Seit Dezember 2004 liegt die erste systematische wissenschaftliche Untersuchung über rechtsextreme Orientierungen von erwachsenen Gewerkschaftsmitgliedern vor.[1] Eine Forschergruppe am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften der Freien Universität Berlin ließ 4.008 Personen repräsentativ befragen und führte zehn Gruppengespräche, um herauszufinden, wie stark Gewerkschaftsmitglieder zu rechtsextremen Orientierungen neigen, womit diese Orientierungen erklärt werden können und welche Empfehlungen für Gewerkschaften sich daraus ableiten. Die Studie wurde von der Hans-Böckler-Stiftung des DGB und der Otto-Brenner-Stiftung der IG Metall gefördert[2].
1998 hatten die Ergebnisse einer infratest dimap Umfrage, der zu Folge sich elf Prozent der Gewerkschaftsmitglieder – gegenüber sieben Prozent der Nichtmitglieder – vorstellen konnten, eine rechtsextreme Partei zur Bundestagswahl zu wählen, zu Aufregung in den Gewerkschaften geführt. Anders bei der vorliegenden Untersuchung der FU Berlin: Bisher wird innergewerkschaftlich nur in einigen Expertenzirkeln darüber diskutiert. Das ist bedauerlich, denn die Studie liefert neben der erschreckenden Erkenntnis, dass jedes fünfte Gewerkschaftsmitglied rechtsextreme Einstellungen aufweist, wichtige Analysen, Interpretationen und Empfehlungen, deren Bedeutung über das Thema Rechtsextremismus hinausreichen.
Wir werden im Folgenden einige uns besonders wichtig erscheinende Ergebnisse des Forschungsprojektes „Gewerkschaften und Rechtsextremismus“ darstellen und an einigen Punkten kommentieren. Nach einem Versuch, die unübersichtlichen gewerkschaftlichen Aktivitäten gegen Rechtsextremismus zu sortieren, schließen wir mit der Benennung von Problemen und Anforderungen, die sich aus unserer Sicht ergeben.
Vorab sei jedoch darauf hingewiesen, dass nicht nur das hier diskutierte Problem eine Geschichte hat, sondern es schon lange vor der dimap infratest Umfrage und auch danach immer wieder neue Erkenntnisse gab, die Anlass zur gewerkschaftlichen Reflexion waren bzw. hätten sein können:
- Die Studie „Gewerkschaften und Rechtsextremismus“ erinnert daran, dass Anhänger der Linksparteien schon zu Ende der Weimarer Republik anfällig für den Nationalsozialismus waren und in ihrer Mehrheit nicht über ein konsistentes linkes bzw. sozialistisches Einstellungsmuster verfügten. Ende der 1960er Jahre habe Ursula Jaerisch ermittelt, dass nur die älteren, nicht aber die jüngeren Gewerkschaftsmitglieder annähernd unempfänglich gegen die Propaganda der NPD waren. Der Wandel der Gewerkschaften von einer Wertegemeinschaft zu zweckrationalen „business unions“ habe zu einer Entpolitisierung der Arbeiterschaft beigetragen, die daher keinen Gegenpol zu antidemokratischen Ideologien habe bilden können [3].
- Als 1989 die REPUBLIKANER mit 7,5 Prozent der abgegebenen Stimmen in das Berliner Abgeordnetenhaus einzogen und wenig später mit 7,1 Prozent auch in das Europaparlament, musste der DGB-Bundesvorstand einräumen, „dass alle Untersuchungen zu dem Ergebnis“ kommen, „dass der Anteil der Arbeitnehmer an den REP-Anhängern überdurchschnittlich groß“ sei, vor allem bei „vergleichsweise gering qualifizierten“ Arbeitern und Facharbeitern, aber auch bei einfachen Angestellten und Beamten „mit unbefriedigenden Zukunftsaussichten“. „Selbst Gewerkschaftsmitglieder sind entsprechend ihrem Anteil an der Bevölkerung vertreten. Früher bildete die Gewerkschaftsmitgliedschaft noch eine Barriere für die Wahl von rechtsextremen Parteien.“[4]
- In den neunziger Jahren hatten Tübinger Forscher für den Jugendbereich festgestellt, dass junge Gewerkschaftsmitglieder stärker zu rechten Orientierungen neigen als Nichtmitglieder[5].
- Bei den Bundestagswahlen 1998 erhielten rechtsextreme Parteien insgesamt 3,3 Prozent der Wählerstimmen, aber 3,9 Prozent der Stimmen der zur Wahl gegangenen Gewerkschaftsmitglieder. Bei den Bundestagswahlen 2005 wählten laut einer Analyse des Berliner Büros der IG Metall fünf Prozent der Gewerkschaftsmitglieder im Osten und ein Prozent im Westen die NPD. Bei den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern seien es im Osten zehn und im Westen drei Prozent. Dies sei der höchste Wert der NPD quer durch Bildungsstatus-, Tätigkeits-, Konfessions- und Gewerkschaftszugehörigkeiten.
Aktuelle Befunde: Gewerkschaften und Rechtsextremismus
Der 626 Seiten umfassende Abschlussbericht des Forschungsprojektes „Gewerkschaften und Rechtsextremismus“ von Richard Stöss, Michael Fichter, Joachim Kreis und Bodo Zeuner kommt zum Ergebnis, dass Gewerkschaftsmitglieder (19,1 Prozent) kaum weniger rechtsextrem eingestellt sind als Nichtmitglieder (20 Prozent).
Rechtsextreme Einstellungen werden dabei verstanden als „antidemokratisches Denken [...], das die Eigengruppe (Rasse, Ethnie, Nation) bevorzugt oder gar für höherwertig erklärt und zugleich Fremdgruppen abwertet, diskriminiert oder ausgrenzt, ihnen im Extremfall sogar die Existenzberechtigung abspricht.“ (S. 25[6]) Gewaltbereitschaft wird nicht vorausgesetzt.
