Arbeiterbewegung und Politiktheorie

Staat, Recht und Politik bei Wolfgang Abendroth

Dezember 2005

Der 20. Todestag im September 2005 sowie der 100. Geburtstag Wolfgang Abendroths im Mai 2006 geben Gelegenheit, über die Beiträge nachzudenken, die Abendroth zur Theorie des Sozialismus und zur Strategie und Taktik der Arbeiterbewegung geleistet hat.

Rechts- und Politiktheorie als historische Wissenschaften

In der verfassungs- und der politikwissenschaftlichen Konzeption Wolfgang Abendroths bilden Theorie und Geschichte eine sich ständig befruchtende Einheit. Sowohl die Juristische Wissenschaft als auch die Politische Wissenschaft, so wie sie Abendroth versteht, bleiben als historische Wissenschaften niemals bei der empirischen Deskription und Analyse von Fakten und politischen Erscheinungsformen stehen. Sie sind gleichfalls keine phänomenologische Deduktion des „Wesens” der Politik.[1] „Als kritisch-praktische Wissenschaft von den politischen Strukturen und Prozessen der Gesellschaft gewinnt politische Wissenschaft ihr Selbstverständnis und die Einheit ihres Gegenstandes im Bezug auf Gesellschaft als historisch sich entwickelnde Totalität, in der Herrschaftsstrukturen, Bewußtseinsformen und Strukturen der gesellschaftlichen Reproduktion nicht beziehungslos nebeneinanderstehen, sondern als Ausdrucksformen menschlicher Praxis notwendig zusammenhängen und sich im historischen Prozeß bedingen.”[2]

Im bewussten Gegensatz zu den unterschiedlichen Erscheinungsformen bürgerlicher Politikwissenschaft, die von dem Prozess der gesellschaftlichen Reproduktion abstrahiert und lediglich die bestehende politisch-soziale Herrschaft des Kapitals fixiert und perfektioniert, werden bei Abendroth der ökonomische Reproduktionsprozess und die aus ihm resultierende Struktur der Gesellschaft als Basis der politisch-sozialen Machtverteilung aufgefasst: „In den Herrschaftsstrukturen und ihrem Wandel reproduziert sich dabei die Auseinandersetzung sozialer Gruppen und ihrer Interessen. Politische Aktionen und Institutionen führen zurück auf Interessenkonflikte, die notwendig aus dem gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß hervorgehen.”[3]

In dieser Sichtweise des historischen und gesellschaftlichen Charakters alles Politischen erlangen die staatstheoretischen Aussagen Abendroths – die immer zugleich auch rechtstheoretische sind[4] – wissenschaftliche Prägnanz und Brisanz, weil sie in sehr enger Verbindung zu dem vergangenen, dem gegenwärtigen und auch dem zukünftigen geschichtlichen Kampf der Arbeiterklasse stehen und sich als theoretische Verallgemeinerung der Geschichte der internationalen Arbeiterbewegung begreifen.[5] Abendroths Untersuchungen des geschichtlichen Prozesses und Fortschrittes zielen auf Gesetzesaussagen über den bürgerlichen Staat, die bürgerliche Demokratie, den sozialistischen Staat und die sozialistische Demokratie.[6] „Das Denken von Karl Marx und Friedrich Engels [...] bietet als umfassende Theorie der Gesellschaft und der Geschichte gleichzeitig eine umfassende Theorie der Politik. Sie ist vor allem dadurch von den übrigen Systemen der politischen Theorie unterschieden, daß sie die dialektische Einheit von Theorie und Praxis von vornherein herstellt.”[7]

