Krisen haben ganz allgemein die Angewohnheit, Entwicklungsprozesse zu beschleunigen. Die Ereignisse, die aus Krisen resultieren, schaffen die Rahmenbedingungen dafür, dass die Krisen überhaupt erst diagnostiziert werden können, während die Diagnosen wiederum verschärfend auf die Krisen einwirken und bestenfalls deren Überwindung forcieren. Wenn sich über ein Buch sagen lässt, dass es eine intellektuelle Krise identifiziert, zugespitzt und möglicherweise begriffliche Instrumente geliefert hat, sie zu lösen, dann kommt einem solchen Buch ein hoher Stellenwert zu. Beverly Silvers Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870 ist ein solches Buch.
Silvers Fragestellung
Der Wert von Silvers Buch besteht nicht zuletzt in seiner historischen Rolle in Bezug auf den offensichtlich gewordenen Erklärungsnotstand der noch in den frühen 1990er Jahren kaum widersprochenen Globalisierungsideologie. Die Krise des Globalisierungsdiskurses hat sich im Zuge des Zusammenbruchs der New Economy und der sich anschließenden globalen Rezession, dem Zerfall der metropolitanen Mittelschichten, dem Abglanz der Theorie von den komparativen Kostenvorteilen einer „freien“ Welthandelsordnung, dem Aufstieg einer (semi-)peripheren „neuen Agrar-“ und einer globalen „neuen Arbeiterfrage“ (Amin 2004), der zunehmend gewaltförmigen Durchsetzung der Globalisierung und der Zunahme von Aktivitäten reaktionärer wie fortschrittlicher Antiimperialismen entfaltet und konsequenterweise das Arsenal des analytisch-begrifflichen Instrumentariums um Begriffe wie „Kapitalismus“, „Klasse“ und „Imperialismus“ erweitert, die in breiteren Kreisen der akademischen Linken ihre Wiederauferstehung feiern konnten. Beverly Silver hat standhaft allen Konjunkturen des akademischen Schaulaufens und der intellektuellen Moden getrotzt, die sich im Zuge der Krise der Linken von dem Studium der Arbeiterbewegung entfernt haben und an einem Buch gearbeitet, das aus einer fast 20jährigen akribischen Forschung im Rahmen der amerikanischen labor studies entstanden ist. Der bemerkenswerte Erfolg ihrer Studie deutet darauf hin, dass ihr Buch am Anfang einer neuen Beschäftigung mit der globalen sozialen Frage und ihrer Ursachen, die in den Widersprüchen der kapitalistischen Produktionsweise zu suchen sind, stehen könnte.[1]
Die zentrale Fragestellung von Forces of Labor lautet: Gibt es eine Zukunft für die internationale Arbeiterbewegung? Die zentrale Annahme für die Beantwortung dieser Frage lautet: Der vorschnelle Abgesang auf die Arbeiterbewegung und ihre politische Theorie ist einem methodischen Raum-Zeit-Fehler geschuldet. Bisher wurden die meisten Arbeiten zum Thema in der Regel räumlich auf nationale Arbeiterbewegungen und zeitlich zumeist nur noch auf die Entwicklung bzw. den Niedergang der Arbeiterbewegung seit dem berühmten „Erdrutsch“ in den 1970er Jahren und der „monetaristischen Konterrevolution von Reagan und Thatcher“ (Arrighi 2003) seit Anfang der 1980er Jahre beschränkt. Dieser Niedergang wurde auf der ökonomischen Seite von einer Abschwächung der Arbeitskämpfe, einer Erosion des gewerkschaftlichen Organisierungsgrades, stagnierenden oder sinkenden Reallöhnen und einer zunehmenden Prekarisierung und Informalisierung der Arbeitsverhältnisse geprägt, während im gleichen Atemzug auf der politischen Ebene mit dem Zusammenbruch des Staatssozialismus und der weitgehenden neoliberalen Transformation der Sozialdemokratie die beiden politischen Arme der internationalen Arbeiterbewegung in eine tiefe Krise gerieten. Auch kritische Vertreter im Rahmen der Globalisierungsdiskussion wie William Robinson und Jerry Harris haben daher – allerdings mit guten Begründungen – in jenen Chor eingestimmt, der das Lied vom „Wettlauf nach unten“ vortrug. Dessen Tenor lautet, dass die gewachsene Mobilität des Kapitals und der vermeintliche Souveränitätsverlust des immobilen Nationalstaates die Konturen eines negativen Endes der Nord/Süd-Spaltung und der Konfrontation einer transnationalen kapitalistischen Klasse mit einem globalen Proletariat in Erscheinung hat treten lassen (vgl. Harris/Robinson 2000).[2] Angemessene Ergebnisse lassen sich aber, so die These von Silver, nur vermittels einer doppelt erweiterten Perspektive ermitteln: Zeitlich gilt es, die Arbeiterbewegungen mindestens seit ihren statistisch erfassten oder erfassbaren Anfängen im 19. Jahrhundert zu betrachten; räumlich kann die Analyse nur insofern global sein, als die einzelnen Arbeiterbewegungen über die globale Arbeitsteilung und das kapitalistische „Weltsystem“ miteinander verbunden sind. Hiermit erscheint die vorschnelle Abwendung von der Erforschung der Arbeiterbewegung, ihrer Geschichte, ihrer Kämpfe und ihrer Subjektivität in einem neuen Licht: Blickt man lediglich auf die Entwicklung der Arbeiterbewegung in den kapitalistischen Zentren, dann mögen die Thesen über die „nachindustrielle Gesellschaft“ (Bell), die „Immaterialisierung der Arbeit“ und den Übergang von der „produktiven“ zur „affektiven Arbeit“ (Hardt/Negri) stellenweise an Plausibilität gewinnen. Die gewerkschaftlichen Defensivkämpfe, Mitgliederverluste und der von Harald Werner (2003) für Deutschland konstatierte Einbruch neoliberaler, wettbewerbskorporatistischer sozialer Deutungsmuster in den Alltagsverstand mögen im Zusammenspiel mit der angesprochenen politischen Krise des Sozialismus tatsächlich den Schluss nahe legen, dass wenigstens die „politische Arbeiterbewegung des 20. Jahrhunderts tot ist“ (Deppe). Doch wie verhält es sich im Hinblick auf die Peripherie? Warum bspw. ernten selbst ernannte „postmoderne Marxisten“ (Hardt/Negri) solch harsche Kritiken, wie sie stellvertretend vor etwas mehr als zwei Jahren von der Argentinierin Dora Dela Vega auf dem Kongress „Indeterminate! Kommunismus“ in Frankfurt formuliert worden sind (vgl. Z 57, S. 172 ff.)?