Den befragten Personen wurden zu sechs Dimensionen des Rechtsextremismus je fünf Aussagen vorgelegt, die in folgender Reihenfolge Zustimmung fanden[7]:
- Chauvinistische Einstellungen (31 Prozent bei Gewerkschaftsmitgliedern, 32 Prozent bei Nichtmitgliedern). 45 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder stimmen folgender Aussage zu: „Was unser Land heute braucht, ist ein hartes und energisches Durchsetzen deutscher Interessen gegenüber dem Ausland.“
- Verharmlosung des Nationalsozialismus (28 Prozent bei Gewerkschaftsmitgliedern, 29 Prozent bei Nichtmitgliedern). 66 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder stimmen folgender Aussage zu: „Wir sollten endlich einen Schlussstrich unter die Nazi-Vergangenheit ziehen.“
- Ausländerfeindlichkeit (23 Prozent bei Gewerkschaftsmitgliedern, 26 Prozent bei Nichtmitgliedern). 40 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder stimmen folgender Aussage zu: „Die Bundesrepublik ist durch die vielen Ausländer in einem gefährlichen Maß überfremdet.“
- Antisemitismus (23 Prozent bei Gewerkschaftsmitgliedern, 22 Prozent bei Nichtmitgliedern), nur bei dieser Dimension ist die Befürwortung der Gewerkschaftsmitglieder höher als die der Nichtmitglieder. 40 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder stimmen folgender Aussage zu: „Wir müssen uns dagegen wehren, dass die Juden dauernd das schlechte Gewissen der Deutschen ausnutzen.“
- Außerhalb der Rechtsextremismus-Skala: Wohlstandschauvinismus (19 Prozent bei Gewerkschaftsmitgliedern, 20 Prozent bei Nichtmitgliedern). 29 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder (in Ostdeutschland: 46 Prozent) stimmen folgender Aussage zu: „Es gehört zu den Aufgaben der Gewerkschaften, Arbeitsplätze in erster Linie für Deutsche zu verteidigen.“
- Rechtsautoritäre Diktatur (18 Prozent bei Gewerkschaftsmitgliedern, 20 Prozent bei Nichtmitgliedern). 36 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder stimmen folgender Aussage zu: „Was Deutschland jetzt braucht, ist eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert.“
- Sozialdarwinismus (12 Prozent bei Gewerkschaftsmitgliedern, 13 Prozent bei Nichtmitgliedern). 27 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder stimmen folgender Aussage zu: „Es gibt wertes und unwertes Leben.“
Während es in Westdeutschland keinen bedeutsamen Unterschied zwischen Gewerkschaftsmitgliedern und Nichtmitgliedern gebe, neigten in Ostdeutschland Gewerkschaftsmitglieder um ein Drittel weniger zu rechtsextremen Orientierungen als Nichtmitglieder; bei einem hier allerdings insgesamt bedeutend höheren rechtsextremen Potential. Bei ostdeutschen Gewerkschaftsmitgliedern konnten in der Studie weniger antisemitische, NS-verharmlosende und chauvinistische Einstellungen festgestellt werden als bei den westdeutsche Gewerkschaftsmitgliedern. Dafür konnten stärkere sozialdarwinistische und erheblich stärkere wohlstandschauvinistische, ausländerfeindliche und rechtsautoritäre Einstellungen ausgemacht werden.
Die Studie sieht die These eines „neuen Rechtsextremismus“, der sich im Zuge der Globalisierung vor allem fremdenfeindlich äußere, nicht bestätigt. Auch ein neuer, nämlich sozio-ökonomisch fundierter Nationalismus ohne völkische Ausrichtung habe sich nur bei ca. acht Prozent der Befragten ermitteln lassen. Insgesamt korrelierten die rechtsextremen Indizes bei den einzelnen Befragten sehr stark untereinander. Auch ein „gewerkschaftstypisches“ rechtsextremes Einstellungsmuster existiere nicht.
Sozio-ökonomische Faktoren haben – mit Ausnahme des Faktors Bildung –laut Studie keine große Erklärungskraft für rechtsextremistische Einstellungen. Weitaus wichtiger für die Erklärung des Rechtsextremismus seien die sozio-politischen Orientierungen, in denen jedoch sozio-ökonomische Problemlagen teilweise abgebildet seien, bspw. bei Unzufriedenheit mit der wirtschaftlich-sozialen Lage. Wir halten dies für einen wichtigen Punkt, denn wir beobachten in der gewerkschaftlichen Praxis oft zwei Typen verkürzter „Alltagsanalysen“: Entweder werden rechte Einstellungen als direktes Ergebnis sozialer Problemlagen gesehen (und bei den Gegenstrategien auf die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit gesetzt) oder sie werden als Einstellungsdefekt psychologisiert (und reale Problemlagen spielen dann bei den Gegenstrategien kaum eine Rolle).
Gewerkschaften – ein Spiegelbild der Gesellschaft?
Als Erklärung für den starken Rechtsextremismus unter Gewerkschaftsmitgliedern untersuchten die Autoren insbesondere die Tragfähigkeit der „Spiegelbildthese“. Die trotz kontroverser Auffassungen auch in den Abschlussbericht der DGB-Kommission Rechtsextremismus eingegangene These besagt, dass die Einstellungen von Gewerkschaftsmitgliedern die Ausbreitung rechtsextremer Orientierungen in der politischen Mehrheitskultur widerspiegeln. Die Autoren der Berliner Studie gingen dagegen davon aus, dass sich Gewerkschaftsmitglieder sowohl hinsichtlich ihres sozio-ökonomischen Status als auch hinsichtlich ihrer sozio-politischen Orientierungen durch besondere Merkmale gegenüber den Nicht-Mitgliedern auszeichnen und dadurch problematische Lebenslagen anders bewältigen. Tatsächlich bestätigten die Ergebnisse des Forschungsprojektes, dass sich der sozio-ökonomische Status von Gewerkschaftsmitgliedern von denen der Nichtmitglieder unterscheidet, vor allem gehören Gewerkschaftsmitglieder stärker der „Mittelschicht“[8] an. Allerdings wurde die Vermutung der Autoren, dass Gewerkschaftsmitglieder auch über besondere sozio-politische Orientierungen verfügen, nicht bestätigt.
