Im Dezember 2004 veröffentlichte die damalige Sozialministerin Fischer im Rahmen der NRW-Sozialberichterstattung den ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Landesregierung.[1] Die Medien ignorierten ihn. Im Folgenden werden ausgewählte Befunde und Botschaften dargestellt und kommentiert, die entweder ausdrücklich im Bericht enthalten sind, oder die sich aus den dort enthaltenen Angaben ergeben.
1. Armutsbericht
Wegen methodischer Unterschiede sind die Angaben des Landesberichts zu Armutsgrenze und Armutsquoten (von Armut betroffene Bevölkerungsanteile) nicht mit denen des Bundesberichts vergleichbar. Der augenfälligste Unterschied besteht darin, dass der Landesbericht die Schwelle von 50% des durchschnittlichen bedarfsgewichteten Haushaltsnettoeinkommens (Nettoäquivalenzeinkommen) als maßgebliche Armutsgrenze verwendet, während der Bundesbericht entsprechend heutiger EU-Gepflogenheiten die 60%-Schwelle zu Grunde legt. Der NRW-Bericht bestimmt daher die Armutsgrenze für Einpersonenhaushalte (2003) mit 604 Euro monatlich, der Bundesbericht mit 938 Euro.
Der Berichtsteil über Armut in NRW wurde vom Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik (LDS) verfasst und basiert auf Daten der Jahre 1996 bis 2003. Deshalb sollte man sich bei der Betrachtung der Befunde vergegenwärtigen, dass sich mit der Gesundheitsreform 2004 und mit Hartz IV 2005 die festgestellten Probleme eher vergrößert als verringert haben.
Armutsquote(n) und Sozialhilfequote
Die Armutsquote (50%-Schwelle) in NRW veränderte sich zwischen 1996 und 1999 kaum und stieg ab dem Jahr 2000 auf einen Höchststand von 15,0% in 2002. Der leichte Rückgang im Jahr 2003 (14,8%) ist nicht Folge von Verbesserungen in der Lebenssituation von Armen, sondern umgekehrt eines Rückgangs der durchschnittlichen bedarfsgewichteten Nettoeinkommen der Bevölkerung (Tab. S. 201).
Über den ganzen Zeitraum bei 25% nahezu konstant blieb die „Armutslücke“. Dieser Wert gibt an, um wie viel das Durchschnittseinkommen der Armutsbevölkerung unter der Armutsgrenze (50%-Schwelle) liegt. Anders ausgedrückt: die Durchschnittseinkommen der Armen lagen bei 37,5% des Durchschnittseinkommens der Bevölkerung. Bei Einpersonenhaushalten in 2003 entsprach das 453 Euro.
Die Armutsquote der 60%-Schwelle (Armutsschwelle des Bundesberichts) stieg in diesem Zeitraum von etwa 22% in 1996 auf 25% in 2002. Danach ging sie etwas mehr zurück als die 50%-Quote. Besorgniserregend ist aber die Entwicklung bei der 40%-Quote der „strengen Armut“. Diese stieg weiter an. Damit scheint sich die Entwicklung der strengen Armut, die bislang im Gleichklang mit den Quoten der beiden anderen Schwellenwerte verlief, entkoppelt und verselbständigt zu haben.
Bedrückende Fragestellungen ergeben sich auch aus dem Vergleich der Armuts- und Sozialhilfequoten (Tab.1):
Tab. 1: Armutsquote und Sozialhilfequote NRW (jeweils je 100 Personen der Bevölkerung)
Tabelle siehe Datei zum Download!
Daten: Bericht, Tabellen S. 201 und 207; eigene Darstellung
Die Zunahme der Armutsquote bildet sich in der Entwicklung der Sozialhilfequote überhaupt nicht ab. Vielmehr lag die Sozialhilfequote 2002 noch leicht unter dem Wert von 1996. Zudem zeigt sich eine enorme Kluft zwischen den beiden Quoten, die sich im Zeitverlauf noch deutlich vergrößert hat. Betrug die Armutsquote 1996 das 3,3fache der Sozialhilfequote, so war es 2002 mehr als das Vierfache.
