschiedliche Register: das der (historisch gesehen) älteren sozialen Linken und das neuere einer kulturellen Linken. Das ist kein Ost-West-Problem. Die Spaltung und die Probleme zwischen den Linken, die nach diesen beiden Registern sprechen und handeln, treten auch in der Debatte um das neue Wahlprojekt auf. Das Wahlprojekt (und dabei, soweit ich das beurteilen kann, die WASG noch stärker als die aktuelle Linkspartei.PDS) ist sehr stark vom Umverteilungsregister der sozialen Linken geprägt.

soziale Linke

kulturelle Linke

zentrale Referenz:

Ökonomie

Kultur, Diskurs

weitere Referenzen

Arbeit
(Voll-) Beschäftigung

Existenz, Sexualität, „Rasse“
soziale Grundrechte, Existenz-
sicherung

politisches Ziel
a)
b)

Sozialismus
Soziale Gleichheit

soziale/persönliche Befreiung
Anerkennung von kulturellen Werten

erreicht durch

Umverteilung

Anerkennung von Gruppen und ihren Unterschieden

philosophische Referenz

Moderne

Postmoderne

philosophisches Ziel

Gleichheit

Differenz

Kampf gegen

Ausbeutung

Unterdrückung

handelnde Akteure

Klasse

Gruppen, Einzelpersonen

kollektive Organisationsform

Staat

Bewegung

persönl. Organisationsform

Partei

Partei

vorrangiger Gegenstand des politischen Handelns

materielle Ordnung

symbolische Ordnung

Dies ist einerseits angesichts von sozialen Prozessen wie der Verarmung gerechtfertigt, greift aber andererseits zu kurz, da dieses Register Fragen der Pluralität verschiedener Lebensstile unterbewertet. Es taugt deshalb nur bedingt zur Mobilisierung jüngerer urbaner Milieus. Als Beispiel: Neoliberalismus wird im Umverteilungsregister fast nur als Horror-Programm der Herrschenden angesehen (im Extremfall gibt es die Vorstellung, dass vom Neoliberalismus nur fünf Prozent der Bevölkerung profitieren und der Rest ausgeplündert werde).

Im Anerkennungsregister wird Neoliberalismus dagegen als Reaktion auf die durch Kämpfe von unten verursachte Verwertungskrise verstanden: Der Regelarbeitsvertrag ist für viele Linke keine Realität und erst recht keine politische Zielvorstellung mehr. Dasselbe gilt für Vollbeschäftigung, die sukzessive von der Forderung nach einer Existenzsicherung abgelöst wird: „Arbeit soll das Land regieren“ (so die PDS 2002), das ist nicht nur für kulturelle Linke eine Drohung, keine Utopie.

Damit sind wir mitten in der Programmatik. Die ist nicht alles, da Papier bekanntlich sehr geduldig ist. Hier ist im Zuge der Neuformierung der Linkspartei vieles noch ungeklärt. Diese Diffusität ist kein Alleinstellungsmerkmal des Parteiprojekts, sie ist auch in den sozialen Bewegungen registrierbar. Nur einige Beispiele seien kurz erwähnt.

1. Wachstum ist heute kein per se positiver Wert, da dadurch negative ökologische/weltwirtschaftliche Folgen eintreten bzw. Wachstum und die Schaffung von Arbeitsplätzen entkoppelt sind.

2. Entkopplung von Arbeit und Einkommen: der tendenziell männliche Alleinernährer ist keine emanzipative Utopie, viele Menschen wollen auch gar nicht mehr Vollzeit arbeiten, es müssen Antworten auf die Prekarisierung von oben und jene von unten gefunden werden, etwa durch eine armutsfeste Grundsicherung.

3. Außenpolitik, Antiamerikanismus und Antimilitarismus. Hier besteht das Dilemma zwischen einer Stärkung der EU gegenüber den USA einerseits, die Gefahr der Entstehung/Förderung von Ressentiments gegen den Westen, ferner muss diskutiert werden, wie die Linke gegen Islamismus weltweit und in Deutschland vorgehen will.

4. Globalisierungs- und Kapitalismuskritik sind nicht per se fortschrittlich, es gibt darunter viele „antiwestliche“ und antimodernistische Positionen.

Was tun?

