Die Bedeutung militärischer Gewalt bei der Entwicklung des Kapitalismus wird gegenwärtig in der Diskussion der Linken wieder stärker zur Kenntnis genommen.[1] Es ließen sich zahlreiche Aufsätze, Bücher, Reihen und Zeitschriften auflisten, in denen das Thema in ähnlicher Weise behandelt wird: Gewissheit über Kapitalinteressen und moralische Empörung. Ist letztere nicht nur verständlich, sondern auch geboten, so bleibt es bei der Analyse der Interessen doch häufig genug bei Vermutungen und Anrufungen, bei der Gewissheit, dass wo Rauch ist, auch Feuer sein muss.
Schon der erste US-Krieg gegen den Irak, der Jugoslawien-Krieg der USA und europäischer Länder und erst recht der Krieg der USA gegen Afghanistan sowie der zweite Krieg gegen den Irak, diesmal mit Gefolgschaft, waren in der Linken nicht nur politisch, sondern auch theoretisch Anlass und Gegenstand erneuter und vertiefter Erörterungen des alten Themas: Kapitalismus, Militär und Krieg.
1. Die Aktualität militärischer Gewalt im Kapitalismus
Gab es noch in den 80ern viele Überlegungen über die imperialistische Konkurrenz zwischen den drei „Zentren“ des Kapitalismus, USA, Japan und Europa, so verschob sich der Fokus dieser Debatte mit dem konjunkturellen Absturz Japans in der Wende zu den 90ern, der folgenden Stagnation und dann dem glänzend scheinenden Aufschwung der USA mit der „New Economy“ ab Mitte der 90er Jahre. Jetzt ging es nur noch um die Rivalität und den Gegensatz zwischen den USA und Europa sowie um den Charakter und die Bedeutung der erneuten Überlegenheit, ja Dominanz der USA.
Die USA als Subjekt und Zentrum eines neuen, weltweit agierenden Imperialismus oder eines neuen Empire bekamen Konjunktur in der Linken und mit dem Antritt der Präsidentschaft von Bush jun. auch in der inzwischen weltweiten militär-strategischen Diskursgemeinschaft der herrschenden Kreise. Die o.g. Kriege gaben diesen Debatten einen erheblichen Schub und einen realistischen Anstrich. Inzwischen hat auch in der BRD die Erörterung eines „Neuen Imperialismus“ Konjunktur.[2]
Daneben verknüpfte sich die Anti-Globalisierungsbewegung, zunächst auf die negativen Wirkungen der Entfesselung des Finanzkapitals in den hoch entwickelten kapitalistischen Ländern beschränkt, zunehmend mit den Solidaritätsbewegungen für die Dritte Welt. Die dortigen Verarmungsprozesse und gesellschaftlichen Zerstörungen wurden mit der „Globalisierung“ in Zusammenhang gebracht. Sie mündeten in manchen Weltgegenden und Staaten in zunehmender und andauernder innergesellschaftlicher Gewalt, die häufig nicht einmal als politisch zu fassender Bürgerkrieg verstanden werden konnte.
Hatten schon die manifesten Kriege der USA mit ihrem großen technischen Einsatz die Friedens-Aktivisten mobilisiert, so war die zwischenzeitliche Erklärung eines „Krieges gegen den Terror“ durch die Bush-Administration der integrierende Faktor zur Bündelung nicht nur der theoretischen Bemühungen, sondern auch der praktischen Opposition aus all den verschiedenen Strömungen und Lagern. Die grenzen- und zeitlose Kriegserklärung an ein Phantom, das sich in alles und jedes konkretisieren konnte, brachte die latente und manifeste Gewalttätigkeit des Kapitalismus symbolisch auf den Punkt. Eine Folge waren die weltweiten Massendemonstrationen gegen den drohenden Beginn des zweiten US-Krieges gegen den Irak.
In der analytischen Begründung der Vorgänge und der Agitation für die Opposition haben sich jedoch in vielen Fällen theoretische Verkürzungen eingeschlichen, die versuchen, den hohen Ton moralischer Empörung in die Analyse zu verlängern. Dabei steht ein impliziter und unkritischer Gebrauch des Begriffs der „objektiven Interessen“ im Zentrum. Häufig genügt schon der Hinweis auf Pläne zur militärischen Aufrüstung, z.B. in der EU, und Papiere zu deren strategischer Begründung, um direkt auf imperiale, ökonomisch begründete Interessen zu schließen. Bereitgestelltes Militär oder gar Kriege erscheinen dann schon fast als unwiderlegliche Beweise solcher Zusammenhänge. Umgekehrt in der Imperialismus-Debatte: Dort wird, ähnlich wie in der Tradition bürgerlicher Geschichtsschreibung und Politikwissenschaft, eher eine Logik und ein imperiales Interesse aus den zwischenstaatlichen Verhältnissen und den gegebenen militärischen Kräfteverhältnissen abgeleitet. Aber mit vagem Bezug auf die Imperialismus-Konstellation und -Debatte vor und um den 1.Weltkrieg wird doch unterstellt, dass es eine zweite grundlegendere Ebene der ökonomischen, der kapitalistischen Interessen gebe, die die andere letztlich bestimme oder dominiere. Hier werden die vermuteten Zusammenhänge weniger plakativ herausgestellt, verbleiben mehr in der Andeutung, sind aber zumeist ebenfalls nicht hinreichend plausibel.
Im Folgenden soll kein weiterer Text zur Imperialismusfrage[3] geboten, sondern zunächst eine Rückbesinnung auf den Zusammenhang der Entstehung und wesentlichen Anwendung des Begriffs der „objektiven Interessen“ in der Kritik der politischen Ökonomie vorgenommen werden. Danach soll versucht werden, die prinzipiellen Schwierigkeiten der Anwendung dieser Begrifflichkeit auf nicht-ökonomische gesellschaftliche und politische Tatbestände zu skizzieren. Schließlich wird in groben Zügen abgeklopft, welche ökonomischen Interessenlagen die bundesdeutsche Bourgeoisie aufgrund ihrer investierten Kapitalien und den damit gegebenen geographischen und stofflichen Bedingungen der Kapitalverwertung in der internationalen Konkurrenz haben könnte, die sie zu imperialen Perspektiven und militärischen Strategien und Handlungen würden drängen können.
2. Objektive Interessen, ökonomisches Handeln, Militär
Objektiven Interessen als Produkt privaten Kapitaleigentums
Der Begriff des „objektiven Interesses“ wird als Vermittlung der Begriffe „gesellschaftliche Verhältnisse“ und „gesellschaftliches Verhalten“ verwendet. Dabei wird unterstellt, dass es je konkrete gesellschaftliche Mechanismen gibt, in denen sich die Vermittlung der wirklichen Verhältnisse zuträgt – woraufhin sie empirisch untersucht und begrifflich wiedergegeben werden kann.