Kapitalismus- und Klassentheorie
Silvers zentrale These resultiert in der Schlussfolgerung, dass es eine Zukunft der Arbeiterbewegung geben kann. Doch ist bei ihrer Arbeit der Wunsch nicht Vater des Gedanken. Stattdessen beruht ihre Auffassung lediglich auf der Einsicht, dass es einen widerspruchsfreien Kapitalismus nie gegeben hat und auch in Zukunft nicht geben wird. Ihre Analyse führt Silver quasi von der Theorie der kapitalistischen Produktionsweise über die Klassentheorie zu staatstheoretischen und imperialismustheoretischen Überlegungen. Der Kapitalismus darf nicht logisch-abstrakt, sondern nur historisch-konkret analysiert werden, da die permanente Selbsttransformation in Zeit und Raum, der er unterliegt, sich nicht aus einem ihm inhärenten Bewegungsgesetz der Krisenhaftigkeit ergibt, sondern direkt aus den Kämpfen resultiert, die sich entlang der kapitalistischen gesellschaftlichen Verhältnisse entfalten. Somit spricht sich Silver gegen ein strukturalistisches Verständnis der kapitalistischen Entwicklung aus, das den Kapitalismus aus seiner vermeintlichen inneren Logik des allgemeinen Gesetzes der kapitalistischen Akkumulation direkt ableitet. Stattdessen begreift sie ihn als ein über die konkreten Klassenkämpfe vermitteltes, quasi in die ungewisse Zukunft vorwärts stolperndes System, das zu immensen Anpassungen gezwungen wird – und dazu auch fähig ist. In diesem Punkt steht Silver interessanter Weise auf einem ähnlichen epistemologischen Standpunkt wie die von ihr und auch Arrighi scharf kritisierten und am anderen Ende des Globalisierungsdiskurses stehenden Hardt und Negri mit ihrer These von der Aufhebung der Nord/Süd-Spaltung und der Immaterialisierung der Arbeit.[3] Die Übereinstimmung ergibt sich in der gemeinsamen (post-)operaistischen Auffassung, dass die „Arbeiterklasse“, deren im Grunde genommen rein geschichtsphilosophische Rolle bei Hardt/Negri lediglich durch die Multitude ersetzt wird, mit ihrem ontologisch unterstellten Begehren (Negri) der eigentliche „Motor der Geschichte“ ist (Silver 2005: 24).[4]
Silvers eigener Standpunkt innerhalb dieser aus den 1970er Jahren stammenden Bestrebung, die Akteure in den Produktionsverhältnissen – den Klassenkampf – zu rehabilitieren, wird in seiner mechanischen Form später noch einmal anzusprechen sein. Für den Augenblick genügt es, ihr besonderes Verständnis dieses Zusammenhangs zu erläutern. Silver verwendet in diesem Kontext den behutsam und mit reiflicher Überlegung aus dem Englischen übertragenen Begriff der Arbeiterunruhe (labor unrest), der alle denkbaren Formen des Widerstands der Ware Arbeitskraft gegen ihre formelle und reelle Subsumtion unter das Kapital beinhalten soll. Der Widerstandsbegriff leitet sich her von der Marxschen These, dass es sich bei der Ware Arbeitskraft um keine gewöhnliche Ware, sondern eben um eine „fiktive Ware“ handelt, die sich aufgrund ihrer antagonistischen Stellung zum Kapital gegen ihre tägliche Verwertung und Verdinglichung sträubt. Somit schließt der Begriff der Arbeiterunruhe alle denkbaren und dokumentierbaren Widerstandsformen vom gewerkschaftlichen Arbeitskampf bis zum politischen Streik ein. Problematisch wird diese In-Einssetzung im Zusammenhang mit dem von Silver und der World Labor Group (WLG) zusammengestellten Datenmaterial, das die Stärke der Arbeiterbewegung eines gegebenen Raumes bemessen soll, dabei aber keine qualitative Unterscheidung zwischen einem „trade-unionistischen“ und einem „politischen Bewusstsein“ vornimmt. Zu kritisieren ist an dieser epistemologischen Herangehensweise, dass man nur mehr schlecht als recht zu einer wirklichen Aussage über die Qualität einer Epoche von Arbeitskämpfen kommen kann, wenn man bspw. zwischen reinen Lohnstreiks und politischen (General-)Streiks mitsamt den sie tragenden Institutionen und organischen Intellektuellen keinen Unterschied sieht. Silvers Ansatz sieht sich jedoch stark in der Tradition des (dynamischen) Klassenbegriffs von E.P. Thompson – mit dem sie ferner den von Braudel und Wallerstein beeinflussten weiten historischen Blick teilt –, der auf dem Verständnis gründet, dass die Trennung von „eine(r) gewerkschaftlich motivierte(n) (...) [und] einer primär politisch ausgerichteten (Arbeiterbewegung) (...)“ hinderlich ist, „weil dieser Trennung erstens ein falscher, an Institutionen und Repräsentativvorstellungen orientierter Politikbegriff zugrunde liegt, und weil zweitens der Thompsonsche Ansatz eine Art Zusammenschau [auch marginalisierter bzw. nicht-institutionalisierter widerständiger Akteure; Hinzufügung IS] notwendig macht.“ (Groh 1980: 17; vgl. ferner Thompson 1987: 11f.)