Für Abendroth ist in der materialistischen Geschichtsauffassung im Einklang mit Marx und Engels die Arbeiterklasse eindeutig das Subjekt des bewussten historischen Prozesses, soweit und sofern es seine objektive gesellschaftlich-geschicht­liche Lage zu erkennen vermag und aus ihr – mit dem Mittel der Aneignung der politischen Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus – sein Klassenbewusstsein entwickelt und in praktisch-politisches Handeln umsetzt.[8] „Die Aufhebung des Grundwiderspruchs zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung der Resultate des Wirtschaftsprozesses, setzt die dauerhafte und gesicherte Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiterklasse voraus.”[9] Dabei sind für Abendroth Demokratie und die Herrschaft der Arbeiterklasse als Einheit der wirkliche Inhalt der materialistischen Staatslehre.[10] Die Dialektik der Herrschaft der Arbeiterklasse ist derart, dass sie durch die Organe der großen Mehrheit der Bevölkerung und unter deren ständiger demokratischer Kontrolle ausgeübt wird.[11]

Abendroth hebt bei Marx vor allem hervor, dass er die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft und der Eigentumsverhältnisse als notwendige Konsequenz demokratischen Denkens ansieht: „Denn nur durch ihre Erweiterung von der bloß politischen Demokratie zur sozialen, durch Unterwerfung der bisher – solange die privatkapitalistische Struktur der Wirtschaft unangetastet bleibt – keiner gesellschaftlichen Kontrolle eingeordneten Kommandostellen des ökonomischen Lebens unter die Bedürfnisse und den Willen der Gesellschaft, kann die Demokratie realen Inhalt gewinnen und ihre inneren Widersprüche überwinden.”[12]

Das Verständnis Abendroths von Demokratie bleibt nicht auf die politischen Methoden zur Stabilisierung einer Herrschaftsordnung fixiert, vielmehr dringt er bis zur Organisation des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses vor. Auf den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess als sozialer Basis der Herrschaftsordnung muss sich ein Demokratiebegriff erstrecken, der die Identität von Regierenden und Regierten erweitert zum Postulat der Identität der gesellschaftlich Arbeitenden und derjenigen Gesellschaftsmitglieder, die die Gesellschaft in ihrer Entwicklung bestimmen.[13] Das jeweilige Wesen der Demokratie kann dabei stets nur aus einer klassenpolitischen Analyse des Wesens und der Rolle der Staatsgewalt analysiert werden.[14]

Die bürgerliche Demokratie wird von dem Wesen des bürgerlichen Staates, und beide werden wiederum durch die in der bürgerlichen Gesellschaft herrschenden Eigentumsverhältnisse bestimmt. Diese Form der Demokratie ist daher nach Erkenntnis Abendroths eine Diktatur zur Bewahrung der bürgerlichen Gesellschaft und des bürgerlichen Eigentums und seiner Machtpositionen nach innen und zur Durchführung einer imperialistischen Politik nach außen.[15]

Mit dem Übergang vom vormonopolistischen Kapitalismus der freien Konkurrenz zum durch Monopole bestimmten Imperialismus, und dann in der weiteren historischen Entwicklung zum staatsmonopolistischen Kapitalismus bekommen innerhalb der Sphäre der öffentlichen Gewalt die Interessen des Monopolkapitals eine eindeutige Vormachtstellung.[16]

Um das jeweilige Wesen eines Staates festzustellen, muss von der ökonomischen Struktur der betreffenden Gesellschaft und der darauf beruhenden Klassen- und Sozialstruktur ausgegangen werden. Abendroths Aussagen zum Klassenwesen des Staates der Bundesrepublik Deutschland basieren darauf, dass „die bundesrepublikanische Gesellschaft immer noch Klassengesellschaft ist. Die äußerliche Verdeckung dieses Tatbestandes durch Verschiebung und (höchst teilweise) Angleichung der Konsumgewohnheiten und Erweiterung der Konsummöglichkeiten kann diesen Tatbestand nicht aufheben, sondern bestenfalls in begrenztem Maße verhüllen. Die Vorstellungsreihen der ‚egalitären Mittelstandsgesellschaft’ oder der (nicht antagonistischen) ‚pluralistischen Gesellschaft’ sind also ideologisch und halten einer kritischen Analyse der sozialen Realität nicht stand.” [Hervorheb. d. Verf.][17]

