Schaut man auf die Kritik, die von marxistischer Seite an der so genannten ‚Postmoderne’ geübt wird, entsteht unwillkürlich der Eindruck, hier sei ein würdiger Nachfolger gefunden für das, was ehedem ‚bürgerliche Wissenschaft’ genannt wurde – ein Gegner also, dem pauschal unterstellt wird, Herrschaftsideologie, Irrationalismus, politische Unmündigkeit usf. mehr oder minder wissentlich zu intendieren bzw. zu verbreiten.*
Nun soll hier und im Folgenden nicht versucht werden, das Gegenteil zu unterstellen oder zu belegen, treffen die genannten Kritikpunkte doch oft genug den Kern postmoderner Theoreme. Es soll vielmehr darum gehen, die Kritik zu versachlichen und zu überprüfen, ob wirklich gar nichts vom Kernbestand postmoderner Theoriebildung Anknüpfungspunkte für die marxistische Diskussion bietet.
Da hier nicht der Raum ist für eine ausführliche ‚Kritik der marxistischen Kritik’ an postmodernen Positionen, erfolgt eine Beschränkung auf wesentliche Elemente, nämlich auf die Art und Weise der Kritik (I.) und besonders auf den gerne pauschal erhobenen Irrationalismus-Vorwurf (II.). Ebenfalls begrenzt bleibt die Darstellung der Anknüpfungspunkte (III.), und zwar auf die Positionen von J.-F. Lyotard, der – mit einiger Berechtigung – als eines der ‚philosophischen Schwergewichte’ innerhalb der postmodernen Theoriebildung bezeichnet werden kann, was sich fürs erste nur auf seine Stellung, nicht die Qualität seiner Arbeiten beziehen soll.
I.
Dass es ‚die’ Postmoderne als mehr oder minder homogene Theorie oder gar Methode nicht gibt, dürfte außer Zweifel stehen. Ebenso verhält es sich mit der marxistischen Kritik. Auch diese ist keineswegs homogen, sondern mindestens so vielschichtig wie die unterschiedlichen ‚Postmodernismen’. Dennoch markieren die meisten Kritiker mit Recht einen Kernbestand an Theoremen, der als ein Zentrum (wohlgemerkt: nicht das Zentrum) postmoderner Diskussion angesehen werden kann.[1] Auffällig ist allerdings, dass zumindest drei wesentliche Teilbereiche postmoderner Diskussion in der marxistischen Kritik kaum oder gar nicht wahrgenommen werden: die radikale Absage an jede Metaphysik, eine nicht minder radikale Kritik an der Sprache sowie eine kritische Überprüfung der Legitimierbarkeit ethischer, moralischer und politischer Postulate. Stattdessen wird zumeist alles, was mit postmodernem Anschein daher kommt, als irrational verdammt und zur Herrschaftsideologie erklärt.
Diese Kritik muss sich den Vorwurf gefallen lassen, nicht nur einseitig und pauschal zu sein, sondern auch in Art und Auswahl der Lektüre so zu verfahren, dass Ergebnisoffenheit und Sachlichkeit der Auseinandersetzung nicht gegeben sind.[2] Hierzu mögen zwei kurze Beispiele genügen: Metscher stellt fest, dass es zu den „ontologisch-erkenntnistheoretische(n) Prämissen (…)“ postmoderner Theorie gehört, „jede Form materieller Konstitution (…) (auszublenden), die ökonomisch-soziale nicht weniger als die naturhaft-biologische. Eine Naturgrundlage menschlichen Daseins wird strikt in Abrede gestellt.“ (Metscher 2005, 111f.) Belegt wird diese Aussage nicht. Seppmann referiert Wolfgang Welsch: „Die grundlegende Erfahrung in den postmodernen Lebensverhältnissen ist die Unübersichtlichkeit (…) Auch die sozialtheoretische ‚Unübersichtlichkeit ist eine Folge des politisch-gesellschaftlich-technologischen Systems (…) Daher besteht objektiv eine fundamentale Desorientierung’. Auch hierzu hat Lyotard den Merksatz formuliert: ‚Die Wirklichkeit [ist] in einem Maße destabilisiert (…), daß sie keinen Stoff mehr für Erfahrung gewährt’. (…) Es sollen gerade diese Orientierungslosigkeit und die normative Kraft der ‚Kontingenz’ sein, die ‚das Denken und das Leben von der Obsession der Totalität (…) befreien’. (Lyotard)“ Nach Seppmanns Verständnis heißt dies tatsächlich: „Weil die gedankliche Durchdringung von sozialen Prozessen ohne erkenntniskritische Voraussetzungen nicht möglich ist, sei auf das Erkenntnisbemühen ganz zu verzichten: ‚In der Tat geht es nicht darum, Irrtümer zu entlarven und aufzulösen, sondern sie als eigentümliche Quelle des Reichtums zu sehen, der uns ausmacht und der Welt Interesse, Farbe und Sein verleiht’ (G. Vattimo)“ (Seppmann 2000, 51).