Silvers Aufnahme und Kritik der globalisierungstheoretischen These vom zwangsläufigen „Wettlauf nach unten“, die besagt, dass sich die Lebensbedingungen der globalen Lohnabhängigen dadurch verschlechtern, dass der gewachsenen Mobilität des sowohl investitionstechnisch als auch institutionell internationalisierten Kapitals im globalen Kapitalismus nun „viele [nationalstaatlich organisierte und dadurch gegeneinander ausspielbare] Proletariate zur Ausbeutung zur Verfügung“ stehen (Panitch), resultiert konsequenterweise in der klassentheoretischen Analyse dreier Formen von Macht, die den einzelnen Fraktionen der internationalen Arbeiterklasse (auf den Ebenen der Produktion und der Politik) zur Verfügung stehen. In Anlehnung an Erik Olin Wright unterscheidet sie zwischen der „Organisationsmacht“, die „aus der Bildung kollektiver Arbeitsorganisationen entsteh(t)“, d.h. Gewerkschaften und politische Parteien, und der „strukturellen Macht“ der Lohnabhängigen in den Produktionsverhältnissen. Letztere Machtform unterteilt sich noch einmal in die beiden Subkategorien erstens der den Arbeitsmarktverhältnissen entspringenden „Marktmacht“ und zweitens der „Produktionsmacht“, die sich über die „strategische Stellung einer bestimmten Arbeitergruppe innerhalb eines industriellen Schlüsselsektors“, d.h. ihre Macht über den Produktionsablauf und vor allem seine Unterbrechung, definiert (30f.).
Zur genaueren Analyse der historischen Arbeitskämpfe seit 1870 verwendet Silver in Anlehnung an Marx und Polanyi zwei Vorstellungen von Kämpfen, die im Zusammenhang mit dem grundsätzlichen Widerspruch zwischen der Profitabilität und der Legitimität in kapitalistischen Gesellschaften stehen. Von Polanyi übernimmt sie dessen Kritik an der markttheologischen Illusion eines selbstregulierten Kapitalismus und die Idee einer ständigen Pendelbewegung zwischen einem regulierten („embedded“) und einem deregulierten („disembedded“) Kapitalismus, ohne dabei jedoch einer ihren (post-)operaistischen Überzeugungen widersprechenden automatistisch-funktionalistischen Vorstellung das Wort zu reden. Diese abstrahieren von den sozialen Kämpfen, von denen die Dekommodifizierungswelle historisch erzwungen wird. Von Polanyi übernimmt Silver mithin die Auffassung, dass der öffnenden, kommodofizierenden Bewegung des Kapitals, die stets mit einer Legitimitätskrise und sozialen Kämpfen (Arbeiterunruhe polanyischen Typs[5]) einhergehen müssen (und im historischen Kapitalismus ab Ende des 19. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert einhergingen), in aller Regel Arbeiterbewegungen mit dem Ziel einer Dekommodifizierung und (Re-)Regulierung des Kapitalismus folgen, dessen Verwirklichung jedoch über kurz oder lang, wie beispielsweise in den späten 1960ern und frühen 1970ern zu einer Profitklemme und einer neuen Deregulierungswelle führt – sofern es den in diesem Kontext notwendigerweise entstehenden sozialen Kämpfen nicht gelingt, den Kapitalismus zu beseitigen. Das ist damit gemeint, wenn von dem grundsätzlichen Widerspruch zwischen der Profitabilität und der Legitimität in kapitalistischen Gesellschaften die Rede ist.
Historisch sei das Zeitalter der rivalisierenden Imperialismen (Cox) als eine unmittelbare Folge der Arbeiterunruhen der Epoche zu verstehen, insofern als die im Zuge des disembedding in eine Legitimitätskrise geratenen Staaten mit Krieg als einer Ablenkungsstrategie reagieren würden, die in der fordistischen Phase der Dekommodifizierung und der ruhenden Arbeiterunruhe logisch und historisch nicht mehr zu erfolgen hatte. Was hier fehlt, ist ein hegemonietheoretischer Begriff der politischen Regulation bzw. Vermittlung, der die fordistisch-keynesianische Ära und das goldene Zeitalter des Kapitalismus (Hobsbawm) aus dem komplexen Ineinandergreifen von ökonomischer Verwertungs- bzw. Überakkumulationskrise, politischer Legitimationskrise, den sowohl national wie international verschobenen Kräfteverhältnissen zwischen den Klassen, die sich in ihrer Repräsentanz in den nationalen Staatsapparaten verdichten, und den konkurrierenden Strategien und Projekten der einzelnen vermittelnden Akteure erklärt. Hierdurch wäre es möglich, die fordistische Epoche als das von niemandem geplante komplexe Produkt dieser Determinanten – quasi als „historische Fundsache“ – zu verstehen, anstatt als einen von oben organisierten, „priestertrugstheoretischen“ Klassenkompromiss zur Einbindung der Arbeiterklasse. Letzterer wird mit Begriffen wie der „produktiven Energie“ (Hardt/Negri) vom (Post-)Operaismus mehr oder weniger explizit ein an sich revolutionäres Wesen unterstellt, das sich seiner institutionellen Einbindung entzieht bzw. entziehen sollte.