Demokratischer Kampf und Kampf um das Recht

Der bürgerlich-demokratische Staat ist nach Auffassung von Karl Marx die Herrschaft der gesamten Bourgeoisklasse.[18] Im Jahr 1894 hat Friedrich Engels dieses generell für die Staatsform der Republik verallgemeinert: „Aber die Republik wird wie jede andere Regierungsform durch ihren Inhalt bestimmt; solange sie die Herrschaftsform der Bourgeoisie ist, ist sie uns genau so feindlich wie irgendeine Monarchie (abgesehen von den Formen dieser Feindseligkeit). Es ist also eine völlig unbegründete Illusion, sie ihrem Wesen nach für eine sozialistische Form zu halten oder ihr, solange sie von der Bourgeoisie beherrscht ist, sozialistische Aufgaben anzuvertrauen. Wir können ihr Zugeständnisse entreißen, aber ihr niemals die Ausführung unserer eigenen Arbeit übertragen.”[19]

Die von der revolutionären Bourgeoisie geforderten und in den Verfassungen bürgerlich-demokratischer Staaten konstituierten Grund- und Menschenrechte haben nach Marx einen bürgerlichen Klassencharakter: „Die praktische Nutzanwendung des Menschenrechtes der Freiheit ist das Menschenrecht des Privateigentums.” [Hervorheb. d. Verf.][20]

Die internationale Arbeiterbewegung ist sich bereits seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bewusst, dass die bürgerlich-demokratischen Institutionen der Diktatur der Bourgeoisie Möglichkeiten bieten, mittels derer die Arbeiterklasse diese selben Staatseinrichtungen bekämpfen kann.[21]

Das allgemeine Wahlrecht, die bürgerlichen Parlamente, die bürgerlichen Grundrechte können nach Auffassung der materialistischen Staatstheorie zu Mitteln der Befreiung werden, zu Mitteln, um das Recht auf Revolution, das nach Engels einzige wirklich ‚historische Recht’ schrittweise zu realisieren.[22]

Abendroth steht mit seinen juristischen, politischen und historischen Überlegungen in dieser Tradition materialistischen und revolutionären Denkens und Handelns.[23] Er ist sich auch darüber im Klaren, dass jeder Kampf um Demokratie, den die Arbeiterbewegung in der kapitalistischen Gesellschaft führt, grundsätzlich begrenzt bleibt, solange sich die politische Macht nicht in der Hand der Arbeiterklasse befindet. Dennoch bleibt der Klassenkampf der Arbeiterbewegung für demokratische Reformen innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft eine notwendige Aufgabe.[24] Nur so werden die Lage und die Kampfbedingungen der Arbeiterklasse verbessert und Voraussetzungen für revolutionäre Veränderungen des Staates und der Gesellschaft geschaffen.[25] „So notwendig also der Kampf um [...] Reformen als Teil des ständigen Kampfes um die Erweiterung und Verbesserung der Lebenshaltungsbedingungen der Arbeiterklasse ist, so bleibt es doch Handwerkelei und Stückwerk, wenn er nicht durch den bewussten Teil der Arbeiterklasse, also durch alle sozialistischen Gruppierungen, gleichzeitig immer wieder dazu genutzt wird, diesen in vollem Maße klassenbewußten Kern zu erweitern und dadurch die Gewinnung der Majorität für die Eroberung der politischen Macht vorzubereiten.”[26]

In diesem Sinne werden von der internationalen Arbeiterbewegung in allen industrialisierten und im Prozess der Industrialisierung befindlichen Staaten seit Mitte des 19. Jahrhunderts die Kämpfe für die Durchsetzung demokratischer politischer Formen geführt, Kämpfe um die demokratische Republik als Voraussetzung des politischen Kampfes für den Sozialismus.[27]