Die Studie unterscheidet bei den Gewerkschaftsmitgliedern zwischen „Funktionären“, „sonstigen aktiven Mitgliedern“ und „passiven Mitgliedern“. Nur bei den Funktionären wurde ein gewerkschaftliches Überzeugungssystem identifiziert. Dieses Überzeugungssystem „besteht aus zwei Kammern“, die eine „widersprüchliche Einheit“ bilden (S. 290). Zur ersten „Kammer“ gehörten: demokratische Überzeugungen, eine linke politische Einordnung und die Befürwortung des gewerkschaftlichen Handlungskonzeptes „nachhaltige und konfliktbereite Interessenvertretung“. Die Autoren nennen diesen Zusammenhang „partizipatorische Orientierungen“, 42 Prozent der Funktionäre (West: 45 Prozent, Ost: 27 Prozent) seien partizipatorisch eingestellt. Zur zweiten „Kammer“ gehörten: autoritäre Überzeugungen, wirtschaftlich-soziale und politische Unzufriedenheit, traditionalistischer Sozialismus und die Befürwortung des gewerkschaftlichen Handlungskonzeptes „Gegenmachtbildung“. Die Autoren nennen diesen Zusammenhang „systemkritische Orientierungen“. 35 Prozent der Funktionäre (West: 32 Prozent, Ost: 45 Prozent) seien systemkritisch eingestellt.
Für die Funktionäre gelte, dass systemkritische Orientierungen (fast) sehr stark positiv mit Rechtsextremismus korrelierten (vor allem wegen der autoritären Orientierungen), während der Zusammenhang zu partizipatorischen Orientierungen „nahezu perfekt negativ“ sei:
„Systemkritische Orientierungen üben bei Funktionären zwar erhebliche Anziehungskraft auf Rechtsextremismus aus, partizipatorische Orientierungen wehren bei ihnen Rechtsextremismus allerdings noch viel stärker ab. Gewerkschaftsfunktionäre, die sich besonders für eine linksgerichtete, demokratische, selbstbewusste und nachhaltige bzw. konfliktbereite Vertretung von gewerkschaftlichen Interessen einsetzen, tendieren im Prinzip zu Immunität gegenüber Rechtsextremismus. Mit zunehmenden systemkritischen Orientierungen wächst aber auch ihre Anfälligkeit für Rechtsextremismus.“ (S. 294/295)
Zwischen den Kammern gebe es Gegensätze (vor allem zwischen autoritären und demokratischen Orientierungen) aber auch Verbindungen: Vor allem gehe die Befürwortung gewerkschaftlicher Gegenmachtbildung eine starke Verbindung mit einem linken Selbstverständnis und demokratischen Orientierungen ein. Beide Kammern zeichneten sich außerdem durch eine Gegnerschaft zum Neoliberalismus aus. Die Befürwortung gewerkschaftlicher Gegenmachtbildung, ein linkes Selbstverständnis und die Gegnerschaft zum Neoliberalismus scheinen diejenigen Orientierungen zu sein, die sich am vielfältigsten mit anderen kombinieren und am offensten für oder gegen Rechtsextremismus sind.
Bei den sonstigen aktiven Mitgliedern (vor allem im Westen) seien die partizipatorischen Orientierungen prägend.
Funktionäre und Aktive neigten weniger zu Rechtsextremismus als Unorganisierte, während passive Mitglieder mindestens genauso rechtsextrem eingestellt seien wie Nichtmitglieder – für sie gelte die „Spiegelbildthese“. Dennoch sind rechtsextreme Orientierungen auch bei Funktionären und sonstigen aktiven Mitgliedern erheblich: Fünfzehn Prozent der Funktionäre und vierzehn Prozent der sonstigen Aktiven sind laut Studie rechtsextrem eingestellt. In Ostdeutschland liege der Rechtsextremismus bei Funktionären um mehr als die Hälfte niedriger als der von Nichtmitgliedern. Die Studie spricht deshalb von einer „Immunisierung“ der ostdeutschen Funktionäre. Dieser Bezeichnung können wir uns angesichts der absoluten Zahlen – zwölf Prozent der ostdeutschen Funktionäre sind laut Studie rechtsextrem eingestellt – nicht anschließen. In Ostdeutschland überwiegen außerdem autoritäre Orientierungen bei Funktionären und sonstigen Aktiven deutlich gegenüber demokratischen Orientierungen, umgekehrt im Westen. Autoritäre Überzeugungen gelten als Anziehungsorientierungen gegenüber Rechtsextremismus, demokratische Überzeugungen als Abwehrorientierungen.
Die Befunde werden nicht dadurch relativiert, dass wir die Bezeichnung der „Kammern“ des Überzeugungssystems der Gewerkschaftsfunktionäre problematisch finden. Bei Lektüre der Langfassung der Studie wird deutlich, dass Systemkritik und Autoritarismus keinen zwingenden Zusammenhang darstellen[9] und es auch „systemkritische Demokraten“ (S. 224) gibt. Da die Kammer „Systemkritik“ die autoritären Orientierungen beinhaltet, sollte sie „autoritär-systemkritische Orientierungen“ genannt werden. Da Partizipation ebenfalls mit sehr unterschiedlichen politischen Vorstellungen verbunden sein kann, sollte die erste Kammer „demokratisch-partizipatorische Orientierungen“ genannt werden, so wie es im Text teilweise auch geschehen ist.