[6] Das fordistische Akkumulationsregime erschiene somit vielmehr als eine temporär kohärente Widerspruchsbearbeitung, in der das überschüssige Kapital und die überschüssige Lohnarbeit, die nicht produktiv zusammengebracht werden können, vom Staat absorbiert und in die Schaffung der geographisch-infrastrukturellen Bedingungen einer erweiterten Reproduktion investiert werden. Das wäre ein Wachstumsmodell, das insofern dem Kapital zumindest subjektiv nicht aufgenötigt oder abgetrotzt erscheint, als es ein zwar widersprüchliches, aber bis zum Beginn der „Profitklemme“ (profit squeeze), auf die „der Staat“ (als die Verdichtung der sich verschiebenden gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse) mit dem neoliberalen Globalisierungsprojekt reagiert, hegemoniales, d.h. auch von den zentralen Kapitalfraktionen mitgetragenes und unterstütztes Wachstumsmodell darstellt. Die historische Transformation erscheint somit als historisch kontingent und in ihrer endgültigen Erscheinung ungeplant. Bei Silver erscheint sie dagegen stellenweise als eine Art „Gotteshandlung“ des staatlichen Souveräns in Reaktion auf die Forderungen der Arbeiterbewegung und des Unternehmerfürsten als unternehmensstrategische Reaktion auf die schrumpfende Legitimität seiner Fabrikorganisation.[7]
Doch folgen wir weiter der Silverschen Argumentation: Um nicht in eine zyklische Geschichtsauffassung und Periodisierung des Kapitalismus zu verfallen, sondern ein begriffliches Instrumentarium für den konkreten fortschreitenden geschichtlichen Prozess zu haben, kombiniert Silver diese Vorstellung von der pendelförmigen, defensiv ausgerichteten Arbeiterunruhe polanyischen Typs mit dem Stufen, Brüche und Neuansätze fassenden Begriff der Arbeiterunruhe marxschen Typs. Diesen gebraucht sie in Anlehnung an Thompsons These von der Konstitutierung, dem „making“, der (in diesem Fall: englischen) Arbeiterklasse als einen dynamischen Klassenbegriff, der auf der Vorstellung einer permanenten Transformation der Klassenverhältnisse beruht: Die Klassen unterliegen im kapitalistischen Prozess einem „making“, „unmaking“ und „(re-)making“. Hiermit setzt sich Silver von einer linearen Vorstellung von kontinuierlich aufsteigenden Klassenbildungsprozessen ab. Die Klassen sind ferner keine Strukturen oder idealtypischen Kategorien, sondern sie lassen sich nur im Sinne des Thompsonschen „Magnetfeldes“ betrachten, das sich aus den Produktionsverhältnissen entfaltet und zwischen dessen Negativ- und Positivpol die einzelnen Mitglieder der dynamischen Klassen sich bewegen. Auch lassen sich die Klassen nicht aus der querschnittssoziologischen Betrachtung erschließen, sondern nur in einer historisch-soziologischen Gesamtbetrachtung großer Zeiträume, in denen ihre subjektiven Bewusstwerdungsprozesse aus der simplen Konkretheit des „materiellen Lebens“ und aus der „Langsamkeit“ und „Trägheit“ des „(Alltäglichen), [in dem] die Menschheit bis zum Hals (...) steckt“ (Braudel 1986: 15f. u. 77) hervorschimmern (vgl. hierzu näher Thompson 7-10; Groh 1980).
Mit dieser wichtigen Erkenntnis ermöglicht Silver es zumindest theoretisch, eine nüchterne Vorstellung von dem Prozess der kapitalistischen Akkumulation und den aus ihren Widersprüchen erwachsenden „dynamischen und subjektiven Klassen“ zu entwickeln, die weder dem orthodoxen Pol „nichts Neues unter der Sonne“ noch dem anderen Pol „alles wie gehabt“ verfällt. Die Klassen können in ihrer permanenten Neuschaffung begriffen und dargestellt werden, d.h.: Klassen und Klassenbewusstsein wird es immer (wieder neu) geben, aber beide wechseln in der Dynamik des making, unmaking und remaking ständig ihre Erscheinungsformen.
Diese These gründet Silver allerdings auf der problematischen mechanistischen Vorstellung, dass das (vor allem in seiner Geldform) grundsätzlich mobile Kapital überall dort, wo es produktiv investiert wird, Arbeiterunruhe evoziert und im Kontext der Klassenbildungsprozesse stets in Verwertungskrisen (oder Legitimitätskrisen) gerät, denen es mit den sogenannten fixes[8] begegnet, die allerdings stets nur temporären Lösungscharakter besitzen können. Silver unterscheidet vier Arten von fixes: Erstens geographische Verlagerung der Kapitalinvestition an günstigere Investitionsstandorte mit geringerer Arbeiterunruhe („räumlicher fix“). Zweitens Prozessinnovationen, die gleichzeitig eine Arbeiterunruhe polanyischen Typs (unter der Arbeiteraristokratie der Metropole) hervorrufen („technologischer fix“). Drittens Verlagerung der Kapitalinvestitionen in Monopolgewinne, höhere Profitraten, finanzielle Spielräume für Sozialausgleiche mit der Arbeiteraristokratie und weniger Arbeiterunruhe versprechende neue Branchen („Produkt-fix“). Sowie viertens die „finanzielle Expansion“, d.h. der „[Rückzug] aus [dem] Handel und der Produktion (...) und [die Flucht] in Finanzen und Spekulation“ („finanzieller fix“). Die besondere Bedeutung dieser Begriffe besteht nicht zuletzt darin, dass die Kämpfe der Arbeiterbewegungen diese „fixe“ permanent erforderlich machen und diese wiederum Rückwirkungen auf das Proletariat in Bezug auf dessen Arbeitermacht (und Subjektivität) haben: Die vielfältigen Kämpfe der Arbeiterklasse – „Arbeiterunruhen“ – sind ständiger Anstoß für neue Versuche des Kapitals, diese Kämpfe auszuhebeln und/oder ihnen zu entfliehen und sie erzwingen so die permanente Selbsttransformation des Kapitalismus, seiner Klassen und ihrer Machtformen.