Der apodiktischen Aussage Metschers ist entgegenzuhalten, dass nicht nur auf den Beleg verzichtet wird, sondern dass diese Aussage – zumindest soweit die Hauptvertreter postmoderner Theorie betroffen sind – leicht zu widerlegen ist. Dazu führt J.F. Lyotard in ‚Der Widerstreit’ zweifelsohne ein foundation text der Postmoderne aus: „Jede Aussage über die Wirklichkeit setzt diese bereits voraus. (...) Diese deiktischen Ausdrücke sind Designatoren der Wirklichkeit. Sie bezeichnen ihren Gegenstand als eine außersprachliche Permanenz, als eine ‚Gegebenheit’. (…) Die Wirklichkeit muß belegt werden, und sie wird umso besser belegt, je mehr unabhängige Zeugnisse man anführen kann. (…) Daß etwas gegeben ist, bedeutet zugleich, daß der Referent dieser Beschreibung da ist und daß er da ist, selbst wenn er nicht gezeigt wird. Er würde selbst ohne Satz, ‚außersprachlich’ existieren.“ (Lyotard 1989, 64-80, passim) Auch bei Foucault und Derrida wird sich eine Verneinung der materiellen Existenzgrundlage menschlichen Daseins nicht nachweisen lassen, wohl aber das Gegenteil.
Sehen wir einmal davon ab, dass Seppmann bruchlos Welsch und Lyotard zusammenbringt (was, da Welsch mit Fug und Recht zu den Lyotard-Adepten zu rechnen war – vielleicht auch noch ist – mit einiger Berechtigung geschieht), dann aber grund- und zusammenhanglos mit Vattimo fortfährt – so ist nicht zu akzeptieren, dass das Lyotard-Zitat aus dem Zusammenhang genommen und für argumentative Zwecke eingespannt wird, die ihm nicht zueignen. Die Textstelle entstammt der Schrift ‚Grabmal des Intellektuellen’ (Lyotard 1983). Dieser kurze Text hat mit „Unübersichtlichkeit“ und „Desorientierung“ nichts zu tun, sondern fragt, aus einem aktuellen politischen Anlass[3], nach der Definition und Stellung der Intellektuellen, nachdem „die Revolution in der theoretischen Physik durch Einstein und die Dänen (…) die moderne Idee eines universellen Subjekts (und Objekts) der Erkenntnis zutiefst erschüttert“ hat (Lyotard 1983, 13f.) Der vollständige Satz sei hier wiedergegeben: „Der Untergang, und vielleicht sogar Zerfall, der Idee der Universalität kann das Denken und das Leben von der Obsession der Totalität befreien“ (ebd., 18). Und zum Beleg für die Unangemessenheit der Verbindung mit dem Vattimo-Zitat hier der direkte Fortgang des Lyotard-Textes: „Die Vielheit der Verantwortlichkeiten, ihre wechselseitige Unabhängigkeit oder gar Unverträglichkeit, verpflichten diejenigen, die sie, ob groß oder klein, übernehmen werden, zu Geschmeidigkeit, Toleranz und ‚Wendigkeit’. Diese Eigenschaften werden nicht länger das Gegenteil von Strenge, Aufrichtigkeit und Kraft, sondern deren Steckbrief sein. Die Intelligenz schweigt nicht, sie zieht sich nicht in die Arbeit zurück, an der sie hängt, sie versucht, auf der Höhe der neuen Verantwortlichkeit zu sein, die die ‚Intellektuellen’ ungelegen und unmöglich machen wird: der Aufgabe, die Intelligenz von der Paranoia zu scheiden, als welche die ‚Moderne’ erscheint.“ (ebd., 18f.)