Die „Trägerschicht“ der Gewerkschaften als „Problemgruppe“
Sowohl bei Mitgliedern als auch bei Nichtmitgliedern seien rechtsextremistische Einstellungsmuster in der „objektiven Unterschicht“ am größten und in der „Oberschicht“ am niedrigsten. Der entscheidende Unterschied zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern sei die „Mittelschicht“. In der „Mittelschicht“, der die meisten Mitglieder und Funktionäre der Gewerkschaften angehören, sind Gewerkschaftsmitglieder laut Studie anderthalb Mal so rechtsextrem eingestellt wie Nichtmitglieder. Dieser Befund ist Besorgnis erregend, weil es sich um die maßgebliche Trägergruppe der Gewerkschaften – Facharbeiter und qualifizierte Angestellte – handelt. Gewerkschaftsmitglieder aus der „Mittelschicht“ seien zwar (demokratisch-)partizipatorischer eingestellt als Nichtmitglieder, aber nicht ausreichend stark, um zu „neutralisieren“, dass sie auch fast anderthalb Mal so stark (autoritär)-systemkritisch eingestellt seien wie Nicht-Mitglieder. Die Autoren erklären die stark abweichenden Orientierungen bei den GewerkschafterInnen der „Mittelschicht“ wie folgt:
„Sie konnten sich lange Zeit als Träger (Funktionäre, Betriebsräte) und als Gewinner einer erfolgreichen Tarif- und Arbeitspolitik und als Nutznießer der wirtschaftlichen Prosperität begreifen. Diese herausgehobene Stellung scheint nun in Folge von Globalisierung, Modernisierung, Deregulierung und Unterbietungskonkurrenz ernsthaft gefährdet zu sein. Ihnen droht nicht nur erheblicher Status- und wohl auch Privilegienverlust (...); sie müssen auch mit ansehen, wie die früheren Erfolge der gewerkschaftlichen Politik, also ihre eigenen Erfolge, nun Stück für Stück demontiert werden, wie die Macht der Gewerkschaften Schritt für Schritt zurück gedrängt wird. (...) Als Arbeitnehmern droht ihnen das Schicksal von sozialen Verlierern, als Gewerkschaftsmitgliedern droht ihnen das Schicksal von politischen Verlierern.“ [10]
Gewerkschaftliche Aktivitäten gegen Rechtsextremismus – ein Sortierungsversuch
Das Feld der gewerkschaftlichen Aktivitäten, die sich im weitesten Sinne gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus richten, ist unübersichtlich. Das ist ebenso unpraktisch wie erfreulich, denn es zeugt von einer großen Bandbreite solcher Aktivitäten. Wir kennen keine strukturierte und annähernd vollständige Darstellung, auch der entsprechende „Überblick“ in der Studie „Gewerkschaften und Rechtsextremismus“ ist sehr lückenhaft[11]. Wir verweisen in diesem Zusammenhang auf eine umfangreiche Datenbank bei www.migration-online.de.
Wir wollen im Folgenden einen inhaltlichen Sortierungsversuch unternehmen, auch um damit eine Wirkungsanalyse der Aktivitäten zu fördern und dazu beitragen, zukünftige Aktivitäten stärker unter inhaltlichen Gesichtspunkten zu planen.
Im breiten Feld der gewerkschaftlichen Aktivitäten gegen Rechtsextremismus sehen wir drei Traditionslinien:
1. Die antifaschistische Tradition: Ausgehend von den Erfahrungen verfolgter GewerkschafterInnen im Nationalsozialismus und der Empathie gegenüber anderen Verfolgten- und Opfergruppen entwickelte sich hier ein breites Feld von Aktivitäten. Dazu gehören Gedenk- und Erinnerungsveranstaltungen, Gespräche mit ZeitzeugInnen bis hin zu Projekten, in denen junge GewerkschafterInnen Gleisanlagen oder Gebäude in Gedenkstätten erneuern. Oft werden Zusammenhänge zwischen Vergangenheit und Gegenwart hergestellt. Was aus der Geschichte gelernt werden kann, ist Thema bei Seminaren und auch Konferenzen. Zur antifaschistischen Tradition zählen auch Aktivitäten, die sich mit aktuellem Neonazismus und Rechtsextremismus beschäftigen. Hierzu gehören Gegenaktionen gegen Nazi-Aufmärsche, lokale Bündnisse gegen rechtsextreme Hegemoniebestrebungen, Aufklärungsbroschüren, aber auch die Mitarbeit in ambitionierten Projekten wie mobilen Beratungsteams gegen Rechtsextremismus. Gerade in der Auseinandersetzung mit aktuellem Neonazismus gibt es sehr große Unterschiede zwischen den einzelnen Gewerkschaften wie auch Regionen: Während mancherorts Gewerkschaftsbüros die erste Anlaufstelle bei Anti-Nazi-Aktionen sind, sind Gewerkschaften andernorts weder auskunftsfähig noch handlungswillig. Auch politisch gibt es große Unterschiede, z. B. hinsichtlich der Bündnisfähigkeit zu Gruppen außerhalb der Gewerkschaften. Die Widersprüche der antifaschistischen Tradition (z. B. ihre vielfach nicht legitimierbare Inanspruchnahme für staatliche Zwecke oder die Heroisierung des Widerstandes) sind kaum ein Thema in den Gewerkschaften. Gleiches gilt für jeweils aktuell geführte Debatten um das deutsche Geschichtsbild.
2. Die Gleichstellungstradition: Mit deutlichem zeitlichen Verzug zum Beginn der Arbeitsmigration nach Westdeutschland 1955 gelangte die Gleichstellung der MigrantInnen auf die gewerkschaftliche Agenda. Erst 1973 errichteten bspw. DGB und IG Metall Abteilungen „Ausländische Arbeitnehmer“ auf Vorstandsebene, und gar erst ab Ende 1984 konstituierte die IG Metall „Ausländerausschüsse“ auf lokaler-, Bezirks- und Vorstandsebene. Dynamik erhielten gewerkschaftliche Gleichstellungsinitiativen durch entsprechende europäische Richtlinien, die schließlich auch zu Änderungen im Betriebsverfassungsgesetz führten. Ende der 1990er Jahre wurden vereinzelt Betriebsvereinbarungen zur Gleichstellung abgeschlossen und Erfahrungen über Tagungen und Publikationen zugänglich gemacht. Mehrere Bildungsprojekte versuchten, die Sensibilisierung gegenüber Rassismus zu einem Standard in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit zu machen. Auch Aktionen gegen Rassismus oder gegen die Demontage des Asylrechts fanden und finden statt. Die Diskriminierung von MigrantInnen und ihrer Kinder und Enkel auf dem Arbeits- und Ausbildungsmarkt, in der Schule und weiteren Bereichen der Gesellschaft konnte dennoch nicht gestoppt werden. Auch die Gleichstellungstradition scheint nur von einer Minderheit in den Gewerkschaften getragen, ist in ihrer prekären Lage damit aber umso bemerkenswerter. Ein neues Handlungsfeld ist die interkulturelle Bildung und Praxis, die auch von Teilen der Politik und von aufgeklärten Wirtschaftsvertretern propagiert wird. Hier geht es dominant um die bestmögliche Verwertung des Humankapitals auf dem globalen Markt. Die Gewerkschaften stehen vor der Herausforderung, ihre eigenen Aktivitäten einer gerechtigkeitsorientierten interkulturellen Bildung und Praxis gegenüber einem funktionalen „Diversity Management“ zu konzipieren und abzugrenzen.