Kapitalverlagerungen und Arbeiterunruhen
Das theoretische Modell weist Silver vermittels des erwähnten Datenmaterials der WLG in einem Parforceritt durch die Geschichte der Textilindustrie und der Leitsektorindustrie des 20. Jahrhunderts, der Automobilindustrie, nach. Ihre These lautet, dass der „Aufruhr“ dorthin wandert, wohin das Kapital geht. Dies versucht sie durch den Verweis darauf zu belegen, dass das Zentrum der Automobilproduktion nach den Arbeitskämpfen in den 1930er Jahren in den USA in immer kürzer werdenden Abständen zunächst innerhalb der Vereinigten Staaten in gewerkschaftsfreie Räume verlegt wurde, und nachdem dort binnen kürzester Zeit wieder eine klassenbewusste Arbeiterklasse entstand, sich über Westeuropa ab den 1970er Jahren vor allem nach Brasilien, Südafrika und Südkorea verlagerte. Auch dort rief es wieder eine stärkere Arbeitermacht, konsequente relative Lohnsteigerungen und insgesamt starke Arbeiterbewegungen hervor, die für die dortigen Demokratisierungsschübe große Bedeutung gewannen.
Die Kapitalverlagerungen verschieben sich aber, so Silvers These, auf eine Art und Weise, welche die Nord/Süd-Spaltung nicht aufhebt. Silver geht von verschiedenen Entwicklungsphasen innerhalb eines (Leit-)Sektors aus. Sie unterscheidet eine Innovationsphase mit hohen schumpeterschen Monopolgewinnen, die für die Folgejahre den Spielraum für einen kurzzeitig „stabilen Klassenkompromiss“ eröffnen, so wie er sich für die kapitalistischen Zentren in der frühen fordistischen Phase entwickelte. Die Spielräume erodieren in der Reifephase, in der die Konkurrenz ihr Kapital ebenfalls auf diesen (Leit-)Sektor verschoben hat, so dass es im Kontext der „hohen Löhne“ für die (fordistische) Arbeiteraristokratie, die sich durch herrschaftsstabilisierende Grenzziehungen nach unten schützen mag, zur besagten Profitklemme und darauffolgenden „Strategien der Kapitalmobilität“ kommt. Die Reaktionen sorgen selbst wieder für eine Arbeiterunruhe polanyischen Typs. Langfristig kommt es in der Standardisierungsphase zu einer Verlagerung der arbeitsintensiven Produktionszweige in die peripheren Niedriglohnländer, die – wie bspw. bei dem Übergang von der lean-and-dual- zur lean-and-mean-Produktionsstrategie – niemals in den Genuss des Klassenkompromisses der Hochlohnländer in den kapitalistischen Zentren gelangen, weshalb hier, wo „das Leben oft an das Fegefeuer oder gar an die Hölle (erinnert)“ (Braudel 1986: 76), vor allem eine Arbeiterunruhe marxschen Typs entsteht. So auch die Erwartung mit Blick auf die gegenwärtige Textilindustrie in Südostasien und die Automobilindustrie in China und Nordmexiko. Dieser Prozess wird noch verschärft durch den technologischen fix der postfordistischen just-in-time-Produktion, der die Produktionsmacht stärkt. Mithin korrespondieren die jeweiligen fixes in aller Regel mit der Zerstörung der industriellen Arbeiterklasse in dem einen geographischen Raum oder Produktionssektor und der Schaffung eines neuen industriellen Industrieproletariats mit der entsprechenden Arbeitermacht in der Peripherie.
Jedoch ist nicht davon auszugehen, dass die Automobilindustrie auch noch im 21. Jahrhundert der Schlüsselsektor der kapitalistischen Produktionsweise bleiben wird und damit die „Kämpfe von Automobilarbeitern und -arbeiterinnen in Zukunft dieselbe symbolische und materielle Bedeutung haben werden, die sie fast das ganze 20. Jahrhundert über hatten“ (99). Insofern forscht Silver nach denkbaren Leitsektoren für das 21. Jahrhundert, welche in die Rolle schlüpfen können, die die globalisierte Automobilindustrie und die Kämpfe in ihr für das 20. Jahrhundert hatten. Denn sollte sich ein neuer Leitsektor herausbilden (Silver begutachtet diesbezüglich kritisch die stark automatisierte Halbleiterindustrie, deren arbeitsintensive Tätigkeiten allerdings schon von Anfang an in der Peripherie angesiedelt worden seien), so könnte er im Idealfall eine neue Grundlage nicht zuletzt für Monopolgewinne und stabile Klassenkompromisse abgeben, die in der großen Konkurrenz in den existierenden Sektoren bereits erodiert sind. Die Unterschiede zwischen der Textil- und der Automobilproduktion belegen allerdings, dass auch diesbezüglich lediglich annähernde Hypothesen aufgestellt werden mögen. Folgt man aber Silvers Analyse, so muss man mit ihr die regelmäßigen Berichte über Bergwerksunglücke, Arbeiterstreiks und ihre Unterdrückung in China zur Kenntnis nehmen, denn hier, so Silvers vorsichtige Prognose, sehen wir die Keimformen einer neuen großen Arbeiterbewegung.
China als neue Hegemonialmacht?