Diese Vermittlung erscheint praktisch als Arbeit der Leitung von Unternehmen, wo ökonomisches Handeln von Kapitalbesitzern oder ihrem Führungspersonal ausgearbeitet wird. Das alltägliche Kalkül betriebswirtschaftlicher Rechnungen über den Stand und die Richtung der Verwertung des Kapitals bestimmt in den entwickelten kapitalistischen Verhältnissen das unternehmerische Handeln. Das ökonomische Sein des Kapitalbesitzes tritt in Form und mit dem Inhalt der Kapitalrechnung in ihr Bewusstsein und zeigt damit die Ausgangsdaten für eine verständige Planung zukünftigen Handelns auf. Die Ausgangsdaten können in zweierlei Richtung weisen. Es kann sich einerseits um die Vermeidung eines Nachteils handeln, im Extremfall um die Vermeidung der Zahlungsunfähigkeit, also um den unmittelbaren Zwang der Verhältnisse. Andererseits kann es sich um Chancen handeln, die Verwertung des eigenen Kapitals zu verbessern, um nicht in der zukünftigen Konkurrenz unterzugehen (was mehr ist, als nur der persönliche Wunsch nach höherem Profit, d.h. als Profitgier). Es handelt sich also um unterschiedliche Weisen, wie sich der Zwang der ökonomischen Verhältnisse zeigt und den Handelnden mitteilt.
Allerdings sagen betriebswirtschaftliche Daten selten unmittelbar, was zu tun ist: Sie legen unter Umständen das Falsche nahe. Es sind die Verhältnisse der Zukunft, die das Handeln, gerade auch das rational begründete, unsicher machen. Die Vermittlung der noch unklaren Zukunft mit Bewusstsein und Handeln erfordert Planung, immer ein Pfad in eine prinzipiell unbekannte Zukunft. Daher gibt es notwendig Pleiten, Pech und Pannen, aber auch Boom und Krisen. Erst im Nachhinein, mit dem Beitrag des eigenen, auf Unsicherheit beruhenden Handeln zur Bewegung der Verhältnisse, zeigen sich die vorherigen Verhältnisse als das, was sie zum Teil schon waren. Von Marx ist dieser Sachverhalt bekanntermaßen abstrakter als Widerspruch zwischen objektiver Vergesellschaftung der kapitalistischen Ökonomie und privatem Eigentum am Kapital gefasst worden.
Die allgemeine Maßregel zur Vermittlung des privaten Kapitalbesitzes inmitten von Lieferanten, Lohnarbeitern, Konkurrenten und Abnehmern mit dem Verhalten als Kapitalist heißt Akkumulation und Wachstum durch Profitmaximierung. Die Konkretion besteht in der methodisch organisierten Einsicht der einzelnen Kapitalisten, was zu tun ist, um als Kapitalist zu überleben, also Strategie und Planung. Sie sollen die Wege weisen, wie dem Zwang der Verhältnisse praktisch zu folgen ist und drücken so das objektive Interesse aus: Den privaten rationalen Umgang mit dem Irrationalen der kapitalistischen Verhältnisse in der Gesellschaft.
Selbst im durchrationalisierten Bereich der Verwertung des Werts ist es zur Vermittlung von Verhältnissen und (künftigem) Verhalten erforderlich, dass die subjektiven Momente des Handelns wirken: Handelnde Personen mit Einsicht (rationales Bewusstsein), Wollen (rationaler Antrieb zum Handeln) und Können (eigene Handlungsfähigkeit oder Delegation). Wie viel mehr gilt dies für andere gesellschaftliche Umstände, wo weder die Akteure als isolierte gesellschaftliche Subjekte existieren, wie die individuellen Kapitalbesitzer, noch die Interessen so rechenhaft zu bestimmen sind, wie die Kapitalverwertung, oder die Unsicherheit der Verhältnisse sich auf mehr als nur die Variablen Preise, Konkurrenz und Absatz gründet.
Die Übertragung des Begriffs auf nicht-ökonomisches Handeln
Für die Anwendbarkeit des Interessenbegriffs auf politische Vorkommnisse ergibt sich, dass aus einem analytisch abgeleiteten Interesse nicht unmittelbar auf ein Handeln geschlossen werden kann. Die Akteure mit entsprechenden subjektiven Eigenschaften und Fähigkeiten müssen vorhanden sein und sie müssen tätig werden. Auch aus einem vorliegenden Verhalten (Handeln) kann nicht unmittelbar auf ein vorliegendes Interesse und entsprechende Verhältnisse geschlossen werden. Praktisches Handeln, gerade auch in gesellschaftlicher Dimension, muss immer von subjektiv bestimmten Akteuren ausgeführt werden, die alle möglichen Motive, Vorstellungen und Interessen haben können, ohne notwendig kalkuliert ein einzelnes rationales und erkennbares Interesse zu verfolgen – abgesehen davon, dass sie sich darüber auch täuschen können. Und selbst wenn zu einem tatsächlichen oder geplanten Handeln gesellschaftlicher Subjekte Absichtsbekundungen oder Kommentare von ihnen vorliegen, die ein bestimmtes Interesse als eigenes Motiv angeben oder dieses in Anspruch nehmen, kann deren Richtigkeit nicht einfach unterstellt werden. Wer glaubt schon im Allgemeinen den Begründungen bürgerlicher Politiker für ihr Handeln. Täuschen gehört zum Geschäft, Selbsttäuschung zu den unvermeidlichen Folgen.
Ein denknotwendiges „objektives“ Interesse, ein reales Handeln oder eine Erklärung oder Absicht von Akteuren, je für sich genommen, begründen allemal nur Hypothesen. Um aus den Hypothesen realitätshaltige Aussagen machen zu können, müssen je nach dem zusätzlich jeweils fähige Akteure und tatsächliches, verständiges Handeln zum vermuteten Interesse gefunden werden, Interesse und Absichten zu Akteuren und ihrem tatsächlichen Handeln bestimmt und geklärt werden, sowie zu Plänen und Absichtsbekundungen bestimmende Interessen und fähige Akteure herausgearbeitet und benannt werden.