3. Die internationalistische Tradition: Dieses kleine gewerkschaftliche Handlungsfeld umfasst Begegnungsseminare und Delegationen, die Zusammenarbeit von (europäischen) Betriebsräten, den internationalen Austausch zwischen Funktionären sowie einzelne Solidaritätsprojekte, vor allem im Jugendbereich. Neu hinzugekommen ist die Initiative der Industriegewerkschaft Bauen, Agrar, Umwelt zur Gründung eines Verbandes der Wanderarbeiter. Ob diese neue Organisation zu einer Internationalisierung der bisher nationalstaatlich begrenzten Gewerkschaftsarbeit führt, dürfte auch für alle anderen Gewerkschaften relevant sein. Insgesamt fristet die internationale Arbeit noch ein Orchideendasein und steht in umgekehrt proportionaler Bedeutung zu den Anforderungen, die sich aus der Globalisierung ergeben.
Keine der oben genannten Aktivitäten (außer vielleicht der Aufbau des Verbandes der Wanderarbeiter für die IG BAU) gehört zu den vieldiskutierten „Kernaufgaben“, auf die sich manche GewerkschafterInnen angesichts von Mitgliederverlusten und der Erosion der Tarifverträge konzentrieren wollen. Die vielfältigen Einzelaktivitäten fließen nicht in einen gewerkschaftlichen anti-rechten Mainstream zusammen, sondern bleiben ein Flickenteppich. Weder ältere noch aktuelle Erkenntnisse über die Verbreitung rechtsextremer Einstellungsmuster in Gewerkschaften haben daran bislang etwas geändert. Die nach Vorlage des Abschlussberichtes der DGB-Kommission Rechtextremismus beim Bundesvorstand eingerichtete Arbeitsgruppe übernimmt weder Koordinierungs- noch Unterstützungsfunktion und trägt auch nicht zu einer strategischen Orientierung der Arbeit bei.
Deshalb muss die Frage zugespitzt werden: Ist es überhaupt ein Problem für die Gewerkschaften, dass jedes fünfte Mitglied rechtsextrem eingestellt ist? Bestätigt das verbreitete Desinteresse an den Ergebnissen der Studie deren These, dass die Gewerkschaften kein Überzeugungssystem haben? Hat sich der Wandel zum Arbeitsmarktkartell bzw. zur Dienstleistungsorganisation, vor dem die Autoren warnen, bereits vollzogen?
Probleme und Anforderungen
Die Ergebnisse des Forschungsprojektes „Gewerkschaften und Rechtsextremismus“ sowie der anderen erwähnten qualitativen Untersuchungen zeigen, dass sich die Suche nach Erklärungen wie Konsequenzen zwangsläufig auf ein sehr weites Feld erstrecken muss. Das Feld ist nicht nur weit, sondern auch komplex, weil es immer um das Verhältnis von äußeren Bedingungen (wie Ökonomie, Sozialstaat, Arbeitsmarkt, Arbeitsverhältnisse, Demokratie ...) zu je subjektiven Handlungsbegründungen geht. Die Suche wird noch schwieriger dadurch, dass es sich beim Rechtsextremismus um eine „Sammel-Einstellung“ handelt, die aus verschiedenen Dimensionen besteht. Auch wenn die Berliner Studie zum Ergebnis kommt, dass die einzelnen Dimensionen stark korrelieren, sind wir überzeugt, dass es je spezifische Gründe und Diskurse gibt, die etwa NS-Verharmlosung, Sozialdarwinismus oder Chauvinismus befördern. Aktivitäten gegen Rassismus helfen beispielsweise nicht unbedingt gegen Antisemitismus. Folglich müssen auch die Gegenstrategien differenziert sein.
Ein solches differenziertes Handlungskonzept zu entwerfen wäre ein Projekt für sich. Wir werden deshalb hier nur einige Überlegungen vorstellen, die in keiner Weise vollständig sind. Wir gehen dabei davon aus, dass wir es mit unterschiedlichen Problemlagen zu tun haben, die alle bearbeitet werden müssen: erstens einer relativ großen Gruppe von GewerkschafterInnen, die rechten Positionen zustimmt (bis zu 66 Prozent – siehe oben) und zweitens einer relevanten Minderheit, die rechtsextrem eingestellt ist und teilweise auch rechtsextrem wählt sowie schließlich einer sehr kleinen Gruppe, die aktiv rechte Politik betreibt.
1. Alternativen denken (lernen)
Der Appell an die Gewerkschaften, bitteschön Alternativen zu den gesellschaftlich-sozialen Missständen vorzulegen, bewirkt mitunter noch mehr Resignation, weil Alternativen ja gerade nicht greifbar, kaum denkbar sind. Trotzdem sehen wir keine Alternative zur Alternative. Wir reden die realen Widersprüche nicht klein, sondern befürchten im Gegenteil, dass vieles noch schlimmer kommen wird (ohne hier ins Detail gehen zu können). Gerade deshalb ist es unseres Erachtens erforderlich, überhaupt eine gewerkschaftliche Kultur zu entwickeln, die in der Lage ist, mit tief greifenden Widersprüchen und auch historischen Rückschritten umzugehen und im Wissen um den gesellschaftlichen Reichtum Alternativen weiter zu entwickeln. Die gewerkschaftliche Bewährungsprobe hierfür ist vermutlich die Herausforderung der Globalisierung. Die Autoren der Studie „Gewerkschaften und Rechtsextremismus“ folgern: Gegen die Internationalisierung des Kapitals und den Unterbietungswettbewerb müssen sich die Gewerkschaften selbst internationalisieren. Wir sehen hier durchaus auch Chancen: die Welt würde an die so genannten Kernaufgaben der Gewerkschaften heran rücken.