Die Aktualität von Silvers Buch liegt in diesem doppelten Fokus auf die immense Dynamik des von allen Seiten wachsam beobachteten chinesischen Kapitalismus und die im neoliberalen Kapitalismus ganz allgemein aufbrechenden Widersprüche. Der chinesische Bezug steht bekanntlich im größeren Kontext der Silverschen und Arrighischen Prognose eines Übergangs der US-Hegemonie zu einer Hegemonie Chinas als dem neuen Zentrum der kapitalistischen Weltwirtschaft, und zwar insofern als die so genannte „Finanzialisierung“ als letzte Machtressource eines niedergehenden Hegemons mit der amerikanischen „belle epoque“ – Clintons „new economy“ – notwendigerweise entweder friedlich an den neuen Hegemon übergehen oder in einer neuen Epoche „systemischen Chaos’“ enden muss. Dabei wird prognostiziert, dass ein eventuelles „systemisches Chaos“ im Zuge der denkbaren militärischen Auseinandersetzungen wiederum mit einer erhöhten Arbeiterunruhe korrelieren sollte (163-165). Kritisch anmerken muss man, dass die Volatilität der US-Hegemonie offensichtlich ist und Arrighi und Silver mit einigem Recht behaupten dürfen, dass das denkbare Auftauchen eines neuen globalkapitalistischen „Schwamms“ für Überschusskapital und Überschusswaren die USA mit einer Devaluationskrise und einem Ende des Überkonsums konfrontieren könnte. Über das schon seit längerem beschworene Ende der US-Hegemonie ist das letzte Wort allerdings noch nicht gesprochen. Die US-Wirtschaft floriert angesichts der globalen Rezession, des Irakkriegs und der New-Orleans-Krise vergleichsweise eindrucksvoll, das Dollar-Wall-Street-Regime funktioniert trotz der Konkurrenz durch den Euro weiterhin und auch und gerade auf der militärischen und der kulturellen Ebene der strukturalen Macht ist die Hegemonie der Vereinigten Staaten unbestritten.[9]
Kritik
Was die Kritik des Silverschen Ansatzes anbelangt, so ist auf die Problematik des mechanisch gedachten Automatismus der fixes hinzuweisen, bei dem stellenweise implizit von der idealtypischen Vorstellung eines durch und durch transparenten Marktes ausgegangen wird, der überall gleiche Bedingungen bietet. Dies wird allerdings von der Tatsache konterkariert, dass sich die Standortverlagerungen in der Regel zwischen den Staaten des Nordens und an die Grenzregionen zwischen Zentrum und (Semi-)Peripherie verlagern. Hierbei haben die Staaten der Investitionsstandorte nicht nur steuerrechtlich für eine business favorable situation und die Einhaltung der WTO-Vorgaben (Gleichbehandlung von inländischem und ausländischem Kapital etc.) zu sorgen, sondern müssen auch ein rundum sicheres Investitionsklima schaffen. So kann es vorkommen, dass einmal verlagerte Investitionen sogar an ihre ursprünglichen Standorte zurückgeholt werden, wie das Beispiel von VW und Portugal zeigt. Es wäre anzumerken, dass man sich mit diesen Annahmen der Rhetorik der Unternehmensverbände anschließt, die ebenfalls von der Unumgänglichkeit der Kapitalverlagerungen aufgrund der zu hohen Lohnkosten sprechen. Angesichts der Tatsache jedoch, dass in hochautomatisierten Spezialindustrien in den Metropolen – wie bspw. bei Siemens in München – nur eine einstellige Prozentzahl des investierten Kapitals tatsächlich für die eigentliche Herstellung ausgegeben wird und dass ferner alleine die Ankündigung einer Rationalisierung oder Standortverlagerung dazu beiträgt, den Shareholder Value in die Höhe zu treiben – was nicht immer höhere ökonomische Effizienz bedeutet, dafür aber stets höhere Managergehälter und die Zufriedenheit der institutionellen Anleger – liegt der Schluss nahe, dass es sich hierbei um bloße disziplinierende Forderungen nach Lohnzurückhaltung oder Maßnahmen zur Zufriedenstellung der Aktienfonds handelt.
Eine der wichtigsten Schwachstellen dieses bedeutenden Buches liegt im Bereich der staats- und imperialismustheoretischen Annahmen. Der Staat als zentrale Instanz und Terrain der Widerspruchsbearbeitung tritt kaum in Erscheinung. Somit reproduziert sich in Silvers Buch das schon Mitte der 1990er Jahre von John Holloway und anderen kritisierte staatstheoretische Defizit der Weltsystemanalyse. Der politische Charakter des Widerspruches zwischen Kapital und Arbeit bleibt häufig ausgeblendet, weshalb sich der Widerspruch mehr oder weniger auf die Kämpfe einer gegebenen lokalen Arbeiterklasse gegen ein gegebenes lokales Unternehmen reduziert, das die Untergrabung der eigenen Profitabilität durch die entstehenden Arbeiterunruhen unilateral und souverän löst, ohne dass hierbei der Staat in Erscheinung tritt. Ein Verständnis für die wechselseitige Präsenz von Politik und Ökonomie in der jeweils anderen Sphäre findet sich bei Silver selten. Die Staaten erscheinen bei ihr häufig bloß als vom global mobilen Kapital übergangene immobile Entitäten, die Analyse beschränkt sich weitgehend auf das Verhältnis von „Arbeiterklasse und Weltökonomie“ (159) – bei gleichzeitiger analytischer Verbannung der politischen Sphäre in den Bereich einer reinen Ablenkungstheorie. Die sich in der Form des kapitalistischen Staates verdichtenden Kräfteverhältnisse, welche die Kapitalverlagerung durch staatliche Eingriffe wie Gesetze, Investitionsförderungen und Verlagerungsprämien – wie beispielsweise in der EU – begleiten und überhaupt erst möglich machen, erscheinen in ihrer Analyse nicht. Besonders gravierend wirkt dieser Ökonomismus allerdings im Verhältnis zu kulturellen Fragen, z.B. in Bezug auf kulturell unterschiedlich akzeptable Lebensstandards oder Werte. Dies tritt besonders deutlich hervor, wo sie – allerdings aus verständlichen Gründen der analytischen Verdichtung – die von E.P. Thompsons dynamischen und subjektiven Klassenbegriff noch eingeforderte Ebene der Subjektivität der in den Produktionsverhältnissen Stehenden ausklammert und damit über alle Ländergrenzen hinweg nicht nur die politisch-kulturellen Instanzen hegemonialer Vermittlung von Klassenbewusstsein und miteinander konkurrierende soziale Deutungsmuster, sondern auch etwaige vormoderne und andere kulturelle Besonderheiten außen vorlässt.