„Objektives Interesse“, Militär und Krieg
Das Kalkül objektiver Interessen auf Militär und Krieg angewendet, bedeutet zunächst ganz abstrakt, dass vorhandenes Militär, seine Größe und Fähigkeit, seine Stationierung oder Anwendung nicht schon unmittelbar ein Interesse offenbart, das dem zugrunde liegen würde. Das gilt selbst dann, wenn es Pläne und Absichtsbekundungen oder Erklärungen der Akteure gibt, die dem Handeln ein bestimmtes Interesse rational zuzuordnen versuchen. Die Feldzüge der USA in Afghanistan und dem Irak sind wohl schlagende Beispiele dafür: Viele Interessen wurden angeführt, eines sollte dagegen ganz sicher erscheinen: Dass es ganz bestimmt nicht um das Öl des Irak ginge.[4]
Beim Militär und seinen Einsätzen sind die politischen und militärischen Akteure in der Regel bekannt. Die Personen und Gruppen, in deren objektiven Interessen die Existenz des Militärs oder das militärische Eingreifen liegen könnten, und die dies wahrscheinlich befördert oder angeschoben haben, geben selten Absichterklärungen ab und bleiben meist verborgen. Stattdessen sind Ideologen und die handelnden Politiker oft umso eifriger tätig und es bleibt schwierig, ihre jeweiligen Absichtserklärungen als zutreffend, als Irrtum, als Verschleierung oder Rechtfertigung aufzuklären.[5]
Wenn Recherchen oder Rekonstruktionen keinen triftigen Zusammenhang erweisen können, dann müssen weitere objektive Interessen der Akteure oder ihrer Auftrageber, widersprechende Interessen, Ablenkungsoperationen oder häufig auch kollektive Subjektivismen der Handelnden herausgefunden werden: Selbstüberhebung herrschender Klassen, ethnischer Gruppen oder von Religionsangehörigen, fetischisierte Bedrohungsvorstellungen, wie z.B. im Kalten Krieg.[6] Bedeutung können auch organisations- und selbst individuelle Aufstiegsinteressen der Angehörigen von Gruppen oder Organisationen haben und andere subjektive Motivationen. Auch die Herrschenden und ihre Funktionäre sind vor Ideologien nicht gefeit, selbst vor ihrer eigenen Propaganda nicht.
Im Feld der Politik und des Militärs kommen weitere, grundsätzliche Schwierigkeiten für die Bestimmung objektiver Interessen für Verhalten und Handeln hinzu. Zwar haben Politiker und Regierende leicht zu erkennende Eigeninteressen, aber in bürgerlichen Staaten, zumal solchen mit parlamentarischem System, sind diese nicht von der gleichen unmittelbaren ökonomischen Qualität, wie etwa die direkt mit Personen verbundenen Interessen an Ackerland und Bauern beim Adel und seinen die Staatsgeschäfte führenden Fürsten. Zwar gibt es Parlamentarier und Regierungsmitglieder, die relativ direkt als Lobbyisten oder als Eigentümer unmittelbare Kapitalinteressen vertreten, aber sie bestimmen selten direkt die Politik von Parteien oder Regierungen.[7]
Möglicherweise sind bürgerliche Regierungen manchmal tatsächlich die politischen Ausschüsse der herrschenden Bourgeoisien, aber eben einer ganzen Klasse oder von deren Teilen. Meist sind es sogar offene oder pragmatische Bündnisse von Klassenfraktionen. Daraus ergibt sich das Problem, dass eine Partei oder Koalition eine politische Agenda entwerfen muss, die ihr kollektives Handeln mit wichtigen objektiven Interessen der wichtigsten, d.h. der mächtigsten oder der zahlungskräftigsten Teile ihrer Auftraggeber in Übereinstimmung mit den manifesten Interessen und Ansichten ihrer Anhängerschaft bringt. Häufig genug muss dies noch ideologisch für die unterworfenen Klassen und ihre aktiven Teile legitimiert werden.[8]
Bei vitalen Fragen überlassen es die führenden oder dominierenden Teile der Bourgeoisie aber nicht den Politikern in Parlamenten und Regierungen allein, was, wie, wann und mit welchen Mitteln zu tun ist. Militärische Rüstung und gar Krieg gehören zu diesen vitalen Fragen. Daraus resultierende schwierigen Abstimmungsprozesse innerhalb der Bourgeoisie, eventuell unter Einbeziehung anderer Klassenfraktionen, werden zum gewissen Grad auch in der Öffentlichkeit vorgenommen: über die öffentliche Diskussion der Experten, die in den USA häufig aus von privaten Stiftungen finanzierten „think-tanks“ kommen, oder über Zeitungen und Massenmedien, als Versuch, die Massenstimmung für oder gegen bestimmte Maßnahmen zu beeinflussen und zu testen. Die Vorgänge nach dem 11. September in den USA waren dafür exemplarisch.
Allgemeiner gesprochen haben wir es in bürgerlichen Staaten beim Militär und beim Krieg sowohl mit kollektiven Akteuren – Parlamentsmehrheiten und Regierungen – wie auch mit Interessenkollektiven ihrer gesellschaftlichen Basis zu tun, die noch dazu Duldung oder Zustimmung der politisch und ökonomisch Beherrschten erreichen müssen – was Verblendungen befördert und Ideologien geradezu hervorruft.
Selbst wenn also beim Militär und formellem Beginn von Kriegshandlungen die Akteure und deren Handlungen bekannt sind, können doch daraus häufig genug weder die kollektiven Interessenten noch deren Interessen einfach abgeleitet werden. Dabei sind die Eigeninteressen der jeweils beteiligten Apparate (Militär und Bürokratien, Parteien und Verbände) und Personen (Amtsinhaber, Abgeordnete usw.) zunächst noch ganz außer acht gelassen, obgleich sie bekanntermaßen eine erhebliche Rolle spielen.
Die Handlungen der Regierungen auf internationaler Ebene, mit ihren Bündnissen, Koalitionen und Dominanzen sind noch weniger auf unmittelbare ökonomische Interessen von Staaten und internen Akteuren zurückzuführen, da die bürgerliche Staatenwelt ein konkurrierendes Kollektiv ist mit gemeinsamen, parallelen und sich widersprechenden oder sich ausschließenden Interessen auf der Ebene staatlicher Aktionen (Staaten als Subjekte der Souveränität: bei Verträgen, kollektiven oder alleinigen militärischen Aktionen) wie auf der Ebene der ökonomischen Interessen ihrer herrschenden Klassen. Wäre dies anders, so gäbe es nicht die langwierigen Auseinandersetzungen und Forschungen von Historikern, die mehr oder weniger gezielt versuchen, genau diese Zusammenhänge im Nachhinein aufzuklären – oder auch zu verschleiern.[9]
Hier hilft nur, von zwei Seiten gleichzeitig empirisch und analytisch vorzugehen: Einerseits muss nach innergesellschaftlichen Interessenten und ihren über die nationalen Grenzen hinausgehenden Interessen gefragt werden und andererseits muss, ausgehend von den tatsächlichen militärischen Fakten, Handlungen und Akteuren (Regierungen, Parlamente, Parteikoalitionen) nach Motiven und Handlungskonstellationen gesucht werden, um zu sehen, ob es plausible Verbindungen zwischen beiden Seiten gibt.
Bei den hier in Fragen stehenden Zusammenhängen sind die militärischen Indizien für imperiale Interessen der BRD und der EU hinreichend oft und detailliert aufgezählt worden.[10] Allerdings fehlen dabei durchgängig militärische Szenarien, was mit den militärischen Kräften wirklich praktisch anzustellen wäre.