Wir können den Autoren ebenfalls nur zustimmen, wenn sie das Bestehen auf Alternativkonzepten gegen „einfache Lösungen“ und eine „Rigidität im Denken“ setzen (S. 424). Wir teilen auch die Einschätzung, dass die „Förderung der Fähigkeit zu differenzierter Analyse und selbständiger Urteilsbildung“ eine wesentliche Aufgabe der Bildungsarbeit ist. Auch deshalb halten wir die flächendeckende Reduzierung der staatlichen Fördermittel für politische Bildung, aber auch die Entwicklung der gewerkschaftlichen Bildung in Richtung „Nützlichkeit“ und „Handwerkszeug“ für fatal.
Differenzierte Analyse darf aber nicht nur eine Anforderung an die Bildungsarbeit sein, sondern muss vor allem die gewerkschaftliche Alltagspraxis auszeichnen. Dass es hier Handlungsbedarf gibt, verdeutlicht ein Vorfall um die Mitgliederzeitung der IG Metall. Im Mai 2005 zeigte das Titelblatt der metall „amerikanische“ Investoren als Insekten mit großen Saugrüsseln und US-Flagge, Titel: „Die Aussauger“. Die Illustration begleitete einen Artikel, der sich mit den Folgen von Hedge-Fonds beschäftigte. Obwohl keineswegs nur US-amerikanische Fonds benannt wurden, schrieb die Redaktion einleitend:
„Finanzinvestoren aus Amerika schlachten deutsche Unternehmen aus. Sie kaufen die Firmen, um sie kurz darauf mit Gewinn weiter zu veräußern. Rücksicht auf Menschen, Regionen oder Traditionen nehmen die amerikanischen Finanziers nicht. Wie Mücken saugen sie aus den Betrieben das Geld, um dann nach dem gleichen Muster weiter zu schwärmen. Leidtragende sind die Menschen.“
Die zahlreichen kritischen bis empörten Reaktionen wurden nicht zum Anlass genommen, diese Kapitalismuskritik zu überdenken, die nicht nur Feindbilder produziert, sondern mit einer Ursachensuche möglichst weit weg von der (hiesigen) kapitalistischen Produktion auch noch irreführend ist. Im Gegenteil: Das Thema wurde in der nächsten Ausgabe offensiv mit gleichen Argumenten und gleicher Illustration fortgeführt. Dass die metall-Redaktion auf viele positive Reaktionen zur „Aussauger“-Story verwies (und empörte Zuschriften engagierter GewerkschafterInnen unterschlug) kann keinesfalls beruhigen.
2. Welche Demokratie?
Über die Hälfte der Gewerkschaftsmitglieder hat mittel bis stark restriktive Demokratievorstellungen und unterscheidet sich damit nicht von den Nichtmitgliedern. Dieses Ergebnis der Berliner Studie (ebenso wie die o. g. mögliche Verbindung von demokratischen und autoritären Orientierungen) mag überraschen, sind doch Gewerkschaften formal streng demokratisch orientiert und organisiert. Wir wünschen uns, dass die Gewerkschaften einen Diskussionsprozess über Demokratiedefizite und -perspektiven in der Gesellschaft, aber auch in der eigenen Organisation beginnen. Mit dem in den deutschen Gewerkschaften vorherrschenden Modell der Interessen-Vertretung scheinen sich VertreterInnen und Vertretene zwar überwiegend gut arrangiert zu haben, es ist unseres Erachtens jedoch nicht mehr in der Lage, auf die Anforderungen in einem segmentierten und deregulierten Arbeitsmarkt zu reagieren (abgesehen davon entspricht es auch nicht unseren Vorstellungen ).
Tatsächlich gibt es derzeit in den Gewerkschaften eine Diskussion um die stärkere Einbeziehung von Mitgliedern und Aktiven, die wir jedoch für fragwürdig halten. Die „partizipatorischen“ Konzepte erinnern an staatliche Appelle zum ehrenamtlichen Engagement und sind zum Teil auch ähnlich motiviert („Hauptamtliche können nicht mehr alles machen“). Ehrenamtliche sollen personelle Lücken füllen, die durch den Rückgang an Mitgliedsbeiträgen entstehen. Die Infragestellung der Hauptamtlichendominanz in den (meisten) deutschen Gewerkschaften wäre sehr zu begrüßen, wenn sie mit einem grundsätzlichen Nachdenken über den gewerkschaftlichen Souverän (vor allem in Ostdeutschland) verbunden wäre. Ziel müsste sein, dass Gewerkschaftsmitglieder ihre Organisation als ihre Organisation neu denken und dass Formen gefunden werden, wie dies im Alltag so umgesetzt werden kann, dass nicht nur das demokratische Leben, sondern auch die Durchsetzungskraft gestärkt werden. Interessant wäre zu verfolgen, ob der aus den USA stammende „organising“-Ansatz, der z. Zt. modellhaft in ver.di erprobt wird, ein konkreter Beitrag sein kann.
Die Berliner Forscher haben in den Gruppengesprächen herausgefunden, dass die Bereitschaft, die Eigeninitiative der Mitglieder zu fördern, statt Stellvertreterpolitik zu betreiben, eines der Elemente ist, die Rechtsextremismus abwehren.