Zu fragen ist, wem (oder welcher Sache) mit dieser Vorgehensweise gedient werden soll.[4] Unterstellen wir, dass nicht absichtsvoll Texte verzerrt wurden, bleibt wohl nur die Annahme, dass nicht oder nicht genug gelesen, das Gelesene zudem unterschiedslos über einen Löffel balbiert wurde und, was nachfolgend gezeigt werden soll, grundlegende Argumente und Positionen ausgeblendet bleiben.[5]
II.
Für Metscher „kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daß die Postmoderne in den Zusammenhang des Irrationalismus gehört“ (Metscher 2005, 129). Dieser Vorwurf wird von marxistischer Seite häufig erhoben. Oft wird zum Beleg auf Positionen zurückgegriffen, die allenfalls aus der zweiten Reihe postmoderner Denker (Vattimo, Virillio, Fukuyama u.a.) stammen oder aber sehr radikal sind (Bataille u.a.). Ein stichhaltiger Nachweis irrationalistischer Positionen bei Derrida, Foucault oder Lyotard ist mir nicht bekannt.
Irrationalismus, so scheint mir, wird häufig gebunden daran, ob und inwieweit eine Theorie ‚Marxismus-adäquat’ bzw. -kompatibel ist, wobei weniger danach gefragt wird, ob das zu bewertende Theorem einen möglichen Zugang (nicht: den möglichen) zur Wirklichkeitserklärung oder Deskription von Phänomenen darstellt. Eine Differenzierung zwischen Irrationalität des Politischen und Irrationalität der philosophischen Theorie erfolgt nicht, da jede Theorie, die nicht explizit gegen Kapitalismus und Imperialismus steht, als irrational angesehen wird.
Im Rückgriff auf Seppmann, der einen Widerspruch zwischen „der enormen Steigerung von Partialrationalitäten“ einerseits und der „Irrationalität des Ganzen dieser Gesellschaft“ andererseits konstatiert (Metscher 2005, 121), führt Metscher den Begriff des „konstitutionellen Irrationalismus“ ein (ebd., 120ff.), bestimmt als „Bewußtseinsform des Imperialismus in einem notwendigen Sinn“ (ebd., 125), als die „adäquate Vernunftform der imperialistischen Gesellschaft im Sinn expliziter wie impliziter Ideologien“ (ebd.). Weitere Bestimmungen dieses konstitutionellen Irrationalismus sind u.a. die Leugnung der „Erkennbarkeit und rationale(n) Gestaltbarkeit (...) objektiv gegebener (...) Wirklichkeit“ sowie eine Absage an die Vernunft zugunsten „alogischer Wesenheiten (...) (d.h. solchen, die widervernünftig, der Vernunft prinzipiell unzugänglich, ‚höher als die Vernunft’ sind), im Sinn von Subjekt und Welt bestimmenden, also ontologisch determinierenden, sinnstiftenden Mächten“ (ebd., 127). Legen wir diesen Maßstab an die Schriften von Derrida, Foucault und Lyotard an, wird sich der Irrationalismus-Vorwurf nicht bestätigt finden.