Als „theoretischer Rahmen“ (139) ist Silvers Buch dennoch ein gelungener Wurf, insofern sie sich bemüht, auf dessen fortzuentwickelnder Grundlage die großen Muster der in ihrer inneren Logik gleichbleibenden kapitalistischen Produktionsweise in globalen Dimensionen und einer Langzeitanalyse darzustellen. Die vielen komplexen Vermittlungen zwischen den von ihr untersuchten Kapitalverlagerungen, gewerkschaftlichen Defensivkämpfen und Kämpfen neugeschaffener Klassen inmitten einer umgewälzten Sozialstruktur und den wichtigen (bei ihr ausgeblendeten) politischen sowie kulturell-ideologischen Determinanten müssen für jedes einzelne Land behutsam-konkret und nicht-mechanistisch dargestellt werden. Silver hat das in ihren konkreten Analysen der ethnischen, sexuellen o.ä. „Grenzziehungen“ – bspw. anhand der Justice-for-Janitors-Bewegung – selbst demonstriert. Insgesamt ist Silvers Arbeit als eine bemerkenswerte Aufforderung zu verstehen, nicht jeder akademischen Mode zu folgen, sondern sich nüchtern wieder stärker mit der Kritik der Politischen Ökonomie in ihrer internationalen Perspektive zu beschäftigen. Denn es kann mit vielem für die Zukunft gerechnet werden, sicherlich aber nicht mit einer Abnahme oder gar einem Verschwinden der Widersprüchlichkeit des bestehenden globalen kapitalistischen Wirtschaftsregimes, das in zunehmendem Maße „redundant populations“, „slums“ und Verteilungskämpfe um Naturressourcen produziert. Die Frage, ob es denn tatsächlich stimmt, dass es (k)einen „Wettlauf nach unten“ gibt, muss aufgrund der allgemeinen „Grenzen des Kapitals“ in den Hochlohnländern (schulischer Bildungsbereich, unterer Dienstleistungsbereich, etc.) und der in manchen Bereichen nach wie vor vorhandenen oder in Bezug auf die Produktionsmacht sogar gestiegenen Arbeitermacht (Transportsektor, just-in-time-Produktion, Lehrer z.B.) nüchtern und nicht-ideologisch neu gestellt werden.
Silvers Buch scheint denkwürdig zwischen zwei Polen zu stehen: einem rückwärts blickenden und einem vorausschauenden. Vor Jahren wäre es von vielen sicherlich als ein nostalgisches Buch einer Altlinken verworfen worden, die sich „zwanghaft objektfixiert“ an das alte Revolutionssubjekt heftet. Mit dem Ende des „Endes der Geschichte“ angesichts der allerorten aufbrechenden Widersprüchen und der neuen Offenheit gegenüber den „altmodischen“ analytischen Begriffen des Marxismus könnte Beverly Silvers Buch jedoch eine Schlüsselrolle zukommen, da sie ein Schlaglicht auf das Dickicht der Zukunft wirft, ohne dabei vergangene Erkenntnisse in Vergessenheit geraten zu lassen. Ihr Buch als ein Projekt verstanden werden, an dem sich marxistische Theorien abzuarbeiten haben, die stärker Fragen nach der „relativen Autonomie des Politischen und Ideologischen“ stellen, um Silvers Modell theoretisch fortzuentwickeln.
Literatur
Amin, Samir (2004): The Liberal Virus. Monthly Review Press
Arrighi, Giovanni (2003): Niedergang der USA und neue Weltordnung. In: Z 55 (September 2003), S. 92-98
Braudel, Fernand (1986): Die Dynamik des Kapitalismus. Stuttgart
Dath, Dietmar (2005): Muß man sich verkaufen? Statt Sozialkitsch: Beverly Silvers Analyse der Arbeiterbewegung. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29.07.2005
Deppe, Frank u.a. (2004): Der neue Imperialismus. Heilbronn
Groh, Dieter (1980): Zur Einführung. In: Thompson, Edward P. (1980): Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts. Frankfurt/Main u.a.
Hardt, Michael/Negri, Toni (2002): Empire. Die neue Weltordnung. Frankfurt u.a.
Harvey, David (2003): The New Imperialism, Oxford
Harvey, David (2004); Der neue Imperialismus und die globale Enteignungsökonomie, in: Z 59 (September 2004), S. 35-48
Holloway, John (1994): Global Capital and the National State. In: Zeitschrift Capital and Class, Spring 1994, S. 23-49
Moody, Kim (2004): Workers of the World. In: New Left Review 27, May-June 2004
Robinson, Ian (2003): Race to the Bottom? In: In Critical Solidarity, Vol. 3, No. 3, December 2003, S. 6-8
Silver, Beverly J. (2003b): Rejoinder. In: In Critical Solidarity, Vol. 3, No. 3, December 2003, S. 8-10
Silver, Beverly (2005a): Forces of Labor. Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870. Berlin u.a.