3. Politik fordern
Die Gewerkschaften formulieren zu Recht Anforderungen an Politik und Parteien, jüngst im Vorfeld der Bundestagswahl 2005. Initiativen gegen Rechtsextremismus suchte man dabei jedoch ebenso vergeblich wie nachdrückliche Forderungen an die demokratischen Parteien zur Einwanderungs- und Integrationspolitik. Wir erinnern daran, dass nicht nur viele rotgrüne Reformversprechen unerfüllt blieben, sondern die Politik der Flüchtlingsabwehr weiter perfektioniert wurde. Im Jahre 2004 wurden nur 2.000 Menschen als Asylberechtigte anerkannt, aber bei 17.000 Personen soll dieser Status widerrufen werden. Die CDU („Nein zur doppelten Staatsbürgerschaft“; Rüttgers: „Kinder statt Inder“) konnte aufgrund ihrer langjährig eingeübten Abwehrpolitik nicht mehr enttäuschen. Aber auch die Linkspartei hat im Wahlkampf kein Minderheiten- und Menschenrechtsprofil zu erkennen gegeben. Spitzenkandidat Oskar Lafontaine will „Familienväter und Frauen“ vor „Fremdarbeitern“, die deutsche Sprache vor Anglizismen und Europa vor der Türkei schützen. Schwer vorstellbar, dass dieser Fraktionsvorsitzende, der sich als SPD-Politiker persönlich dafür engagierte, das Asylrecht zur Unkenntlichkeit zu entstellen, Initiativen für eine anti-nationalistische Politik in den Deutschen Bundestag einbringt.
Vielleicht zeigen die Inhalte des durch seine Kürze auf das „Wesentliche“ reduzierten Wahlkampfs, dass sich sozial(-staatlich) orientierte Politik nicht mehr mit anti-nationalistischen und libertären Perspektiven verbindet. Das Ausklammern der Problematik in den diversen gewerkschaftlichen Wahlaufrufen, sei es für die SPD oder für die Linkspartei, interpretieren wir als spiegelbildlichen Befund für die Gewerkschaften bzw. die Mehrheit ihrer Aktiven. Der Raum für eine gleichermaßen gesellschaftskritische wie emanzipatorische Perspektive ist eng geworden.
4. Gesamtstrategie zur Bearbeitung rechtsextremer Einstellungen
Leichter formuliert als in die gewerkschaftliche Praxis umzusetzen sind einige Eckpunkte, die aus unserer Sicht zentrale Bestandteile einer Gesamtstrategie zur Bearbeitung rechtsextremer Einstellungsmuster unter Gewerkschaftsmitgliedern sein müssen:
- Die Auseinandersetzung mit rechtsextremen Einstellungsmustern darf weder zeitlich noch örtlich beliebig sein, sondern muss in den Gewerkschaften kontinuierlich und flächendeckend erfolgen. Dies gilt auch und gerade in „schwierigen Situationen“, wenn zum Beispiel Betriebe oder Betriebsteile ins Ausland verlagert werden und damit rassistische Stereotype Konjunktur erhalten. Oder wenn angesichts drohender Massenentlassungen ArbeitsmigrantInnen ins Zentrum des Arbeitsplatzabbaus gerückt werden. GewerkschafterInnen haben gerade dann die Aufgabe, die Unteilbarkeit von Solidarität und Menschenwürde zu betonen und daraus politische Handlungskonzepte abzuleiten. So könnten sie einen ganz praktischen Schritt in Richtung „Wertegemeinschaft“ gehen (wofür sich auch die Autoren der Berliner Studie aussprechen), statt vielleicht eines Tages tatsächlich nur noch „Arbeitsmarktkartell“ zu sein.
- Die Vielzahl gewerkschaftlicher Einzelinitiativen ist positiv – ihr Nebeneinanderstehen aber bezeichnend. Niemand sollte den Anspruch erheben, sie zentral zu steuern oder zu „koordinieren“, aber sie zu erfassen, Erfahrungen auszuwerten und für andere Projekte nutzbar zu machen, Denkanstöße zu geben und Initiativen anzustiften sollte schon Daueraufgabe einer entsprechenden „AG Rechtsextremismus“ sein, bspw. beim DGB-Bundesvorstand. Dies könnte ein markanter Bestandteil des notwendigen Versuchs sein, das Handeln gegen Rechtsextremismus als „gewerkschaftlichen Mainstream“ zu installieren und somit aus seinem Mauerblümchen-Dasein herauszuholen. Den Autoren der Studie ist absolut zuzustimmen, wenn sie schreiben: „Ein Vorgehen als Beiprogramm mit Sonderstatus bleibt wirkungslos.“ (S. 421)
- Bei der von uns für notwendig erachteten Bündnisarbeit darf es kein Handlungsmonopol einiger Gruppierungen oder Verbände geben. Alle, die sich gegen Rechts engagieren, müssen als BündnispartnerInnen ernst genommen werden, natürlich auch mit der Möglichkeit sehr kritischer Diskussionen. Kriterium der Zusammenarbeit (oder der Nicht-Zusammenarbeit) müssen einzig inhaltliche Erwägungen sein und nicht die eigene Gesellschaftsfähigkeit, die häufig durch Bündnisse mit anderen „staatstragenden“ Personen oder Verbänden unter Ausschluss autonomer oder (vermeintlich) radikaler Gruppen erworben werden soll.
5. Was als nächstes tun?
Viele der von uns formulierten Anforderungen sind grundsätzlicher Art und damit zeitlich ohne Anfang und Ende. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass in der Arbeit gegen Rechts(extremismus) beides wichtig ist: eine Gesamtstrategie und abgegrenzte Aktivitäten bzw. Projekte. Wir schlagen abschließend zwei Vorhaben vor, die vielleicht auch neue Anregungen für eine Gesamtstrategie liefern:
- In den vergangenen Jahren haben sich neben den Berliner Forschern weitere WissenschaftlerInnen mehrerer Hochschulen und Forschungseinrichtungen mit dem Zusammenhang von Rechtsextremismus und den Veränderungen in der Arbeitswelt beschäftigt[12]. Es wäre eine lohnenswerte Aufgabe für die Gewerkschaften, die Erkenntnisse dieser Untersuchungen und Theorien zu diskutieren.
- Das Thema Rechtsextremismus ist voller schwieriger Fragen und Herausforderungen. Auch wenn das Alltagsgeschäft zu anderem drängt, denken wir, dass es für die Gewerkschaften (auf allen Ebenen) sehr produktiv sein könnte, sich gezielt und ggf. mit externer/wissenschaftlicher Unterstützung genau den komplizierten Fragen zu stellen. Eine Frage des „Schwerdenkens“ könnte bspw. sein, wie Antisemitismus im Kontext der Widersprüche der Moderne zu verstehen und zu begegnen ist. Vom offenen Fragen sowie differenzierten und kritischen Denken können die Gewerkschaften nur gewinnen.