Anders sieht dies aus, wenn nach einer „Rationalität, die das Ganze im Interesse der Gattung vertritt“, gefragt wird (ebd., 122). Für Lyotard lässt sich hier klar behaupten, dass schon das Ansinnen falsch sei – das ‚Ganze’ ist ein metaphysischer Begriff, jede Form von Totalität ist leer.[6] Auf das „Interesse der Gattung“ gehen wir später noch ein.
Man kann sicher politische und gesellschaftstheoretische Positionen ausmachen, die sich aus postmoderner Theorie ableiten lassen, ohne dort explizit formuliert worden zu sein. Ob diese dann als ‚irrational’ zu bezeichnen sind, bleibt im Einzelfall zu prüfen.[7] Nur aus dem Fehlen von Revolutions- und Klassenkampfbekenntnissen geht dies sicherlich nicht hervor. Zu fragen ist weiterhin, wie denn Ideologien und Einstellungen zu bezeichnen wären, die nicht explizit und intentional vernunftkritisch, gewiss aber nicht minder herrschaftssichernd sind. Besonders zu nennen sind hier (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) esoterische, satanistische, okkulte, schamanistische aber auch faschistische Weltanschauungen, Mystizismus, Wahrsagerei, Nationalismus, Ethnizismus, jede Form religiösen Fundamentalismus usw. Wird alles unter einen Begriff zusammengefasst, verliert dieser an Schärfe und folglich auch an Wirkung.[8]
Auf der Ebene philosophischer Argumentation ist der Irrationalismus-Begriff, so wie er in der marxistischen Diskussion häufig Verwendung findet, nämlich als ‚Vernunftwidrigkeit’, wenig hilfreich (mit Ausnahme der wenigen Fälle offen irrationaler Argumentation). Wenn der Zweck wissenschaftlich-philosophischer Rationalität darin liegt, das „was ist, als Wirkung aufzufassen – als bewirkt und selbst bewirkend – und diese Wirkung aus Ursachen zu erklären“, wenn es „wissenschaftlich“ ist, „gesetzliche Verlaufsformen von Wirkungen zu suchen und zu formulieren“ (Holz 2005, 4)[9], und wenn, wie Holz zudem erläutert, es „immer ein Jenseits des Wissens, wie weit auch unsere Erkenntnisse sich erstrecken“ gibt (ebd., 3), ist damit ein deutlich engerer Rahmen für Irrationalität abgesteckt. Rationalität ist für Holz gebunden an „eine Entscheidung für die Parteilichkeit der Philosophie in der Bindung an die Humanität“ (ebd., 9).
Hier dürfte, so weit ich sehe, die Kernbestimmung dessen liegen, was marxistische Kritik am Postmodernismus als Irrationalität auffasst: die Verweigerung führender Vertreter, Kategorien wie Humanität, Fortschritt, Totalität, das Ganze, das Allgemeine etc. in ihre Positionen einzubeziehen und als relevant anzuerkennen. Diese Weigerung hat ihren Grund darin, dass diese Kategorien metaphysisch sind. Metaphysische Philosophie aber, mit ihrem „privilegierten Zugang zur Wahrheit“ (Habermas 1988, 14), hat nach Meinung vieler postmoderner Denker (sowie auch vieler anderer) ausgedient. Für marxistische Theoretiker sollte die Absage an Metaphysik eigentlich kein grundsätzliches Problem darstellen, auch wenn der philosophische Materialismus nicht ohne Metaphysik auskommt, weil „jeder Materialismus nicht umhin kann, das An-sich-sein der gegenständlichen Wirklichkeit und seine Präsenz in den intentionalen Gegebenheiten des Bewußtseins zunächst einmal naiv vorauszusetzen (...) Dabei gerät ein Materialismus, der das Verhältnis der von ihm gebrauchten Begriffe und Kategorien, also des Allgemeinen, zu den einzelnen erscheinenden Gegenständen klären will, in die Schwierigkeit, die Differenz zwischen der Materialität des singulären Dings und der Idealität des Allgemeinen als ‚Gedankenobjekt’ (Marx) nach seinen eigenen Prinzipien bestimmen, also die Materialität des Real-Allgemeinen begründen zu müssen. (...) So bewegen sich Materialisten, gerade weil sie die Kantsche Vorordnung der Erkenntnistheorie vor die Ontologie nicht mitvollziehen, auf dem Felde der M(etaphysik) – ob sie wollen oder nicht.“ (Holz 1990, 395)
Es gibt also gute Gründe, an der Nichthintergehbarkeit der Metaphysik festzuhalten. Es gibt aber auch gute Argumente für eine Form der Theoriebildung, die ihrem Anspruch nach den Rückgriff auf metaphysische Kategorien zurückweist.[10] Vor diesem Hintergrund sind viele der Kernaussagen postmoderner Theorie zu werten. [11] Irrational ist ein solcher Ausgangspunkt mitnichten.