Der Bericht selbst setzt die beiden Quoten nicht in Beziehung und fragt daher auch nicht, was daraus zu folgern wäre. Neben der Dunkelziffer (Nicht-Inanspruchnahme von Sozialhilfe trotz bestehendem Anspruch), die noch einen Faktor zwischen 0,5 bis 1,0 erklären könnte, sowie der ggf. vorrangigen Verwertung von „Vermögen“ (in der Armutsquote unberücksichtigt) vor Sozialhilfe dürfte hier aufscheinen, worauf Sachverständige bereits seit 20 Jahren hinweisen: dass nämlich die Sozialhilfe ihre Funktion eines Schutzes vor Armut und sozialer Ausgrenzung in erheblichem Umfang verfehlt – und damit auch ihren aus dem Menschenwürdegrundsatz von Artikel 1 Grundgesetz abgeleiteten sozialstaatlichen Auftrag. Mit Hartz IV und dem SGB XII dürfte das nicht besser geworden sein. Nicht zuletzt wird hier auch deutlich, wie abwegig es ist, den Bezug von Sozialhilfe oder jetzt ALG II als „bekämpfte Armut“ darzustellen, wie dies durchgängige Praxis aller Bundesregierungen war.
Die Untersuchung gruppenspezifischer Armutsrisiken (Tab. 2) bestätigt die schon bekannten Bilder:
Tab. 2: Soziale Gruppen mit hohem und mit geringem Armutsrisiko in NRW
Tabelle siehe Datei zum Download!
Daten: Bericht, Abbildungen S. 204,205; eigene Darstellung
1 Prozentwerte des Durchschnittseinkommens der Gruppen bezogen auf das Durchschnittseinkommen aller Haushalte (= 100%).
2 Anteil der Armen (50%-Schwelle) an der jeweiligen Gruppe
3 Mit jedem weiteren Kind steigt das Armutsrisiko
Altersarmut
Was in der obigen Durchschnittsbetrachtung der über 65Jährigen verschwindet, ist das Problem der Altersarmut. Der Bericht liefert dazu folgende Befunde: Gut 35% aller über 65Jährigen in Privathaushalten leben in Einpersonenhaushalten. Bei den Frauen ist es etwa die Hälfte. Bei beiden Geschlechtern steigt der Anteil der Alleinlebenden mit dem Alter; bei den über 80jährigen Frauen sind es 72%.
Bei drei Vierteln der Alleinlebenden im Rentenalter liegen die Nettoeinkommen unter 1.500 Euro, bei gut 28% unter 900 Euro monatlich (S. 271) und damit deutlich unter der Armutsgrenze des Bundesberichts. Bei den allein lebenden Frauen betrifft dies jede Dritte. Zwei Drittel der älteren Sozialhilfebeziehenden sind Frauen (S. 272). Auch ein Viertel der Mehrpersonenhaushalte (Paarhaushalte) muss mit 900 bis 1.500 Euro auskommen (S. 271). Altersarmut ist besonders bei den MigrantInnen konzentriert. Zwei von fünf (38,8%) der über 65jährigen MigrantInnen sind betroffen (S. 275). Die Armutsquote liegt hier auf dem gleichen Niveau wie in der Migrationsbevölkerung generell.
Hinter der leicht überdurchschnittlichen Einkommensposition der Älteren und ihrer relativ geringen durchschnittlichen Armutsquote verbirgt sich eine erhebliche Ungleichheit innerhalb der Altersbevölkerung selbst. Wie der Bericht ausdrücklich feststellt, ist die Ungleichverteilung unter den älteren Menschen überdurchschnittlich hoch. Das sollte man wissen, wenn in den Medien über die „reichen Alten“ berichtet wird, für die Rentenkürzungen doch kein ernsthaftes Problem seien.