3. Transnationale Kapitalverwertungsinteressen der deutschen Bourgeoisie
Außenwirtschaft, Warenexport und Absatzmärkte
Versuchen wir also das Problem von Seiten der ökonomischen Verhältnisse zu klären und fragen nach den möglichen ökonomischen Interessen der bundesdeutschen Bourgeoisie an militärischer Absicherung oder Erweiterung ihrer Geschäftsmöglichkeiten. Mit Variationen würden sich für die Bourgeoisien der anderen westeuropäischen Staaten sehr ähnliche Überlegungen ergeben und damit die Rationalität entsprechender EU-Aktivitäten beleuchten.
Zunächst geht es um das traditionelle Geschäft des Exports von Gütern. Bei technischen Investitionsgüter war das schon lange mit Dienstleistungen (Installation, Wartung, Modernisierung) verbunden. Zum Teil ist dieser frühere Zusatz des Exportgeschäftes inzwischen dominant geworden.
Das objektive Interesse liegt hier darin, zu den wichtigen, großen Absatzmärkten möglichst freien Zugang zu erhalten, ohne durch Zölle und Steuern zu viel vom Profit zu verlieren. Damit die Käufer in anderen Ländern bezahlen können, ist ein nationales und internationales Währungsregime erforderlich, dass die Inflation in berechenbaren Größen hält und die Währungen umtauschfähig macht. In jenen Staaten ist darüber hinaus die Existenz und Effektivität von staatlichen und zivilen Strukturen, die die Vertragseinhaltung und Zahlung sowie deren Einklagbarkeit garantieren, natürlich ebenso wichtig. Die Hindernisse können von vielerlei Art und von Verschiedenem bestimmt sein: von konkurrierenden Konzernen, den Regierungen der Importstaaten, von deren Gegnern, von konkurrierenden Exportstaaten oder von internationalen Institutionen und Regelungen, denen Staatenkoalitionen zugrunde liegen, oder auch von gesellschaftlichem Chaos.
Die Außenwirtschaft der Bundesrepublik (Export und Import zusammen), machen etwa 68 Prozent, der Export allein etwa 36 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) aus. Bezogen auf die Industrieproduktion ist der Prozentsatz erheblich höher. Kleine Länder wie die Niederlande haben noch größere internationale Verflechtungsgrade, Japan und die USA wesentlich geringere. Die EU oder der Euro-Währungsraum liegen etwa bei der Größenordnung der USA.
2003 gingen 55 Prozent der BRD-Exporte in den EU-15 Raum, 64 Prozent in den EU-25 Raum und 43 Prozent in den Euro-Raum. Unter den Empfängerländern lag Frankreich mit 10,6 Prozent vor den USA an der Spitze. Es folgten England (8,4 Prozent), Italien (7,4 Prozent), die Niederlande (6,2 Prozent), Österreich (6,3 Prozent) und Spanien (4,9 Prozent). Nur etwa 3 Prozent gingen in die ehemaligen europäischen sozialistischen Staaten einschließlich Russland außerhalb der EU. Die übrigen Industrieländer lagen bei rund 20 Prozent, darunter mit etwa 10 Prozent die USA, Japan mit 1,8 Prozent und die ostasiatischen Schwellenländer mit 3,4 Prozent, darunter China mit 2,8 Prozent, sowie Lateinamerika mit 1,9 Prozent. Selbst die kleinen bis mittelgroßen Länder der Euro-Zone liegen in ihrer Export-Bedeutung für die BRD-Industrie weit vor allen sagenhaften neuen Märkten – deren herausragende Eigenschaft bisher nur in ihren enormen Zuwachsraten besteht, bei äußerst geringem Ausgangsniveau.
Importe: Energie, Rohstoffe, Vorprodukte und Fertigwaren
Die Bundesrepublik ist erheblich von Importen abhängig. Das gilt für Öl als Energieträger und Rohstoff für die chemische Industrie, für Gas und Kohle für die Energieproduktion und die Eisenerzverhüttung, für fast alle Metalle, für einen Teil der landwirtschaftlichen Rohstoffe und der Nahrungsmittel, für viele Vorprodukte der Industrie zum Inlandsverbrauch oder für den Export, für einen Teil der Investitionsgüter und für die große Palette an Konsumgütern aus dem Ausland. Der größte Teil der importierten Industriegüter stammt aus der EU und deren Umgebung. Ein großer Teil der Öl- und Gasimporte kommt aus Europa, aus Russland und von Mittelmeeranrainern. Kohle als Energieträger und die sonstigen Rohstoffe kommen zumeist aus anderen Kontinenten. Durch die gemeinsame Währung des Euro besteht die Außenhandelsbilanz mit den Euroländern, und das ist der übergroße Teil des gesamten Außenhandels, allerdings nur noch rein rechnerisch. Ungleichgewichte zeigen damit nur noch private Schuldverhältnisse und nicht mehr solche unterschiedener Währungsgebiete an. Das hat die ökonomischen Außenhandelsbedingungen und -Interessen der BRD erheblich verändert. Der Bezug aller anderen Güter wird finanziell durch den Export in das Gebiet außerhalb von Euro-Land ermöglicht, ist also mit dessen Umfang und Reibungslosigkeit verbunden.
Kapitalexport: Direktinvestitionen
Ein zweites Feld transnationaler Verwertung des Kapitals von Unternehmen mit Sitz in der BRD, und damit eines Teils des Kapitals der bundesdeutschen Bourgeoisie, liegt im Export von Kapital für Investitionen (Direktinvestitionen). Diese dienen zum Teil der Einrichtung oder dem Aufkauf von Produktionsstätten auf den Zielmärkten oder auf ihnen benachbarten (etwa Mexiko für die USA). Ein anderer Teil dient der international koordinierten Produktion von Teilen für ein Gesamtprodukt oder der Herstellung von Endprodukten unter Billiglohnbedingungen unter Regie von Konzernen aus den Metropolen (z.B. Adidas und Nike). In Osteuropa spielen Investitionen in Zeitungen und Telekommunikation eine größere Rolle. Bedeutsam sind in der EU, teils sogar weltweit, inzwischen auch Investitionen in Versorgungsunternehmen für Wasser oder Energie. Dagegen kommt selbst in der EU der Aufkauf oder die Fusion von Banken und Versicherungen nur schleppend voran, wobei die bundesdeutschen Unternehmen eher zu den Übernahmekandidaten gehören als zu den Aufkäufern.
Freiheit von Ex- und Import ist hier meist vorausgesetzt, aber noch nicht hinreichend. Es wird also nicht nur der innere Markt für den Export geöffnet, sondern das exportierte Kapital muss sich ähnlich frei bewegen können wie das inländische, wenn es innere Konkurrenten gibt (z.B. Ford, Opel und IBM in der BRD, oder die BRD-Chemiefirmen in den USA). Also müssen der Arbeitsmarkt, der Zuliefermarkt, der Absatzmarkt, die technischen Bestimmungen, die Steuergesetze und der Kapitaltransfer zu gleichen Bedingungen möglichst frei zugänglich sein. Das gilt auch für die Tochtergesellschaften der Ölmultis in der BRD, die als solche Bestandteile eines auswärtigen internationalen Oligopols darstellen. Die Hindernisse können von den gleichen Umständen und Gegnern ausgehen wie beim Export – nur sind die Ansatzpunkt um vieles größer und vielfältiger. Man denke nur daran, wie die Prozessandrohungen gegen bundesdeutsche Konzerne in den USA den politischen Konjunkturen folgen, oder an französische Exportprobleme in die USA nach dem angedrohten Veto Frankreichs im UN-Sicherheitsrat im Zusammenhang mit der Irak-Frage.