III.
Für den Marxismus ist die Widerspiegelung die Kernkategorie zur Aufhebung der Metaphysik, Praxis das Kriterium ihrer (Selbst-)Kritik (vgl. Holz 1990, 401). Einfach gesagt: die Überprüfung theoretischer Positionen in ihrer Auswirkung auf die wirklichen Lebensverhältnisse der Individuen gibt den Ausschlag für die Gültigkeit bzw. Nicht-Gültigkeit einer Theorie, wissenschaftlicher Aussagen etc. Was aber ist mit den Kriterien für Aussagen, die sich nicht auf empirische Sachverhalte beziehen lassen, z.B. Weltanschauungsentwürfe, die in die Zukunft reichen? Die praktische Erfahrung, so argumentiert u.a. auch Lyotard, mit Fortschrittsversprechungen ist nicht sehr ermutigend:[12]
„Seit wenigstens zweihundert Jahren hat uns die Moderne gelehrt, nach der Ausdehnung politischer, wissenschaftlicher, künstlerischer und technischer Freiheiten zu verlangen. Sie hat uns gelehrt, dieses Verlangen zu rechtfertigen, denn durch diesen Fortschritt sollte die Menschheit sich (...) von Despotie, Unwissenheit, Barbarei und Elend emanzipieren. Die Republik ist die bürgerliche Humanität. Dieser Fortschritt ist auch heute noch im Gange (...) Aber es ist unmöglich geworden, diese Entwicklung durch das Versprechen einer Emanzipation der gesamten Menschheit zu rechtfertigen. Dieses Versprechen wurde nicht gehalten.“ (Lyotard 1984b, 64f.) Und Lyotard benennt Fehlentwicklungen wie Verarmung, Analphabetentum, den „Despotismus der Meinung, (...) das Gesetz, wonach gut ist, was wirksam ist“ (ebd., 65), allerdings nicht als „Folge unterbliebener Entwicklung, sondern von Entwicklung selbst“ (ebd.). Die Begründungen und Rechtfertigungen für all jene Fortschrittsversprechungen erfolgten im Rückgriff auf metaphysische Kategorien, die im Alltagsbewusstsein als die „Grossen Erzählungen“ wirkten (vgl. Lyotard 1986a). Diese sind u.a. Christentum, die Aufklärung, der Marxismus.[13] Ideologien beschränken die Möglichkeitsräume (z.B. Phantasie) und geben implizit Bewertungsregeln und -kriterien vor, ohne diese selbst explizit machen zu können. Zudem resultiert aus dem Anspruch an universale Gültigkeit potenziell Willkür, denn „ein in der Kategorie des Ganzen (oder des Absoluten) gedachter Gegenstand (ist) kein Erkenntnisobjekt (...) ‚Totalitarismus’ wäre das Prinzip zu nennen, das das Gegenteil behauptet.“ (Lyotard 1989, 20) Auch das ‚Interesse der Gattung’ ist eine solche Kategorie. Ein Blick in die Geschichte, und nicht nur in die jüngere, zeigt sehr rasch, dass – abseits einfacher Wahrheiten wie ‚Frieden ist besser als Krieg’ – grundsätzlich Skepsis geboten ist, wenn das ‚Gattungsinteresse’ reklamiert wird.