2. Reichtumsbericht
Dem Reichtumsbericht vorangestellt ist ein Aufsatz von Friedhelm Hengsbach und Tobias Jakobi, der unter dem Titel „Reichtum in Nordrhein-Westfalen – eine sozialethische Reflexion“ auch eine bewertende Zusammenfassung des Berichts bietet. Der Berichtsteil über Einkommens- und Vermögensreichtum stammt vom Statistischen Landesamt. Er betrachtet nicht allein das obere Ende der Hierarchie, sondern liefert auch Angaben zur Verteilungssituation insgesamt. Ihm folgt eine Analyse über den Zusammenhang von privatem Reichtum und öffentlicher Armut, die vom Internationalen Institut für Sozialökonomie (INIFES) erarbeitet wurde. Darin sind auch Analysen zur Verteilungswirkung des Steuer- und Abgabensystems enthalten.
Kritisch kann angemerkt werden: Wie auch andere „amtliche“ Berichte erfasst auch dieser nur Vermögen von Personen, nicht aber von Unternehmen mit eigener Rechtsform. Damit bleibt wie so oft ein erheblicher Teil des privaten Reichtums außerhalb der Betrachtung.
Der Bericht beschränkt sich auf eine sechs Jahre zurück liegende Momentaufnahme des Jahres 1998. Begründet wird dies damit, dass aktuellere Datengrundlagen (die Steuerstatistik und die zuletzt ausgewertete Einkommens- und Verbrauchsstichprobe/EVS) noch nicht verfügbar waren. Das ist bedauerlich, weil eine Vielzahl verteilungspolitisch bedeutsamer Entscheidungen im Steuer- und Sozialrecht erst nach 1998 wirksam geworden sind. Deren Auswirkungen muss man sich bei den Befunden für 1998 wiederum „hinzudenken“.
Wie der Bericht dankenswerter Weise selbst darlegt, können weder die Steuerstatistik noch die EVS den tatsächlichen Einkommens- und Vermögensreichtum zutreffend abbilden. Die Steuerstatistik kann nur Einkommen erfassen, die beim Finanzamt auch deklariert wurden, nicht aber hinterzogene Erwerbs- und Vermögenseinkommen, deren Umfang bekanntlich nicht unerheblich ist. Unberücksichtigt bleiben auch Einkommen unterhalb des Grundfreibetrags (S. 50).
Bei der EVS sind Haushalte mit Monatseinkommen von mehr als 17.900 Euro nur in so geringem Umfang einbezogen, dass sich daraus keine tragfähigen Aussagen mehr hochrechnen lassen. Der Bericht zitiert hierzu den wissenschaftlichen Befund, dass die in der EVS von 1993 erfassten Geldvermögen lediglich einem Anteil von 57% der Gesamtwirtschaftlichen Geldvermögensrechnung der Deutschen Bundesbank entsprachen, so dass 43% der tatsächlichen Geldvermögen in der EVS unberücksichtigt blieben (S. 52).
Vermögen
Bezug nehmend auf die notorische Untererfassung des realen Reichtums stellen Hengsbach und Jakobi in ihrem Beitrag fest, dass „amtliche Reichtumsberichterstattung den Reichtum immer noch aus der Froschperspektive betrachtet“. Sie halten es da eher mit den Kriterien der Reichen selbst – etwa des früheren Bundesbankpräsidenten Karl Otto Pöhl, der Haushalte mit einem Nettovermögen von mehr als fünf Millionen D-Mark nur als „wohlhabend“ einstufte und die Grenze für Vermögensreichtum bei 10 Millionen ansiedelte. „Größere“ Vermögen begannen für Pöhl bei 20 Millionen, und eine Grenze für „große“ Vermögen mochte er nicht angeben (S. 35).
Die Befunde zu den Vermögen und ihrer Verteilung in NRW bestätigen im Wesentlichen die entsprechenden Botschaften aus der Bundesberichterstattung über die Ungleichverteilung der Vermögen und deren Konzentration an der Spitze der Reichtumshierarchie. Der Bericht unterstreicht auch die erhebliche Rolle, die Erbschaften – 2002 bearbeitete die NRW-Finanzverwaltung Nachlässe im Volumen von 5,2 Mrd. Euro (S. 107) – bei der Verstärkung der Ungleichverteilung spielen, weil von Erbschaften und Schenkungen vor allem ökonomisch ohnehin privilegierte Personen profitieren (S. 180/INIFES).