Dabei besteht immer die Gefahr – auf die Abendroth ausdrücklich hinweist –, dass eine Bezugnahme auf die Verfassung entpolitisierend wirken kann. Die Verrechtlichung ist jedoch immer nur von dem Standpunkt der herrschenden Klassen eine Entpolitisierung, mit der sie die Bewusstseinsentwicklung der unterdrückten Klassen be- und verhindern will. Demgegenüber ist nach Ansicht Abendroths eine Verrechtlichung vom Standpunkt der jeweils unterdrückten Klassen keine Entpolitisierung. Denn vom Standpunkt der unterdrückten Klassen aus ist das Erlangen von Rechts- und Verfassungsrechtsregeln, die zu ihren Gunsten nutzbar sind, ein Problem des Klassenkampfes – und nichts anderes. Das weitere Austragen dieser Rechtsregeln führt diesen Kampf weiter.[28]

Abendroth weist aber auch mit großen Nachdruck darauf hin, dass nicht übersehen werden darf, dass die Organisation der Arbeiterklasse als demokratische Gegenmacht ständig den Versuchen der Bourgeoisie und ihres Staates ausgesetzt ist, die Arbeiterklasse und die Arbeiterbewegung in den Machtapparat der bestehenden Gesellschaft zu integrieren: „In die Reihen der Sozialisten wird daher immer wieder diese Gefahr der Transformation der Gegenmacht in eine bloße Einordnungsgröße zugunsten der bestehenden Gesellschaft infiltriert. Ohne ständige kritische Auseinandersetzung mit dem Opportunismus als sich stetig reproduzierender Gefahr werden die Sozialisten niemals erfolgreiche Kämpfe führen können.”[29]

Friedrich Engels hat sich 1895 zu der latenten Tendenz kapitalistischer Klassenherrschaft, die bürgerlich-demokratischen Verfassungsrechte und die bürgerliche Gesetzlichkeit im Interesse der Aufrechterhaltung ihrer Klassenmacht selbst zu durchbrechen, geäußert. Die politische Realität in der BRD bestätigt diese Tendenzen nach Ansicht Abendroths: „Die herrschenden Klassen versuchen gemeinsam (bei allen Differenzen, die sie im übrigen im Zeichen konkurrierender Machtinteressen der Oligopole haben mögen) die formaldemokratischen Rechtsformen, die sie einst selbst geschaffen (oder doch wenigstens geduldet) haben, durch die Realität des autoritären Staates der Konzerne und der hohen Staatsfunktionäre zu ersetzen.”[30]

Dabei weist Abendroth für die spezielle Situation der Bundesrepublik Deutschland besonders darauf hin, dass zusätzlich in Rechnung zu stellen ist, dass sich herrschende Monopole und Bürokratien weitgehend aus denjenigen gesellschaftlichen Kräften rekrutieren, die einst an der Machtstruktur des Dritten Reiches mitgewirkt haben und denen die Anerkennung der formal-demokratischen Verfassungsnormen immer nur äußerlich war.[31]

Angesichts dieser Sachlage gibt es für Abendroth nur die eine Alternative:

„Entweder erweitert sich die formale Demokratie der staatlichen Organisation zur sozialen der Gesellschaft [...]; oder aber die wirtschaftlichen Machtträger [...] in der Gesellschaft streifen die demokratische Form der politischen Organisation [...] ab und begeben sich dabei auch ihrer liberalen Tradition.”[32]

Für Abendroth ist die Rechtsordnung niemals eine neutrale Größe, die nur aus sich selbst verstanden werden kann, sondern stets ein Produkt und ein Gegenstand der politischen und sozialen Kämpfe.[33] Gilt diese Überlegung bereits schon für das Normensystem (d.h. die Verfassung, die Gesetze und Rechtsverordnungen, die in einem bestimmten Staat gelten), so trifft sie erst recht auf die Anwendung dieser Normen durch diejenigen Staatsorgane, die sie in der Praxis durchzusetzen haben, zu, also vor allem auch für die Justiz. Die durch soziale Unterschichten erkämpften neuen Rechtsformen, die auf die Demokratisierung von Staat und Gesellschaft gerichtet sind, können normalerweise nur durch eine wachsame und ständige Kritik an der Rechtsprechung lebensfähig gehalten werden.[34]