Folgt aus dieser Position das ‚Ende der Geschichte’? Gewiss nicht. Allenfalls endet hier der Begriff der ‚Universalgeschichte’. Selbstverständlich kommt die gesellschaftliche Entwicklung nicht zum Stillstand, wenn es kein allgemein akzeptiertes Fortschrittskonzept gibt. Aus der Absage an universelle Ansprüche welcher Gesellschaftstheorie auch immer, aus dem Verzicht auf die Behauptung eines wie immer auch gearteten Gattungsinteresses (verstanden als allgemein gültiges regulatives Prinzip) oder eines universalisierten Fortschrittsbegriff ergibt sich eine andere Entwicklung, die auf Pluralität bis hin zur Widersprüchlichkeit, auf Diversität, die Akzeptanz des Besonderen usw. gerichtet ist. Offen bleibt (zumindest bei Lyotard), wie die Pluralität gegen Beliebigkeit abzugrenzen ist, wo die Grenzen der Toleranz liegen und wie diese ohne Rückgriff auf Universalien bzw. metaphysische Kategorien begründbar sein sollen.
Ebenso verhält es sich mit dem Universalitätsanspruch der Vernunft, wobei die Kritik an diesem aus der sprachlichen Verfasstheit jeder Vernunftäußerung (aber auch des Erkenntnisprozesses allgemein) abgeleitet wird. Verkürzt lautet die Argumentation so: Gegenstand der Erkenntnis ist nicht das Ding an sich, sondern seine Bedeutung(en) für uns, also seine Eigenschaften. Diese werden sprachlich in Form von Benennungen (auch Namen) zugewiesen, die nicht objektiv sind. Um die ‚Richtigkeit’ von Ganzheiten, Theorien etc. überprüfen zu können, bedürfte es einer Meta-Ebene, die es aber nicht gibt (und ohne Metaphysik auch nicht geben kann).[14] „Der Zweifel an der ‚Vernunft’ hat seinen Ursprung nicht in den Wissenschaften, sondern in der Kritik der Metasprache, d.h. im Niedergang der Metaphysik (und somit auch der Meta-Politik).“ (Lyotard 1984a, 39) Aus diesem Sachverhalt resultiert nur die Konsequenz der Achtung der Differenz – nicht eine Flucht in den Irrationalismus des ‚anything goes’, sondern ein Bekenntnis zum Unterschied, zum „Widerstreit in der Vernunft durch ‚Mikrologien’“ (ebd.), die wiederum selbst nicht das Andere der Vernunft sind, sondern ein Anderes.[15]
Man muss dieser Argumentation nicht folgen, besonders dann nicht, wenn man am „ontologischen Realismus des dialektischen Materialismus“ (Metscher 1999a, 188) festhalten möchte. Für eine materialistische Theorie dürfte es aber zwingend erforderlich sein, die Relation von Sprache und Erkenntnis (vielleicht sogar von Sprache als der Bedingung der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis überhaupt) aufzuklären, und zwar über die Feststellung des Ideologiecharakters der Sprache hinaus. „Alles, was die Menschen in Bewegung setzt, muß durch ihren Kopf hindurch; aber welche Gestalt es in diesem Kopf annimmt, hängt sehr von den Umständen ab“ (Engels, MEW 21, 298) – auch von den sprachlichen, wie man geneigt ist zu ergänzen.