Die Stabilität und Langfristigkeit des internationalen Währungsregimes ist für das Investitionsgeschäft noch erheblich wichtiger als beim Warenexport: Industrieinvestitionen amortisieren sich in Zeiträumen von 10-20 Jahren. Der allergrößte Teil am Bestand der Auslandsinvestitionen der BRD befindet sich in der EU und in Nordamerika, vor allem in den USA. Auch der Hauptteil des jährlichen Zuwachses, also der laufenden Direktinvestitionen, hat dort sein Ziel. Für die USA gilt umgekehrt das gleiche: Die gesamte EU und bevorzugt Großbritannien sind Hauptziele des Kapitalexportes. Ansonsten liegen die Dinge ähnlich wie beim Export: Ziele sind die Länder nach Rangfolge der Industrialisierung und Größe des jeweiligen Marktes, mit der Besonderheit von Ländern mit großen Wachstumsraten, wie im Moment etwa China. Die Industrialisierung und Durchkapitalisierung Indiens hat dagegen erst zögerlich begonnen.
Wertpapiere, Devisen und Geldkapital
Das dritte Feld transnationaler Kapitalverwertung für BRD-Unternehmen und Einzelkapitalisten ist die Kapitalanlage in Krediten, Wertpapieren (Anleihen, Aktien, Optionen), in Währungen und in Warentermingeschäften. Hier spielen die großen Börsenplätze, die großen Staaten und die großen Konzerne sowie die dabei beteiligten Banken eine zentrale Rolle. Die entsprechenden Einrichtungen der BRD gehören international nicht in die erste Liga. So dominieren die USA über die ökonomischen auch die rechtlichen Regulierungen, während England, Japan und die anderen Länder neben der BRD nur eine kleinere Rolle spielen. Die BRD-Bourgeoisie hat mit dem Verschwinden der DM einen großen Hebel für ihren internationalen Einfluss verloren. Beispielsweise wurden Großkredite der deutschen Banken vor der Asienkrise 1997 in erheblicher Größenordnung in die damaligen wachstumsstarken Schwellenländer in Asien vergeben; mit der Krise haben die hiesigen Banken dort riesige Mengen an Kapital verloren. Auch die relativ starke Stellung der BRD im Internationalen Währungsfonds (IWF) und in der Weltbank hat den BRD-Banken und ihren Eigentümern keinen verlustarmen Ausstieg aus dieser Krise ermöglicht.
Rohstoffe als Kapitalanlage
Ein viertes Feld internationaler Kapitalanlage – Extraktion, Transport, Lagerhaltung und Verkauf von Rohstoffen für Industrie und Nahrungsmittelherstellung – spielt für die BRD-Bourgeoisie in der Breite keine erhebliche Rolle. In Deutschland gibt es keine international bedeutsamen Rohstoffkonzerne, weder bei Energie, noch bei Metallen o. ä.. Das Engagement deutscher Energiekonzerne in der russischen Gasproduktion hat nach Größe der Anteile und Umfang der Bezüge bisher nur bundesrepublikanische Bedeutung. Nur in einigen kleinen, meist konsumnahen Feldern (z.B. Kaffee) sind einzelne Konzerne beim Aufkauf und der Vermarktung prominent vertreten, ihre Kapitalgrößen aber im Konzert der Großen unbedeutend.
Export von ideellen Produkten
Eine zunehmend wichtige Rolle spielt der Export von Blaupausen und Lizenzen. Er gehorcht anderen Bedingungen als der Export von Gütern und Dienstleistungen, wird allerdings statistisch meist als letzteres behandelt. Zentral sind hierbei Vertragssicherheit und Zahlungsfähigkeit. Daher haben die rechtlichen Institutionen hier noch größere Bedeutung als bei Gütern oder Investitionen. Hauptabnehmer sind vor allem die großen industrialisierten Länder. Dabei ist das Rechtssystem der USA entweder direkt zuständig oder häufig das rechtliche Bezugssystem. Um vor US-Gerichten nicht benachteiligt zu werden, müssen sich BRD-Unternehmen und -Bourgeoisie kooperativ zu den USA verhalten. Auch als „größte“ Exportnation hat die BRD allein zu wenig Gewicht. Das scheint sich gerade zu ändern, wenn es um die gemeinsamen Interessen der europäischen Staaten geht, wie die Kartellstrafe gegen Microsoft durch die EU-Kommission zeigt. U. a. in solchem Gewinn an internationalem Gewicht liegt heute ein erhebliches Interesse bundesdeutscher Unternehmen an der Vertiefung der EU-Integration und der Existenz des Euro.
4. Sicherung von Transportrouten als militärische Aufgabe?
Der größte Teil des Exportes der Bundesrepublik wird also in der EU und in Europa abgewickelt. Die entsprechenden Transportrouten sind militärisch und von den Interessenlagen der Beteiligten her nicht gefährdet. Das gilt selbst für die wenig gesicherten Verhältnisse im ehemaligen Jugoslawien, durch das die Landroute zur Türkei verläuft. Nimmt man einmal abstrakt an, dass einer der EU-Staaten seine Grenzen für den Außenhandel dicht macht, so wäre jede Überlegung, dies mit militärischer Drohung oder gar Aktionen der Bundeswehr rückgängig machen zu wollen, nicht nur militärisch, sondern auch politisch und ökonomisch unsinnig oder abenteuerlich. Für den Zugang nach Russland gilt das ebenso, wenn auch aus anderen Gründen. Und wiederum mit anderen Bedingungen gilt dis auch für die ehemaligen südlichen Republiken der Ex-UdSSR. Ebenso ist der Zugang nach Nordafrika, in den Nahen Osten und über die Landengen in den mittleren Osten nicht selbständig militärisch zu gewährleisten und am Horn von Afrika gibt es keine eigenständigen BRD-Interessen zu überwachen. Die Route an und um das Kap der Guten Hoffnung und weiter nach dem fernen Osten ist ebenfalls völlig außerhalb der Reichweite und Kapazität der Bundesrepublik. Das gleiche gilt, aus wiederum anderen Gründen, für die Routen nach den USA und Nordamerika sowie Südamerika.
Aus all dem ergibt sich, dass die Transportrouten für Güter und Rohstoffe, die für die BRD oder einzelne ihrer Konzerne eine herausragende Rolle spielen, ebenso bedeutsam für ihre ökonomischen Konkurrenten sind. Sie werden weder von den Konkurrenten noch von jemand Anderem bedroht, sind zu bedrohen oder unterliegen einem praktisch zu machenden Interesse an Unterbrechung oder Erpressung durch Staaten. Eine Ausnahme bilden vielleicht mittelfristig noch die Pipelines für Gas und Öl aus Russland in die BRD.