13% der Bevölkerung verfügen über keinerlei positives Vermögen (S.103). Auch zusammengenommen sind die beiden unteren Zehntel im Durchschnitt verschuldet. Erst bei Hinzunahme des dritten Zehntels ergibt sich ein positiver Vermögensdurchschnitt, der jedoch noch deutlich unterhalb der sozialhilferechtlichen Schonvermögensgrenze liegt.
Zwei Drittel des gesamten Nettovermögens (Geld- und Immobilienvermögen abzüglich Schulden) privater Haushalte sind in Händen des obersten Fünftels der Haushalte, 45% im Besitz des obersten Zehntels und 30% allein beim obersten Zwanzigstel. Der Vermögenskonzentration „oben“ folgt die wachsende Bedeutung der Vermögen für die Nettoeinkommen. Im obersten Zehntel tragen Vermögenseinkommen durchschnittlich 29% zu den Nettoeinkommen bei.
Insgesamt summierten sich die (erfassten) Vermögenseinkünfte in NRW 1998 auf gut 34 Mrd. Euro - mehr als das Fünffache des Haushalts des damaligen Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales.
Tab. 3: Nettovermögen und Vermögenseinkommen privater Haushalte in NRW (Durchschnittswerte; EVS 1998)
Tabelle siehe Datei zum Download!
Daten: Bericht, Abb. S. 123, Tab. S. 132, Tab. S. 416; eigene Darstellung (Dezil: Zehntel)
1 Die Angabe aus der korrigierten Tabelle S. 416 erscheint wegen der in der Abb. S. 123 dargestellten Verschuldung des 1. Dezils nicht plausibel.
2 Wegen sehr geringer EVS-Erfassung nur mit Vorbehalt.
In der zusammenfassenden Betrachtung stellt der Bericht fest: „Die aufgezeigten Daten besagen zudem, dass das Ziel staatlicher Vermögenspolitik, auch mittels der Besteuerung der Vermögenseinkünfte und –bestände (auch bei ihrer Übertragung in Gestalt von Erbschaften), zu einer gleichmäßigeren Verteilung der Vermögen bzw. Vermögenseinkünfte zu gelangen, bisher nicht erreicht wurde, obwohl eine breitere Vermögensstreuung immer auch zum Zielkatalog der sozialen Marktwirtschaft gehörte.“ (S. 181)
Der Bericht bestätigt erwartungsgemäß den engen Zusammenhang zwischen Einkommens- und Vermögensreichtum. Hohe Einkommen bilden entsprechende Vermögen, und die Vermögenseinkommen steigern wiederum die Einkommen.
Einkommen
Nach einer Grafik zur Entwicklung der relativen Einkommenspositionen bei den Haushalten von Selbstständigen, ArbeitnehmerInnen, Erwerbslosen, RentnerInnen und Sozialhilfeberechtigten zwischen 1972 und 2002 (S. 180) waren seit Anfang der 1980er Jahre allein die Selbstständigen in der Lage, ihre Einkommensposition erheblich zu verbessern. Bei den anderen Gruppen hat sich relativ wenig getan. Die Lohn- und Gehaltsempfänger bewegten sich knapp unterhalb des Durchschnittseinkommens. Bei den Sozialhilfebeziehenden zeigt sich ein stetig leicht rückläufiger Trend, ähnlich seit Anfang der 80er Jahre bei den RenterInnen.