Der potentiell transformatorische Charakter
der Rechtswissenschaft und des Rechtssystems

Abendroth bleibt nicht bei dieser generellen Erkenntnis der Bedeutung der Kämpfe um demokratische Verfassungsnormen stehen, sondern er berücksichtigt in seinen juristischen und politischen Analysen auch die neuen globalen und spezifischen historischen Bedingungen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges entstanden sind.[35]

Durch die Einbeziehung des sich quantitativ und qualitativ verändernden Systems der Internationalen Beziehungen in seine Untersuchungen wendet Abendroth die folgenden grundlegenden Prinzipien des dialektischen und historischen Materialismus auf die Analyse des Rechtssystems und der Rechtswissenschaften an: „Der ganze Geist des Marxismus, sein ganzes System verlangt, daß jede These nur a) historisch; b) nur in Verbindung mit anderen; c) nur in Verbindung mit den konkreten Erfahrungen der Geschichte betrachtet wird.“[36]

Nach 1945 gab es im globalen Rahmen keine wesentliche innenpolitische Machtverschiebung in einem Staat, „die nicht durch das Gesamtgefüge der internationalen Beziehungen zwischen den Weltmächten und den übrigen Staaten, meist auch durch die Sonderinteressen irgendeiner Weltmacht bzw. einer konkret feststellbaren Staatengruppierung, sei es in dieser, sei es in jener Weise, mitbestimmt wäre.”[37] Und umgekehrt wird das Verhalten der Staaten bei den Internationalen Beziehungen durch deren jeweiligen innenpolitischen Machtstrukturen bestimmt.[38] Daraus schlussfolgert Abendroth, „daß diese Verschränkung von innenpolitischer Struktur der einzelnen Staaten und Strukturen der Internationale Relations objektiv [...] nicht auf ein mechanistisches Ursache-Wirkung-Verhältnis reduziert werden kann, sondern eine allseitige dialektische Beziehung darstellt, die sich geschichtlich – in ständiger Bewegung ihrer Komponenten wie des Ganzen, die sich beide widersprüchlich entwickeln und durch diese Entfaltung ihrer Widersprüche weitergetrieben werden – fortbewegt.”[39]

Die Bedingungen für die Ausarbeitung der juristischen und politischen Konzeptionen der Arbeiterbewegung haben sich nach 1945 nach Ansicht Abendroths durch den Aufstieg der UdSSR zu einer politischen, militärischen und ökonomischen Weltmacht sowie der Bildung eines sozialistischen Staatensystems grundlegend von den Bedingungen nach dem Ersten Weltkrieg unterschieden.[40]