Im Hinblick auf Gefährdung oder Sicherung von Transportwegen gibt nicht nur das Interessenkalkül Aufschluss, sondern auch ein rein militärisch-geographischer Blick: Alle Meeresengen oder internationalen Kanäle, von den Schifffahrtsstraßen auf den Meeren nicht zu reden, können daraufhin überprüft werden, ob dort die BRD allein zu gefährden wäre oder sie dies militärisch allein abwenden könnte. Die militärischen Fähigkeiten einer auf sich gestellten BRD könnten, auch wenn sie erheblich vergrößert würden, eine Gefährdung durch erheblich schwächere Kräfte an nahen oder gar entfernten Punkten des Globus nicht ausschließen – falls die etwa gleichrangigen Mächte oder die USA nur zuschauen oder eine entsprechende Blockade unterstützen würden. Wer im Hinblick auf die Versorgungsrouten der BRD von einer wesentlichen Rolle der Bundeswehr spricht, die sie allein oder gar gegen vergleichbare Kräfte haben könnte, phantasiert oder versucht andere hinters Licht zu führen. Auch mögliche Versorgungsunsicherheiten bei Rohstoffen in den Herkunftsländern und nicht erst auf den Transportrouten wären aus gleichen Gründen für die BRD und ihre Bundeswehr außerhalb des eigenen Zugriffs. Planungspapiere bundesdeutscher Militärs, die derart argumentieren, sind in der Sache unseriös und sollen offenbar anderen Zwecken dienen.
Wenn dagegen die internationale Transportsicherheit von den wichtigen großen Handelsstaaten gemeinsam militärisch präventiv oder im Einsatz abgesichert werden soll, dann könnte die BRD außer über diplomatisches Gewicht (aber woher kommt dies?) natürlich auch über die Teilnahme eigener Kräfte Einfluss auf Ort, Zeit und Modalitäten solcher Sicherungen nehmen. Eine Alternative ohne eigene militärische Kräfte wäre die bare Zahlung oder die politische Unterstützung in anderen Fragen für den militärischen Einsatz anderer Staaten (Beispiele sind der erste und der zweite Golfkrieg). Aber welche staatliche oder nichtstaatliche Kraft wäre in der Lage, die Sicherheit der Transporte einer solchen internationalen Koalition unter Führung der USA zu Lande, auf dem Wasser oder in der Luft zu bedrohen? Auf mittlere Sicht niemand. Dagegen können nicht-staatliche Akteure mit punktuellen Anschlägen sehr wohl Unsicherheit verbreiten, wer immer sie engagieren oder finanzieren würde.
Sicherung, Zugang oder gar exklusive Nutzung einzelner Export- oder Investitionsmärkte in bestimmten Regionen durch die Bundeswehr bewerkstelligen zu lassen, was der klassischen Rolle des Militärs im Kolonialimperialismus entspräche, ist heute jenseits aller Realität. Alle größeren gegebenen oder künftigen Export- oder Investitionsfelder in der Welt sind dies ebenfalls für die Konkurrenten der BRD-Konzerne aus etlichen anderen Ländern. Eine nicht sehr wahrscheinliche Ausnahme könnte in Russland liegen. Vielleicht lassen sich dort gewichtige Bevorzugungen politisch erreichen, solange es noch nicht der WTO angehört. Das hätte aber ganz gewiss nichts mit der Rolle der Bundeswehr zu tun. Zudem gehören alle konkurrierenden Länder meist selbst zu den größten Absatz- oder Investitionsfeldern der BRD-Konzerne, sei es in Europa oder in Nordamerika. Der Binnenmarkt von Japan hat bis Anfang der 90er Jahre eine gewisse Ausnahme dargestellt – ist aber seit der Asienkrise 1997 mit ökonomischer Gewalt zum Teil für Investitionen aufgebrochen worden; ähnlich Südkorea. Selbst dort, wo BRD-Konzerne bei Neuinvestitionen ein Übergewicht haben, wie in vielen osteuropäischen Ländern nach deren Rekapitalisierung, könnte die Bundeswehr keine ernsthafte Sonderrolle spielen: Die USA haben sich über die Ausdehnung der NATO und die Waffengeschäfte eine militärisch-politische Vorrangstellung gesichert, die von der BRD in der NATO mit abgesegnet werden musste. Daher gibt es für sie keine Möglichkeit, mit militärischem Gewicht eine Regierung und ihre Wirtschaftspolitik zu beeinflussen, zu sichern oder zu stürzen, wie es die USA bei kleineren Ländern auch in jenen Zonen durchaus vermögen. Aber auch sie kombinieren ihr militärisches Gewicht gern mit dem Kauf von politischem Einfluss oder der Inszenierung „zivilgesellschaftlicher“ politischer Umwälzungen. Erst durch Einbeziehung dieser Länder in EU und Eurozone und damit sich entwickelnde Interessen der jeweiligen Bourgeoisien kann die BRD im Konzert mit den anderen EU-Mächten ihren Einfluss absichern, aber sicher nicht militäriasch. Das wird, wie bisher, vor allem über Subventionen und Aufträge sowie begleitend über die Bezahlung von Einfluss laufen. Militärausgaben für die Bundeswehr beschränken dabei eher den Spielraum für deren Finanzierung.
5. „Open Door“-Politik und Öl-Imperialismus: Zwei Seiten einer Medaille?
Seit 1945 gibt es immer weniger Weltgegenden, wo politisch exklusive ökonomische Felder für einzelne Länder oder Konzerne existieren. Die letzten kolonialen Reste wurden nicht zuletzt mit Hilfe des Druckes der USA liquidiert. Die USA haben im Prinzip und auch praktisch mit wenigen Ausnahmen eine Politik der offenen Tür vertreten und durchgesetzt. Fast überall, wo die USA Zutritt haben wollten, konnten auch die Konzerne anderer Länder aktiv werden – kleinere Vorteile und Diskriminierungen natürlich eingeschlossen. Alle anderen Länder sind auf diese Politik angewiesen, weil sie ihre früher exklusiven eigenen Binnenmärkte oder die Export- und Anlagemärkte nicht allein und isoliert behalten oder gewinnen können. Dabei spielt der Binnenmarkt der USA für Japan, Korea, Taiwan und heute für China für ihre Exportüberschüsse eine zentrale Rolle. Für die BRD und die anderen europäischen Länder gilt das gleiche bei den Investitionen, wobei allerdings die EU als Gesamtheit etwa die gleiche Größenordnung wie die USA hat.