Es gibt das Interesse von Einzelpersonen an einer wirklich neuen linken Partei, aber wenig organisiertes Eingreifen aus den sozialen Bewegungen. Dies liegt auch daran, dass die Signale für eine Öffnung seitens der Linkspartei.PDS und auch der WASG derzeit relativ schwach sind. Das Zusammengehen zur Bundestagswahl verlief als für die Bewegungen und die Linke jenseits der beiden Parteien nicht transparenter Prozess von oben nach unten. Hinzu kam, dass viele Gliederungen auf lokaler Ebene überfordert waren. Das bisherige Agieren der Bundestagsfraktion lässt nur bescheidene Signale in Richtung neuer, bunter Politikinhalte und, noch wichtiger: eines anderen Politikstils erkennen.

Die Fragen liegen auf dem Tisch: Wie kann der Dialog zwischen Linkspartei und den vielen Linken jenseits davon aufrechterhalten/in Gang gesetzt werden? Wie kann lokale und regionale Gegenmacht zur Fixierung auf Prominente im speziellen und das Übergewicht der Bundestagsfraktion im allgemeinen geschaffen werden? Wie kann eine programmatische Erweiterung gegenüber dem zu erwartenden sozial- und wirtschaftspolitischen Schwerpunkt in der Bundestagsfraktion und der dadurch produzierten Außenwahrnehmung organisiert werden?

Die neuen sozialen Bewegungen sind stark vom Anerkennungsregister geprägt, sie haben in der Regel keinen gesamtgesellschaftlichen Ansatz, das Wahlprojekt ist der Versuch eine gesamtgesellschaftliche, teilbereichsübergreifende programmatische Synthese zu wagen, das macht das Projekt interessant und auch seine Stärke aus. Die AktivistInnen der sozialen Bewegungen sind wahlarithmetisch nicht so relevant, aber die von ihnen aufgeworfenen politischen Fragen, das dort angesammelte Wissen und der angesammelte Erfahrungsschatz sollten ohne Vereinnahmung ernsthaft zur Kenntnis genommen werden.

Dabei ist immer in Rechnung zu stellen: Die Erfahrung mit der Entwicklung der Grünen ist – erst recht in den alten Bundesländern – sehr präsent. So weigern sich viele Linke heute, für die Linkspartei einzutreten, weil sie schon einmal von einer Partei tief enttäuscht wurden und diese Erfahrung berechtigterweise nicht nochmals machen wollen. Gleichzeitig ist die Überschätzung der Bedeutung und der Macht von Parlamenten bei Partei- und ParlamentarismuskritikerInnen mitunter weiter verbreitet als bei Linkspartei-Abgeordneten. Gleichzeitig herrscht bei den linken KritikerInnen der Linkspartei der Irrglaube vor, deren Basis sei progressiver als ihre FunktionärInnen.

Über die Frage, welche Funktion Bewegungen und welche Parteien im beginnenden 21. Jahrhundert haben bzw. wie ihr Verhältnis gestaltet werden kann, besteht noch großer Diskussionsbedarf. Das Streben nach sozialer Gerechtigkeit ist zwar die primäre Motivation der WählerInnen einer neuen Linksformation, es bleibt aber offen, ob dieser Aspekt zur Gestaltung der politischen Programmatik ausreicht. Die neue Linksformation muss auch die Bereitschaft zur Selbstveränderung mitbringen – wenn sie mehr sein soll, als die endlich neue, wahre Sozialdemokratie.

Abschließend das Plädoyer – auch in Richtung der parteifernen Linken –, den Prozess weiter politisch mit eigenen Forderungen zu begleiten, mit vorsichtiger Erwartung eines offenen Endes und der Bereitschaft zum Bruch. Es ist noch völlig offen, ob ein qualitativ wirklich neues linkes Projekt entsteht – und das Zeitfenster dafür ist klein. Ein solches politisches Projekt muss nicht nur eine Verbindung zwischen kultureller Anerkennung und sozialer Gleichheit herstellen, sondern eine Vereinigung dieser beiden Register in Angriff nehmen.

Literatur:

Nancy Fraser: Die halbierte Gerechtigkeit. Schlüsselbegriffe des postindustriellen Sozialstaates; Frankfurt/M. 2001.

Nancy Fraser: Frauen, denkt ökonomisch!, in: taz vom 7.04.2005.

Michael Hardt/Antonio Negri: Multitude. Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt/M. 2004.

Helmut Hugler: Die Grammatik der Werte, in: Freitag vom 31.10.2003.

Horst Schmitthenner: Gleiche unter Gleichen, in: Freitag vom 2.9.2005.