Die neue globale Gleichgewichtslage bedingt auch einen vollständig neuartigen und hinsichtlich des gesellschaftlichen Systems der BRD potentiell transformatorischen Charakter der Rechtswissenschaft und des Rechtssystems: „Im Jahre 1919 ist aus der Sicht der Arbeiterbewegung die Verwertung von Möglichkeiten, die die bürgerliche Rechtsordnung gewährt, von Fall zu Fall sehr wichtig, aber der Gesamtprozeß einer Transformation in eine spätere sozialistische Gesellschaft ist noch nicht innerhalb dieses Gefüges definierbar. Das ist nach 1945 bei Veränderungen auch der internationalen Gleichgewichtslage schlicht anders. Die rechtsinterpretative und die rechtswissenschaftliche Betrachtungsweise erhält für die Arbeiterbewegung nun eine neue Dimension. Es geht für die Juristen der Arbeiterbewegung vor 1914 [muss heißen: 1945; der Verf.], grob formuliert, im wesentlichen nur darum, die Rechtsnormen der bürgerlichen Gesellschaft zu stärken und auszunützen, die für die Arbeiterbewegung als gewährte Konzessionen brauchbar sind, ohne freilich der Illusion zu erliegen, daß von hier aus eine Transformation der gesamten bürgerlichen Gesellschaft überhaupt erreichbar sein könnte; rechtswissenschaftliches Auftreten von Marxisten war hier im wesentlichen praktische Aufgabe des Tages, nicht strategische. In der Gleichgewichtslage nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist die Situation eine vollständig andere. Man kann jetzt an ein systematisch in sich geschlossenes System rechtswissenschaftlichen Denkens herangehen als strategisches Anleitungsmittel, und das heißt natürlich auf der Basis und in Anerkennung der inzwischen geschaffenen verfassungsrechtlichen Normen. Typisch dafür ist: Der beste marxistische Rechtswissenschaftstheoretiker der Weimarer Republik, der frühe Karl Korsch, schreibt ein System des Arbeitsrechts und gibt Anleitungen für arbeitsrechtlich richtiges Auftreten von Vertretern der Gewerkschaftsbewegung und auch der politischen Arbeiterbewegung. Aber er kann gar nicht daran denken, etwa ein generelles strategisches Konzept rechtswissenschaftlichen Denkens bis in das verfassungsrechtliche Denken hinein zu liefern, weil die realen Voraussetzungen dafür fehlen. Das ändert sich ab 1945, denn jetzt sind die Rechtswissenschaft und das Rechtssystem potentiell transformatorischen Charakters. Es ist vor allem das relative Gleichgewicht zwischen einer (bei allen Mängeln) sozialistischen Weltmacht und den kapitalistischen Staaten, das die Basis dafür bietet.”[41]

„Die rechtsinterpretative und die rechtswissenschaftliche Betrachtungsweise erhält für die Arbeiterbewegung nun eine neue Dimension. [...] Man kann jetzt an ein systematisch in sich geschlossenes System rechtswissenschaftlichen Denkens herangehen als strategisches Anleitungsmittel, und das heißt natürlich auf der Basis und in Anerkennung der inzwischen geschaffenen verfassungsrechtlichen Normen.”[42]

An jeder der einzelnen Bruchstellen in den verfassungsrechtlichen Entwicklungen der BRD orientiert sich Abendroth in seiner juristischen Argumentation generell an dem strategischen Ziel, die rechtsstaatlich-demokratischen Rahmenbedingungen für die Austragung der Konflikte der gegensätzlichen sozialen und politischen Kräfte zu erhalten.[43]

Abendroth untersucht außerdem in seinen Analysen des Verfassungssystems der BRD ausführlich die speziellen verfassungsrechtlichen Möglichkeiten, die soziale Ordnung der Bundesrepublik demokratisch grundlegend zu verändern.[44] Er hebt dabei ausdrücklich hervor, dass das Grundgesetz der BRD zwar das spätkapitalistische Wirtschaftssystem und seine sozialen Widersprüche und politischen Gefahren mit wenigen Veränderungen bestehen gelassen hat, aber auch gleichzeitig die Möglichkeit garantiert, es mit gesetzlichen Mitteln und ohne Grundgesetzänderung durch Entscheidung der Majorität der Legislative, die durch die Wähler erzwungen werden kann, in eine sozialistische Ordnung zu verwandeln. Diese Chance zur Demokratisierung der Sozialordnung kann seiner Erkenntnis nach nur illegal, nicht aber durch Änderung des Grundgesetzes in legaler Form, beseitigt werden, weil der Rechtsgrundsatz des ,demokratischen und sozialen Bundesstaates’ (Artikel 20 Abs. 1) gegen Verfassungsänderungen geschützt ist (Art. 79 Abs. 3).[45]