Dass eine solche Koalition von Konkurrenten keine instabile Angelegenheit ist, leuchtet ein. Die faktische Führungsrolle der USA seit 1945 hält diese Koalition zusammen. Aber auch prinzipiell ist deren Dominanz schwer wegzudenken. Der Zusammenschluss der europäischen Konkurrenten könnte eventuell ein regionaler Ersatz für diese Führungsrolle der USA werden; er ist dies bisher aber nicht einmal in der Wirtschafts- und Währungspolitik. Die Abstimmung zwischen den Großakteuren USA und EU wird nicht reibungslos laufen. Die dramatischen Änderungen des Wechselkurses des Euro (von 1,10 zu 0,80 und jetzt wieder auf über 1,30 $), die wesentlich von der einseitig bestimmten Währungspolitik der USA verursacht wurde, zeigt dies zur Genüge.
Die Rüstungs- und Militärpolitik der großen EU-Länder ist weit von einer Größe und Qualität entfernt, die ihnen eine eigenständige militärische Rolle bei Stillhalten der USA erlauben würde – von der Situation militärischer Konkurrenz oder gar Entgegensetzung gar nicht zu reden.
Das Erdöl bildet hinsichtlich der „open door“-Politik der Vereinigten Staaten die bedeutsame Ausnahme. Das gilt trotz der vermutlich versprochenen kleineren Beteiligungen am irakischen Öl für Italien und Spanien als Belohnung für ihre militärische Beteiligung an der Besatzung. Großbritannien und die Niederlande sind dagegen als Herberge der großen Nutznießer, wenn nicht Auftraggeber, BP und Shell sowie ihrer Hauptaktionäre mit im Boot.
Im Irak hätten die USA gern den Anschein eines „kollektiven“ Imperialismus erweckt, mit dessen Hilfe sie sich den größten Brocken hätten aneignen können – vielleicht gelingt ihnen das ja beim wirklichen Hauptgewinn im Nahen Osten: dem Öl Saudi Arabiens. Bei solchen Themen, wo die USA mit ihrer Führungsrolle besondere oder gar ausschließende Interessen ihrer Konzerne vertreten, wie beim Öl oder der Rüstung, gibt es daher ernsthafte Konflikte mit ihren konkurrierenden Verbündeten, allerdings keine militärischen Drohungen oder Erpressungen. Diese könnten ironischerweise eher in der Androhung des Rückzuges der USA aus der NATO bestehen.
Wie wenig das ökonomische oder gar das militärische Gewicht der BRD weltpolitisch eine Rolle spielt, zeigt sich in der UNO und bei der Atombewaffnung. Weder haben die beiden europäischen Veto-Mitglieder im Sicherheitsrat, England und Frankreich, mit der BRD eine gemeinsame Politik entwickelt oder zugunsten eines gemeinsamen Europasitzes verzichtet, noch haben sie ihre exklusive Atombewaffnung abgebaut, sie koordiniert oder zu einer gemeinsamen europäischen Sache gemacht.
Selbst dort, wo die BRD eine militärisch gewichtige Rolle zu spielen scheint, im Kosovo, in Bosnien oder in Afghanistan, hat sie damit keinen ernsthaften politischen Einfluss oder ökonomischen Vorteil. Was immer dort an Aufträgen für deutsches Kapital abfällt, muss vorher vom deutschen Staat finanziert werden. Das wäre mit direkten Staatsaufträgen in der BRD leichter und lukrativer zu erledigen. Weder im Kosovo noch in Bosnien ist für das Kapital ernsthaft etwas zu holen. Jugoslawien war als sozialistisches Land potentiell ein viel lukrativeres Feld für Export und Investitionen, als es die gebeutelten kleinen Nachfolgestaaten allein oder zusammen genommen sind oder sein können. Das etwas prosperierende Slowenien als EU-Mitglied ist ökonomisch ein dürftiger Ersatz für das ehemalige Jugoslawien.
Auch in Afghanistan ist kein Gewinn in Sicht. Und die Verhinderung von ökonomischen Vorteilen für die Konkurrenten kann in beiden Regionen als rationales Interesse auch nicht unterstellt werden. Es kostet alles nur Geld und politischen Aufwand, eventuell auch innenpolitisch Einfluss für die jeweils regierende Partei, wie in Spanien und anderswo zu sehen war.
6. Militärische Rolle – im Bündnis oder als eigenständige Großmacht?
Der Überblick zeigt, was dem unvoreingenommenen Beobachter schon vorher klar war: Der Weltmarkt für Exporte und Investitionen in der entwickelten kapitalistischen Welt, in den sog. Schwellenländern und wahrscheinlich auch in den unterentwickelten Ländern steht der BRD und ihren Konzernen nur in Abstimmung und Konsens mit ihren Konkurrenten und dabei besonders mit den USA offen. Allein ist sie zur Sicherung dieses Weltmarktzugangs gegenüber allen halbwegs großen Staaten weder politisch noch ökonomisch oder gar militärisch in der Lage. Zudem besteht der größte Teil des Weltmarktes in den Anteilen am Binnenmarkt der Konkurrenten. Der Zugang kann nur auf Gegenseitigkeit erfolgen. Kleine Länder können gegenüber einem einzelnen der Großen immer die Schar seiner Konkurrenten ins Feld führen. Daher haben auch sie eine wohlwollend geduldete Existenz und ihre Konzerne genügend Spielraum ohne den Schutz eines großen Staates oder Militärs. Das Paradebeispiel ist die Schweiz mit ihren Weltkonzernen. Die Niederlande, Belgien, Dänemark, Schweden und Finnland oder auch Österreich in Europa sowie Taiwan, Malaysia, Singapur und Hongkong in Asien zeigen ähnliches.
Auch die finanzkapitalistischen Interessen des BRD-Kapitals und besonders seiner Banken beziehen sich vorrangig auf die entwickelten Länder, sind außerhalb Europas drittrangig und selbst in Europa keineswegs führend. Die großen Geschäfte in den „Tigerstaaten“ hatten sich 1997 als Fass ohne Boden erwiesen. Es wird dauern, bis die BRD-Banken wieder genug Kapital haben und wieder übermütig genug werden, um vergleichbar riskante Geschäfte zu tätigen. Sie sind natürlich auf das Bankensystem und die Währungsregulierung in den anderen Ländern angewiesen. Die Zentralbanken koordinieren die Zahlungsbilanzen sowie die Bankgeschäftsstandards mit Hilfe der „Bank für Internationalen Zahlungsausgleich“ in Basel (BIZ), die ihre gemeinsame private Institution ist. Man begegnet sich nicht nur als Konkurrent, sondern man organisiert auch die Regeln für die Konkurrenz und deren Feld gemeinsam.
Woher also sollten Interessen der (west-)deutschen Bourgeoisie stammen, aus denen imperialistische Strategien und Abenteuer mittels einer für solche Zwecke kräftemäßig völlig ungeeigneten Militärmacht entspringen könnten? Das soll sich in einer seit 1945 völlig neuen Weltlage zutragen, in der ihr spätestens seit 1949 durch die USA alle Türen geöffnet wurden und offen gehalten werden; und in der ihr seit 1989/91 sogar die Welt der ehemaligen vierten und wichtigsten Macht der Anti-Hitlerkoalition zugänglich wird – diesmal ganz ohne Krieg und Militär.