Es würde hier zu weit führen, die verwendete Methode zur Untersuchung von Einkommen und Einkommensverteilung im Einzelnen zu erläutern. Vereinfachend kann man sagen, dass eine „Brutto-Ebene“ und eine „Netto-Ebene“ dargestellt werden. „Brutto“ meint hier Einkommen ohne jede Beeinflussung durch das Steuer- und Abgabenrecht; „Netto“ ist das, was sich nach Steuern und Abgaben ergibt. Dabei wurden sowohl gesetzliche und private Sozialversicherungsbeiträge einbezogen als auch staatliche und öffentliche Transfers – wie etwa Sozialleistungen, Steuervergünstigungen und steuerliche Subventionen. Dadurch richtet sich der Blick maßgeblich auch auf die Frage nach den Verteilungswirkungen des Steuer- und Abgabensystems insgesamt. Hierzu liefert der Bericht unter anderem die folgenden Befunde:
Das oberste Zehntel der Einkommensbezieher vereinigt zunächst („Brutto“-Ebene) allein ein Drittel der gesamten Einkommen auf sich. Nun wäre eigentlich anzunehmen, dass das Steuer- und Abgabensystem zumindest für eine gewisse Verringerung dieser Ungleichverteilung sorgt. Tatsächlich ist aber das Gegenteil der Fall. Bei den „Netto“-Einkommen fällt der Anteil des obersten Zehntels nochmals größer aus und beträgt dort 35,6%. (S. 72)
Die folgende Tab. 4 stellt Angaben zum Durchschnitt aller Steuerpflichtigen dem gegenüber, was sich innerhalb des obersten Zwanzigstels abspielt.
Bei den Markteinnahmen („Brutto“) liegt zwischen dem Durchschnitt aller Steuerpflichtigen und den obersten Tausend der Faktor 182. Aber bei den Nettoeinkommen ist es der Faktor 202. Mit anderen Worten: Das Steuer- und Abgabensystem verbessert die Verteilungsposition der obersten Tausend nochmals um das 20-Fache des durchschnittlichen Nettoeinkommens. Eine wesentliche Rolle scheinen dabei die Steuervergünstigungen und Werbungskosten zu spielen, die in der Spitze zu erheblichen Verteilungsgewinnen beitragen.
Deutlich wird hier auch eine enorme Ungleichheit der Verteilung innerhalb der obersten fünf Prozent selbst. Während die obersten fünf Prozent im Durchschnitt ein fünfmal so hohes Nettoeinkommen haben wie der durchschnittliche Steuerpflichtige, haben die obersten Tausend 38mal so viel wie der Durchschnitt der obersten fünf Prozent. Nicht nur Vermögens-, sondern auch Einkommensreichtum ist in extremer Weise an der Spitze der Einkommenshierarchie konzentriert. Die allgemein übliche Darstellung der Verteilung nach Bevölkerungszehnteln („Dezilen“) verschleiert eher das Ausmaß der tatsächlichen Ungleichverteilung.
Tab. 4: Einkommensverhältnisse nach Steuerpflichtgruppen: Reichtumsförderung durch das Steuersystem
Tabelle siehe Datei zum Download!
Daten: Bericht, eigene Berechnungen; eigene Darstellung
1 zzgl. Steuervergünstigungen, abzgl. Werbungskosten
2 zzgl. Kindergeld, abzgl. Sonderausgaben, außergewöhnl. Belastungen, Steuerbegünstigung Wohnen, ESt, Solidaritätszuschlag, Sozialversicherungsbeiträge
3. Belastungs- und Verteilungswirkung des Transfersystems
Im INIFES-Berichtsteil werden die Verteilungs- und Belastungswirkungen des Transfersystems (Steuern, Abgaben sowie private Transfers) für bestimmte Bevölkerungsgruppen untersucht. Dabei wird festgestellt: Unter den Erwerbstätigenhaushalten weisen die Lohnabhängigenhaushalte die höchsten Steuer- und Abgabenquoten auf. Bei ArbeiterInnen sind es 31%, bei Angestellten 33%. Aus nahe liegenden Gründen haben Erwerbslosenhaushalte die niedrigste Steuer- und Abgabenquote (10,2%). Aber die zweitniedrigste von 18,8% haben die Selbständigen außerhalb der Landwirtschaft (S. 149).