Abendroth sieht innerhalb seiner Analysen sehr realistisch, dass die demokratischen Aktivitäten der Arbeiterbewegung erforderlich sind, um die Grundrechte am Leben zu erhalten und sie aus bloß fiktiven Deklamationen in die tägliche Praxis zu übersetzen.[46] „So sind die Grundrechte aus liberalen Ausklammerungsrechten gegenüber einer grundsätzlich vom Volk unabhängig gedachten monarchistischen Staatsgewalt nunmehr zu demokratischen Beteiligungsrechten an der Willensbildung der öffentlichen Gewalt geworden, die aber auch als solche nur dann wirksam bleiben, wenn sie den alten Inhalt, den des Schutzes des einzelnen Menschen, als Substanz bewahren. Der Kampf um die Bewahrung der Grundrechte ist also immer Kampf um die Bewahrung der demokratischen Struktur des Staates selbst.”[47]

Abendroth setzt sich in seinen Analysen auch mit den Thesen derjenigen Verfassungsrechtler und Politikwissenschaftler in der BRD auseinander, die behaupten, das Grundgesetz habe sich endgültig für eine repräsentative – im Gegensatz zu einer plebiszitären – Demokratie entschieden. Diese Behauptung widerspricht Abendroths Ansicht nach dem grundsätzlichen Bekenntnis des Grundgesetzes zur Demokratie. Denn von Demokratie kann seiner Meinung nach offenbar dann nicht mehr die Rede sein, wenn die demokratische Beteiligung der Bevölkerung, von der die Staatsgewalt ausgeht, auf die Befugnis beschränkt wird, ihr gegenüber völlig unabhängige Repräsentanten auszuwählen, denen sie, sind diese Repräsentanten einmal bestellt, in völliger Passivität die politische Willensbildung überlässt. Durch die Wahl würden dann nur noch deren zurückliegende Entscheidungen oder deren den Wählern unbekannten Pläne für ihr künftiges Verhalten ohne Anspruch auf wirkliche Mitwirkung der Bevölkerung akklamiert. Auch wenn die Bevölkerung sich in dieser Weise verhält und wenn reale soziale und sozialpsychologische Tendenzen zu dieser Verhaltensweise hindrängen, ist es nach Ansicht Abendroths unzulässig, diese schlechte Realität als durch das Grundgesetz gewollt zu unterstellen und das Grundgesetz nicht von seinem normativen Gehalt, sondern von dieser Realität aus zu interpretieren.[48]

Abendroth widerlegt gleichfalls überzeugend diejenigen Auffassungen vom demokratischen und sozialen Rechtsstaat der BRD, die die Unvereinbarkeit des Rechtsstaats- mit dem Sozialstaatsprinzip und die Unzulässigkeit einer sozialistischen Umgestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung der Bundesrepublik behaupten: „Unter dem Sozialstaatsgedanken des Grundgesetzes ist [...] nicht etwa ein Obrigkeitsstaat zu verstehen, der aus Gründen der Beseitigung der Gefahr, daß in Abhängigkeit gehaltene Unterklassen sich revolutionieren, deren Mündigkeit und Gleichberechtigung der Staat bestreitet, ein Lebenshaltungsminimum gewährleistet und Almosen austeilt. Das Prinzip des demokratischen und sozial Rechtsstaats geht vielmehr davon aus, daß der Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 und der Selbstverwaltungsgedanken sich aus der politischen Ordnung in die Kultur- und Wirtschaftsgesellschaft übertragen kann, und daß der Gesetzgeber, die Exekutive und die richterliche Gewalt mindestens die Möglichkeit, wenn nicht den Auftrag erhalten, diese Ausdehnung demokratischer Grundsätze aus dem Staatsrecht in die Beziehungen der Bewohner des Staatsgebietes [...] untereinander durchzusetzen.”[49]

Abendroth ist immer wieder dafür eingetreten, das Rechtsstaatsprinzip, das an sich inhaltsleer ist, mit dem Prinzip der Volkssouveränität zu verbinden.[50] Während die herrschende Meinung der Verfassungstheorie in der Bundesrepublik das Rechtsstaatsprinzip der Volkssouveränität entgegenstellt,[51] betont Abendroth: „Nach der Absicht des Bonner Grundgesetzes, wie sie in Art. 20 deutlich hervortritt, ist aber gerade dies Prinzip des Rechtsstaats dem der Demokratie eingebettet und also untergeordnet worden.”[52]