Was immer also vom Ausbau der Bundeswehr, ihren „weltweiten“ Aktivitäten oder Ambitionen zu sehen ist – eine Begründung in rational kalkulierbaren ökonomischen Interessen der BRD-Bourgeoisie, die, abgehoben von denen der anderen Bourgeoisien, dadurch gesichert, erworben oder vertreten werden könnten, ist nicht auszumachen. Selbst die Großmannssucht und der professionelle Spieltrieb der Militärs und ihrer Minister, die man keineswegs ausschließen sollte, findet in der NATO bessere Betätigung. Die Militärführer können im Bündnis der Führungsmacht über mehr Personal und Technik kommandieren, als sie es je allein zu Hause könnten. Ohne die USA und die NATO wäre die Bundeswehr weder auf dem Balkan noch am Horn von Afrika oder in Afghanistan im Einsatz und auch nicht einsatzfähig.
Die Interessen für die Aktivitäten müssen wohl in anderen Feldern und Zusammenhängen gesucht werden. Wahrscheinlich ist die Erklärung dafür relativ einfach. In jedem Club von Geschäftemachern oder Räubern, die gemeinsam tätig sind, spielen der Beitrag zu den gemeinsamen Maßnahmen und das Vetopotential für den Spielraum des eigenen Interesses eine Rolle. Wenn der Club noch dazu von einer übermächtigen Führung zusammengehalten wird, kommen die Privilegierung durch oder die Unentbehrlichkeit für die Führung hinzu. Das kann man historisch durchdeklinieren: z.B. das Verhältnis von Königen und ihren adeligen Vasallen im Feudalismus, ökonomisch – z.B. die Herausbildung von Kartellen und Oligopolen, militärisch – z.B. bei Militärunternehmern alter und neuer Spielart. Bei kriminellen Banden und selbst bei jugendlichen Straßengangs gilt der gleiche Mechanismus.
Das trifft eben auch für das Verhältnis der USA, ihrer Konzerne und ihrer Bourgeoisie zu ihren Bündnispartnern zu, die auch ihre Vasallen und ihre Konkurrenten sind. Durch die USA wurde und wird die weltweite Integration von Wirtschaftsräumen vorangetrieben. Das geschieht mittels der einzelstaatlichen Apparate für Verwaltung, innere Ordnung, Politik und Militär, die sich frühzeitig und zeitgleich mit dem Kapitalismus herausgebildet haben. Obgleich sie inzwischen einzeln geographisch zu beschränkt sind, bleiben sie immer noch erforderlich. Diese „individuelle“ und heterogene staatliche Organisationsweise des Kapitals, der Bourgeoisien und Gesellschaften erzeugt bei den Vasallen, Konkurrenten und Klassengenossen genug Interessen und Motive, um einen militärischen Apparat auf- und umzubauen und an allen möglichen Aktivitäten der Führungsmacht auch ohne eigene definierte ökonomischen Interessen, mehr oder weniger willig teilzunehmen.
Natürlich kann es sein, dass in der (west-)deutschen Bourgeoisie und den staatlichen Apparaten weiterhin oder wieder Phantasien über eine eigenständige Großmachtrolle geträumt werden, evt. nationalistisch, rassistisch oder faschistisch unterfüttert und mit einem europäischen „Arm“ ausgestattet. Dem muss man entgegenwirken – aber dass dies der „Zug der Zeit“ wäre, lässt sich wohl nur mit einem traumatisierten Blick zurück auf die Weltkatastrophen befürchten, die die deutsche Bourgeoisie ausgelöst oder angerichtet hat und die die deutsche Linke nicht zu verhindern vermochte.
[1] Vgl. z. B.: Globalisierung und Krieg (Verf. C.Haydt, T.Pflüger, J.Wagner), Attac Basis Text 5, Hamburg 2003; Weltordnungskriege und Gewaltökonomien. ISW-Report Nr. 58 (Hrg. Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung), München 2004; Th. Pflüger, J. Wagner, Europas künftige Kriege, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2005, S.715-724; Arno Neuber, Militärmacht Europa. Die EU auf dem Weg zur globalen Interventionsmacht. ISW-Report Nr. 56, München 2003.
[2] Beispielhaft: Frank Deppe u.a., Der neue Imperialismus, Heilbronn 2004.
[3] Vgl. vom Verf.: Globalisierung und Imperialismus. Neue Erscheinungen in der Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaftsformation, in: Unsere Zeit - Zeitung der DKP, 24. September 1999; Zur Entwicklung des Imperialismus, in: Marxistische Blätter 2/2000, S. 52 ff; Kapitalismus in der Welt - Weltkapitalismus?, in: Marxistische Blätter 5/2001, S. 23 ff; In welcher Welt leben wir denn?, in: Marxistische Blätter 1/2005, S. 65 ff.
[4] Dieter Lohaus, Ein unerledigtes Geschäft – Die USA und das Öl der Verweigerer Iran und Irak, in: Marxistische Blätter 5/2001, S. 47 ff
[5] Vgl. die Rolle des so genannten Hufeisenplans bei der Rechtfertigung des Angriffs auf Serbien (http://de.wikipedia.org/wiki/Hufeisenplan).
[6] Vgl. R. McNamara (US-Verteidigungsminister während des Vietnamkrieges), In Retrospect: The Tragedy and Lessons of Vietnam, New York 1995. Vgl. auch: Interview mit McNamara von Brian Lamb, Air date: April 23, 1995: http://www.giaodiem.com/FotoNews/interv_Namara.htm.
[7] Beispiele: Aktuell Waffenhändler Schreiber und Exstaatssekretär Pfahls; ehedem die Affären um Starfighter sowie Schützenpanzer SS30 unter Verteidigungsminister Strauß. Der Lobbyist in eigener Sache als Regierungschef (Berlusconi) dürfte eher die Ausnahme sein. Noch unklar ist wohl, wie sehr die kleineren Ölgeschäfte des Bush-Clans und die Zuliefergeschäfte der Firma Halliburton, mit der Vize-Präsident Cheney verbunden ist, in das Zentrum des wirklich großen Coups zur Eroberung der Rente des Irak-Öles für die großen Ölkonzerne gehören – es geht immerhin um über 2 Billionen bei einem Barrelpreis von 25 $.
[8] Vgl. J. Miehe: Öl, Profit und Terror, in: Junge Welt, 25.09.2001; sh. Auch Anmerkung 4.
[9] Vgl. die Auseinandersetzungen um Kriegsabsichten und Kriegsschuld beim Ersten Weltkrieg oder aktuell um den Krieg gegen Jugoslawien. Zu letzterem: Peter Gowan, Die NATO-Mächte und die Balkan-Tragödie, in: Z 38 (Juni 1999), S. 53 ff.
[10] Vgl. die. in Anm. 1. angegebene Literatur.