In einem weiteren Schritt wird betrachtet, wie sich die effektiven Einkommensbelastungen unter Einbeziehung von positiven öffentlichen und privaten Transfers, also etwa Sozialleistungen und Unterhaltszahlungen, darstellen. Hier fällt die Ungleichbelastung noch schärfer aus. Mindert sich das ursprüngliche Markteinkommen von Angestellten dann „effektiv“ um 23,1%, sind es bei ArbeiterInnen 20,2%. Bei Selbständigen außerhalb der Landwirtschaft sind es ganze 8,2%. Angestellten sind also „unterm Strich“ durchschnittlich fast dreimal so hoch und ArbeiterInnen zweieinhalb mal so hoch belastet wie Selbständige.
Diese Befunde ergeben sich trotz der progressiven Einkommensbesteuerung (mit steigenden Einkommen steigender Steuersatz). Im Ergebnis der Ursachenforschung hebt der Bericht zwei Faktoren hervor, die für die dem Sozialstaatsgebot entgegen gesetzte Verteilungswirkung des Steuer- und Abgabensystems maßgeblich verantwortlich sind: die Verbrauchssteuern und die Beitragsbemessungsgrenzen in der Sozialversicherung.
Die Belastung durch Verbrauchssteuern, also vor allem die Mehrwertsteuer, ist umso höher, je stärker das Einkommen in den Konsum geht. Die Sozialversicherungsbeiträge setzen bekanntlich schon bei den kleinsten sozialversicherungspflichtigen Einkommen mit dem vollen Beitragssatz ein, während die Belastungswirkung bei den Einkommen oberhalb der Beitragsbemessungsgrenzen immer kleiner wird, je höher das Einkommen ist. Beitragsbemessungsgrenzen und Verbrauchssteuern sorgen im Ergebnis dafür, dass die Zielsetzung der progressiven Einkommensbesteuerung, die „stärkeren Schultern“ auch stärker heranzuziehen, nicht nur nicht erreicht, sondern ins Gegenteil verkehrt wird.
Am unteren Ende der Einkommenshierarchie führen allein die Sozialversicherungsbeiträge bereits zu einer starken Einkommensminderung. Im oberen Viertel der Haushalte wird dagegen allein durch die Wirkung der Beitragsbemessungsgrenzen die Steuerprogression vollständig kompensiert. (S. 155)
Mit seinen Sachbefunden drängt der Bericht geradezu die Schlussfolgerung auf, zur Verringerung der Einkommensungleichheit die Beitragsbemessungsgrenzen abzuschaffen und/oder den Spitzensteuersatz anzuheben.
Verteilungswirkung öffentlicher Infrastrukturen
Aber das ist noch nicht alles. Anhand der beiden Beispielsfälle Gesundheitswesen und Schulwesen wird auch untersucht, in welchem Umfang öffentlich finanzierte Infrastrukturen einkommensschwächeren und –stärkere Gruppen zu gute kommen. In beiden Fällen wird belegt, dass einkommensstärkere Gruppen hierbei stärker profitieren als einkommensschwächere.
Einkommen und die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen sind positiv miteinander verknüpft, allerdings genau anders herum, als es der vielfältig belegte Zusammenhang von Armut mit Krankheit und Frühsterblichkeit vermuten ließe (vgl. Tab. 5). Im einkommensstärksten Zehntel geht man fast doppelt so oft zum Arzt wie im ärmsten Zehntel und lässt sich deutlich häufiger im Krankenhaus behandeln.
Für die zum Abitur führenden Schulformen, die stärker von Kindern Besserverdienender genutzt werden, werden je SchülerIn mehr öffentliche Mittel aufgewendet als für Schulformen, in denen sich die Kinder der „kleinen Leute“ konzentrieren. Grund-, Real- und Berufsschulen fallen im Mitteleinsatz stark zurück (S. 163). Dazu kommt, dass die Bildungsergebnisse aller Schulformen nur mit zusätzlichem Einsatz privater Mittel der Eltern (Nachhilfeunterricht, Lernmittel) erzielt werden. Es kann kaum überraschen, dass diese privaten Bildungsaufwendungen das Bild bestätigen, wobei hier aber die GrundschülerInnen besonders schlecht abschneiden (S. 66).