Die Definition der Bundesrepublik Deutschland als einer sozialen Demokratie, wie sie sich in dem Art. 20 des Grundgesetzes findet, ist nach seiner Auffassung nur dann aufrechtzuerhalten, wenn auch der Art. 15 des Grundgesetzes mit seiner Sozialisierungsmöglichkeit Verfassungswirklichkeit wird.[53]

Literatur

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[1] Schöneburg 1980, S. 35.

[2] Abendroth/Lenk 1982, S. 10-11.

[3] Ebd., S. 17.

[4] Vgl. dazu: Römer 1986, S. 8-10, 36-40.

[5] Vgl. Abendroth 1970.

[6] Vgl. Abendroth 1965a.

[7] Ebd., S. 466.

[8] Ebd.

[9] Abendroth in Perels 1977a, S. 230.

[10] Vgl. ebd., S. 72; einen Überblick über die Materialistische Staatstheorie gibt Wilfried Röhrich (1980).

[11] Abendroth in Perels 1977a, S. 30.

[12] Ebd., S.24.

[13] Abendroth/Lenk 1982, S. 21.

[14] Abendroth in Perels 1977a, S. 131.

[15] Ebd.

[16] Ebd., S. 233. Dazu auch: Abendroth 1977a, S. 226, S. 241-243, S. 254-257.

[17] Abendroth 1965b, S. 53.

[18] Marx 1850, S. 59.

[19] Engels 1894, S. 216.

[20] Marx 1844, S. 364.

[21] Engels 1895, S. 519.

[22] Vgl. ebd., S. 518-519 und 524.

[23] Dazu siehe: Römer 1986, S. 15-21.

[24] Schöneburg 1980, S. 41.

[25] Ebd.

[26] Abendroth in Perels 1977a, S. 230.

[27] Ebd., S. 232.

[28] Vgl. Abendroth 1977a, S. 188-191.

[29] Abendroth in Perels 1977a, S. 234-235. Vgl. Dazu auch: Abendroth 1975a, S. 193.

[30] Ebd., S. 238.

[31] Ebd., S. 241, 244, 245, 246 und 299.

[32] Ebd., S. 34.

[33] Vgl. dazu: Römer 1986, S. 1.

[34] Abendroth in Perels 1977a, S. 155.

[35] Einen sehr knappen Überblick über die Geschichte der Internationalen Beziehungen, in dem Abendroth gleichwohl die wichtigsten, durch veränderte globale Gleichgewichtslagen bedingten Veränderungen innerhalb des Komplexes dieser Beziehungen thematisiert, hat er formuliert in: Abendroth 1973, S. 13-25, S. 28-32, 35-37.

[36] Lenin 1916, S. 227.

[37] Abendroth 1973, S. 13.

[38] Ebd.

[39] Ebd.

[40] Zur Analyse der Rolle und Funktion, sowie zur Bedeutung der sozialistischen Staaten für die Arbeiterbewegung in den kapitalistischen Staaten durch Abendroth: Abendroth 1980; Meyer 1986.

[41] Abendroth 1981, S. 152-153.

[42] Ebd.

[43] Perels 1977b, S. 9.

[44] Schöneburg 1980, S. 49.

[45] Vgl. Abendroth 1966, S. 68.

[46] Dazu: Römer 1986, S. 28.30.

[47] Abendroth 1966, S. 75. Zum Demokratiebegriff Abendroths: Römer 1986, S. 23-27.

[48] Abendroth 1966, S. 79.

[49] Ebd., S. 66-67.

[50] Schöneburg 1980, S. 51.

[51] Ebd.; vgl. dazu auch Meister 1966.

[52] Abendroth in Perels 1977a, S. 64.

[53] Vgl. ebd., S. 118 und 7-30.