Thompson, Edward P. (1987): Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse. 2 Bände. Frankfurt/Main
Werner, Harald (2003): Amnesie sozialer Deutungsmuster. Wie der Neoliberalismus das Alltagsbewusstsein dekonstruiert hat, in: Z 56 (Dezember 2003), S. 21-30
[1] Die bisherige Rezeptionsgeschichte der im April 2003 erschienen Original- und zwei Jahre später publizierten deutschsprachigen Ausgabe begann in kleineren postoperaistischen, anarchosyndikalistischen und anderen subkulturellen Zirkeln, deren großes Interesse an der bei Silver im Mittelpunkt stehenden Bedeutung des Klassenkampfes, der Dissidenz und des zum Widerstand führenden Unbehagens lag. Später erreichte das Buch die größeren linken Zeitschriften und Tageszeitungen, bis schließlich auch die großbürgerliche Presse davon Notiz nahm (so die FAZ: Dath 2005). Mittlerweile ist das Buch ganze vier Monate nach der deutschen Erstauflage in der zweiten Auflag erhältlich. Neben der englischen und deutschen Ausgabe gibt es bislang eine spanische und eine portugiesische Übersetzung.
[2] Ein anderer Robinson, Ian, bestätigte diese These noch einmal in einer Kritik an Silver, in der er auf den Staaten des Südens den gleichen Druck auf Löhne, Arbeitsstandards etc. lasten sieht, wie er auch zwischen den nationalen Wettbewerbsstaaten des Nordens aufgebaut wird. Er glaubt nicht an die Silversche These von der „Selbstheilung“ der internationalen Arbeiterbewegung durch die von Silver gesehenen Formen der Arbeitermacht. Stattdessen erachtet er eine Modifizierung der Spielregeln in der Weltwirtschaftsordnung als unerlässlich für eine Verbesserung der materiellen Lage des globalen Proletariats, dessen soziale Lage sich immer mehr nach unten angleiche. Vgl. hierzu Robinson 2003
[3] Auf einem im Juni 2005 an der Universität Marburg durchgeführten Workshop mit Silver und Arrighi hat letzterer die Thesen von Hardt und Negri mit der süffisanten Kritik bedacht: „Wer nur von Flughafen zu Flughafen jettet, der kann in der Tat annehmen, die Nord/Süd-Spaltung sei mittlerweile aufgehoben.“
[4] In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Ansatz von Silver und Arrighi besonders deutlich von Braudels – als dem Vordenker der Weltsystemtheorie – und Wallerstein seinem „Schüler“ und Begründer der „Weltsystemanalyse“. So versteht Braudel die Rolle der Subjekte und Akteure auf der konkreten Ebene des „materiellen Lebens“ der unteren Schichten eher strukturalistisch als eine abgeleitete, wenn er davon spricht, dass das Leben „eher erlitten wird, als dass es durch aktives Handeln bestimmt würde“ (Braudel 1986: 16). Silver hat ihre interne Kritik am funktionalistischen Ökonomismus der Wallersteinschen Variante der Weltsystemtheorie in Forces of Labor direkt ausgesprochen (49f.)
[5] Die sogenannte „Arbeiterunruhe polanyischen Typs“ beinhaltet als Subkategorien erstens den Widerstand gegen die Zersetzung vorkapitalistischer Sozialverhältnisse (Proletarisierung) und zweitens den Widerstand gegen die Absenkung bisher erkämpfter Lebensstandards und die Abschaffung sozialer Errungenschaften (Prekarisierung/[Re-]Kommodofizierung).
[6] Bei Hardt und Negri taucht dieser Zusammenhang u.a. in ihrer Abwertung der „bürokratisierten“ deutschen (Nachkriegs-)Arbeiterklasse, die deswegen als bloß „politisch militant“ bezeichnet wird, zugunsten weniger institutionalisierter und deswegen „industriell (d.h. in Arbeitskämpfen) militanten“ Arbeiterklasse bspw. der USA auf. – Bezüglich der Silverschen Anleihen an diese Theorie vergleiche insbesondere das 4. Kapitel von Forces of Labor, das sich der weltpolitischen Ebene, die vorher ausgeblendet bleibt, widmet.
[7] Besonders wird dies deutlich bei der nicht in den Imperialismuskontext der Verdichtung von Überakkumulation, zwischenimperialistischer Konkurrenz, realen Arbeiterforderungen nach billigen Rohstoffen angesichts der agrarisch-protektionistischen Interessenspolitik und relativer Autonomie der völkischen Ideologie eingebetteten schematischen Analyse des Ersten und Zweiten Weltkrieges. Beide werden zwar als Reaktionen auf die Arbeiterbewegung begriffen, aber als Reaktionen, die als mehr oder weniger unvermittelte top-down-Mittel der politischen Herrschaftselite zur Herrschaftssicherung zu verstehen sind (vgl. S.164 u. 175ff.).
[8] Der erläuterungsbedürftige Fix-Begriff, den Silver von David Harvey übernommen hat, basiert auf einer doppelten Überlegung hinsichtlich der grundsätzlichen permanenten Krisenhaftigkeit kapitalistischer Akkumulation und den Lösungsversuchen, mit denen das Kapital auf diese Krisenhaftigkeit reagiert: Zum einen wird darauf angespielt, dass Kapital stets als „fixes Kapital“ „fixiert“, d.h. temporär immobil gemacht wird (in einem geographischen Raum, einem Produktionsstrang etc.). Zum anderen bezieht sich der Begriff auf die grundsätzliche Krisenhaftigkeit kapitalistischer Akkumulation, der (wenigstens temporär) problemlösend begegnet werden muss („to fix“ = reparieren). Vgl. hierzu Harvey 2003 und 2004.
[9] Kritisch haben sich Leo Panitch und Sam Gindin erst kürzlich gegen die von Arrighi vorgebrachte These vom Niedergang der US-Hegemonie geäußert. Vgl. dies., Superintending Global Capital, in: New Left Review, September/Oktober 2005.