Tab. 5: Arztbesuche und Krankenhausaufenthalte der Wohnbevölkerung im Alter von 16 und mehr Jahren 2000/2001 in Nordrhein-Westfalen und in den alten Bundesländern*
Tabelle siehe Datei zum Download!
* Datenbasis: Sozio-ökonomischer Panel --- Tabelle: INIFES (Dezil: Zehntel)
4. Öffentliche Armut
Hier wird der Frage nachgegangen, woher die notorischen Haushaltsprobleme der öffentlichen Hand und insbesondere des Landes und der Kommunen kommen. Der Bericht macht deutlich, dass dies jedenfalls nicht an dem liegt, was im Allgemeinen behauptet wird – dass nämlich der Sozialstaat zu teuer geworden sei.
Die Sozialleistungsquote (Anteil aller Sozialleistungen am BIP) ging in der Bundesrepublik seit 1975 (31,4%) bis 1990 kontinuierlich zurück und stieg erstmals 1996 (31,9%) leicht über den Wert von 1975 – und das trotz der zu bewältigenden Folgelasten des DDR-Anschlusses. Mit anderen Worten: der Sozialaufwand für Ostdeutschland ging im Wesentlichen zu Lasten des Sozialaufwands in Westdeutschland.
Der Bericht konstatiert die langjährigen Anstrengungen des Landes NRW und der Kommunen, ihre Haushalte zu konsolidieren und die Ausgaben nach Möglichkeit zu senken. Bei den nordrhein-westfälischen Kommunen sind die Ausgaben seit 1995 auch in absoluten Zahlen erheblich zurückgegangen (Abb. S. 173), maßgeblich auch durch Stellenabbau in der Kommunalverwaltung. Trotzdem stellt sich kein Konsolidierungserfolg ein, weil – ebenso wie beim Land - die Einnahmeentwicklung immer wieder einen Strich durch die Rechnung macht. Der Bericht verdeutlicht, dass die öffentlichen Haushalte der unzureichenden Einnahmeentwicklung hinterher sparen, ohne das Konsolidierungsziel erreichen zu können. Das Problem der defizitären Haushalte liegt, so der Bericht ausdrücklich, nicht auf der Ausgabenseite, sondern auf der Einnahmeseite (S. 185). Bezüglich der Steuereinnahmen des Landes wird festgestellt: „Parallel zur Entwicklung im Bund insgesamt ist auch für die Landesebene eine Entwicklung zu verzeichnen, bei der die ‚Massensteuern’ (Lohn- und Verbrauchssteuern), also die vorwiegend von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und ihren Familien getragenen Steuern, immer einseitiger den Hauptteil zu den Staats- bzw. Landeseinnahmen beitragen. Von der Entwicklung der beiden vorgenannten Steuerarten unterschied sich das Aufkommen von Steuern auf Gewinne/Vermögen diametral.“ (S. 174)
Der Bericht referiert dazu einige Zahlen und erinnert an den regelrechten Absturz des Steueraufkommens aus Gewinnen und Vermögen ab dem Jahr 2000. Der Anteil der Gewinnsteuern an den Steuereinnahmen des Landes betrug 1990 noch 30%; 2001 waren es nur noch 22%. Wesentlich dazu beigetragen hat die Abschaffung der Vermögensteuer 1996, die zu Beginn der 90er Jahre noch die drittwichtigste Landessteuer unter den Gewinn- und Vermögenssteuern war. Dagegen stieg der Anteil der Lohn- und Verbrauchssteuern im gleichen Zeitraum von knapp 70 auf 78%.