[1] In einem der Gruppengespräche des Forschungsprojektes „Gewerkschaften und Rechtsextremismus“ kommentierte einer der Gesprächsteilnehmer die Erkenntnis, dass Gewerkschaftsmitglieder genauso stark rechtsextrem eingestellt sind wie Nichtmitglieder, wie folgt: „Mich überrascht es eher, dass es überrascht hat. Denn ich denke, dass die Intention des Einzelnen, einer Gewerkschaft beizutreten, wahrscheinlich nicht mehr so wie früher in den 60er, 70er Jahren ideologisch bedingt ist, sondern dass man eben einfach eine gute Rechtsschutzversicherung sucht, und das Gefühl hat, da bei der Gewerkschaft am besten aufgehoben zu sein, weil man eine starke Gemeinschaft hat, die, wenn es Probleme gibt, dann auch für einen eintritt.“ („Gewerkschaften und Rechtsextremismus“, S. 323)
[2] Michael Fichter/Joachim Kreis/Günter Pollach/Richard Stöss/Bodo Zeuner: Abschlussbericht zum Forschungsprojekt „Gewerkschaften und Rechtsextremismus“. Berlin, Dezember 2004 (www.polwiss.fu-berlin.de/projekte/gewrex/gewrex_downl.htm)
[3] Ursula Jaerisch: Sind Arbeiter autoritär? Zur Methodenkritik politischer Psychologie. Frankfurt am Main 1975 (zitiert nach: „Gewerkschaften und Rechtsextremismus“, S. 55-58).
[4] DGB-Bundesvorstand (Hg.): Rechtsextremismus – Materialien zur gewerkschaftlichen Bildungsarbeit. Die neue Rechte und was man gegen sie tun sollte, o.O, o.J., S. 53.
[5] Josef Held/Hans-Werner Horn/Athanasios Marvakis: Gespaltene Jugend. Politische Orientierung jugendlicher Arbeitnehmer. Opladen 1996; zentrale Ergebnisse zusammengefasst in: Hahn, Reinhard/Horn, Hans-Werner: Eine neue rechte Jugend? Aspekte aus einer Studie zu politischen Orientierungen von Arbeitnehmerjugendlichen. Hrsg. von IG-Metall Vorstand, Abteilung Jugend, Sonderdruck IDEEN, 2. Auflage. Frankfurt am Main 1997. Eine repräsentative Jugendstudie für die IG Metall stellt einige Jahre später keine relevanten Unterschiede mehr zwischen Mitgliedern und Nichtmitgliedern fest, da die Nichtmitglieder nach rechts gerutscht seien (Seddik Bibouche/Josef Held: IG Metall-Jugendstudie. Lebenseinstellungen junger Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Marburg 2002; dazu auch: Jan Engelhardt: „Her mit dem schönen Leben!“ Politische Schwerpunkte der IG Metall-Jugendarbeit, in: Z-53, März 2003.
[6] Alle Seitenangaben ohne zusätzliche Quellenangabe beziehen sich auf den Abschlussbericht des Forschungsprojektes „Gewerkschaften und Rechtsextremismus“.
[7] Die Aussagen haben eine Werteskala von 1 („stimme überhaupt nicht zu“) bis 7 („stimme voll und ganz zu“), als Zustimmung gelten die Werte 5 – 7. Die zitierten Aussagen und die Prozentzahlen geben – außer beim Index Sozialdarwinismus – die jeweils höchste Zustimmung zu einer Frage in diesem Bereich wider.
[8] Die Befragten wurden nach Einkommen und Bildung in „Unterschicht“ (44 Prozent), „Mittelschicht“ (32 Prozent) und „Oberschicht“ (24 Prozent) eingeteilt.
[9] Gerade für die Funktionäre im Westen stellt die Studie eine „enorme Kluft zwischen beiden Orientierungsmustern“ fest: So sind 14 Prozent stark autoritär, aber 32 Prozent stark systemkritisch (S. 294).
[10] Michael Fichter/Richard Stöss/Bodo Zeuner: Ausgewählte Ergebnisse des Forschungsprojekts „Gewerkschaften und Rechtsextremismus“, S. 12 (www.polwiss.fuberlin.de/projekte/gewrex/gewrex_downl.htm)
[11] Im „aktuellen Überblick über [gewerkschaftliche] Aktivitäten/Projekte/Bildungsver-anstaltungen gegen Rechtsextremismus“ im Anhang der Studie fehlen zahlreiche, auch profilierte Projekte und Aktivitäten, von einem Überblick kann keine Rede sein. Neben dem Baustein zur nicht-rassistischen Bildungsarbeit des DGB-Bildungswerks Thüringen e.V. fehlt z. B. auch die Internet-Platform www.migration-online.de des DGB-Bildungswerks e.V. (obwohl beide im Kapitel Schlussfolgerungen erwähnt sind).
[12] Siehe insbesondere: Europäisches Projekt „Socio-Economic Change, Individual Reactions and the Appeal of the Extreme Right“ (Untersuchung Deutschland: Universität Köln, Berichte in englischer Sprache: www.siren.at/en/publics/#reports) - Beiträge in deutscher Sprache werden veröffentlicht in: Jörg Flecker/Gudrun Hentges/Gabrielle Balazs: Sozioökonomische Veränderungen und Rechtspopulismus, in: Christoph Butterwegge/Gudrun Hentges/Malte Meyer (Hg.): Die Wurzeln des Rechtspopulismus in der Arbeitswelt, Wiesbaden 2005; Klaus Dörre/Klaus Kraemer/Frederic Speidel: Prekäre Beschäftigungsverhältnisse. Ursache von sozialer Desintegration und Rechtsextremismus? Projekt des Forschungsinstitut Arbeit, Bildung, Partizipation e.V. an der Ruhr-Universität Bochum (Auszüge aus dem Projektzwischenbericht, November 2003: www.ruhr-uni-bochum.de/fiab/pdf/sonstiges/prek_besch-zwischenbericht.pdf).