Der Bericht zitiert eine gemeinsame Feststellung der Ruhrgebietsstädte aus dem Jahr 2003, dass deutlich weniger als 30 Prozent der Unternehmen und Freiberufler zur Gewerbesteuer herangezogen werden. Schließlich verweist er (Grafik S. 185) auf ein grundsätzliches und offensichtlich wachsendes Problem bei der Erwirtschaftung des Steueraufkommens in Deutschland: Der Gewinnsteueranteil, der 1960 35% betrug, ist bis auf 12%im Jahr 2002 abgesunken, während der Lohnsteueranteil umgekehrt von 12% auf 32,5% stieg.
Andererseits werden die erheblichen, bislang ungedeckten Investitionsbedarfe der Kommunen (insbesondere bei Verkehr, sozialer Infrastruktur, Wasserver- und -entsorgung) sowie die Herausforderungen des Landes im Schulbereich dargestellt. Der Bericht konstatiert: „Es besteht die Gefahr, dass durch eine strikte Politik der Haushaltskonsolidierung als oberstes politisches Ziel andere politische Ziele, wie die Bereitstellung öffentlicher Güter oder die Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit, in den Hintergrund treten.“ (S. 171) „Zusammenfassend muss festgestellt werden: Höhere Einkommen werden in Nordrhein-Westfalen, aber auch in Deutschland insgesamt, bei weitem nicht so stark zur Finanzierung öffentlicher Haushalte herangezogen wie es die formale Progressivität der (Einkommens-) Besteuerung vorsieht. Allein die legalen Möglichkeiten der Steuergestaltung und -vermeidung führen dazu, dass beim Fiskus enorme Einnahmenausfälle entstehen. Dadurch fehlen gerade in ökonomisch schwierigen Zeiten die nötigen Mittel für öffentliche Leistungen (z.B. im Bildungsbereich) wie für Sozialleistungen. Die aktuell diskutierten Steuerreformvorschläge werden daran nichts ändern, eher im Gegenteil.“ (S. 186)
Der Reichtumsteil endet mit einer Fußnote. Sie hält dem Argument, dass hohe Steuern zur Flucht aus Deutschland führen würden, entgegen: Die Zahl der Reichen mit Geldvermögen von mehr als einer Million Euro wuchs in der zweiten Hälfte der 90er Jahre um fünf Prozent jährlich auf 365.000 Personen, die 1999 zusammen zwei Billionen Euro Geldvermögen hielten. Darunter waren 3.700 Personen mit jeweils mehr als 30 Millionen Euro, und der größte Teil davon lebte in NRW. Auch 2003, nach dem Platzen der New-Economy-Blase, stellten die Deutschen von allen Milliardären weltweit nach den US-Amerikanern die zweitgrößte nationale Gruppe (S. 187).
Die hier dargestellten Befunde und Botschaften sind an sich meist nicht neu. Sie wurden von zahlreichen AutorInnen in ähnlicher Weise während der vergangenen Jahre – teils Jahrzehnte – wieder und wieder vorgetragen und belegt. Bemerkenswert bleibt allerdings, dass solche Botschaften, die zur Untermauerung von Forderungen nach einem grundlegenden sozialen Richtungswechsel der Politik beitragen, gleichsam „regierungsamtliche“ Anerkennung gefunden haben – obwohl die damalige Regierung in Düsseldorf zeitgleich eher als Motor denn als Bremser der Berliner Agenda 2010 agierte.
Hengsbach und Jakobi werfen unter Bezugnahme auf das anerkannte Erfordernis von Armutsgrenzen, deren Unterschreitung durch staatliche Leistungen vermieden werden soll, die Frage auf, ob nicht auch umgekehrt eine Reichtumsgrenze zu definieren sei, deren Überschreitung der Sozialstaat mittels einer entsprechenden Steuer- und Abgabenpolitik im Interesse des Gemeinwohls zu verhindern habe (S. 42). Diese Anregung könnte durchaus bei der Entwicklung konzeptioneller Alternativen für einen zukunftsfähigen Sozialstaat berücksichtigt werden.
[1] Ministerium für Gesundheit, Soziales, Frauen und Familie des Landes Nordrhein-Westfalen, Sozialbericht 2004, Armuts- und Reichtumsbericht. Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf diesen Bericht.