Aus dem Gesagten folgt nicht nur ein kritisches Verhältnis zu Vernunft und Sprache. Es stellt sich auch die Frage nach der Legitimierbarkeit von Weltanschauungen, moralischen Postulaten, Zukunftsentwürfen usf. Dass diesen kritisch zu begegnen ist, liegt auf der Hand. Wie aber kann – eingedenk der allumfassenden Wirkmacht kapitalistischer Verwertung und Ideologie („Der Kapitalismus ist nicht bloß eine Wirtschaftsweise oder eine Organisationsform der Gesellschaft, sondern eine Metaphysik des Willens“ [Lyotard 1985b, 45]) – das Individuum sich dem Diktat herrschender Ideen und Diskurse widersetzen? Hier kommt das Ästhetische ins Spiel.[16]
Wenn die ‚großen Erzählungen’ mit dem Makel behaftet sind, das menschliche Denken in ihre eigene Perspektivik zu lenken und so ihren jeweils eigenen Zweck transportieren, wenn die Begriffe bereits ihrer Form nach ideologischen Charakters sind und Kontrolle ausüben, wenn es kein Allgemeines, keinen ‚sensus communis’ (Kant) in der Vernunft geben kann, gewinnt die Bereitschaft für das „Ereignis“, für die unmittelbare (= unkontrollierte) Wahrnehmung des Gegenwärtigen, eine besondere Bedeutung. Diese Bereitschaft kann aus dem Gefühl des Ästhetischen (genauer: des Erhabenen) hervorgehen[17], nicht aus der Vernunft, und sie ist die Grundlage für kritisches Bewusstsein. Zu verstehen ist dieses Gefühl des Ästhetischen als die Fähigkeit, sich zu wundern, die „Empfänglichkeit für die Gebung des Anderen“ (Lyotard 1986c, 24), d.h. des Anderen des konstruierten wissenschaftlichen Begriffs. Und dieses Gegebene zeigt sich in „freien Formen“ (ebd., 25), ohne die schon jeweils im Begriff inhärierten Erkenntnis-Regeln, die tatsächliche Kritik ausschließen. „Noch einmal: die Grundlage der kritischen Vernunft besteht nicht in der Logik noch in der Pragmatik und auch nicht in der subjektiven Evidenz, sondern in der ursprünglichen Empfänglichkeit für das Ereignis, das Gegebenes ist. Ohne diese Aufnahme des Anderen, das das Geheimnis der Kritik ist, gibt es nichts zu denken.“ (Ebd., 23)
Das Ästhetische als Katalysator für die Befreiung des erkennenden Subjekts von vorgefertigten Erkenntnis-Regeln, Konventionen, Vorurteilen, Wahrnehmungsgewohnheiten usw.: Erst durch das Heraustreten aus der Welt normierter Bedeutungen und Legitimationen, Erfahrungen und Rezeptionsvorgaben entsteht die Möglichkeit, kritisch mit der eigenen Tradition und Lebenswelt umzugehen, diese zu erkennen und umzuwerten. Diese Qualität der Nicht-Begrifflichkeit zeigt sich u.a. in der Malerei im abstrakten Farb-Form-Spiel (paradigmatisch Barnett Newman), in der Musik als die Vertonung der Stille (paradigmatisch John Cage), in der Literatur im Aufbrechen von Raum-Zeit- sowie Bedeutungsstrukturen (paradigmatisch Michele Butor). Im Prozess der Kunstaneignung gewinnt das Subjekt die Oberhand über die „Hegemonie des ökonomischen Diskurses“ des Kapitalismus (Lyotard 1989, 299).
IV.
Die erfolgte Darstellung ist kursorisch und in gewisser Hinsicht oberflächlich. Die Aufgabe ist aber auch nicht, die Positionen umfassend zu rekonstruieren. Es ging lediglich um einen Nachweis, dass Irrationalismus, Herrschaftsideologie etc. nicht für alles, was unter dem Etikett ‚Postmoderne’ verhandelt wird, die zutreffenden Beschreibungen sind.
Es sollte auch nicht der Eindruck entstehen, dass hier eine umfassende ‚Rettung’ der Postmoderne beabsichtig ist. Diese kann, auch von einer vernunftkritischen und nicht an den ‚großen Erzählungen’ orientierten Position, nicht erfolgen. Große Teile der Kritik (und nicht nur der marxistischen) treffen zu, viele Arbeiten, die im postmodernen Diskurs als bahnbrechend gewertet werden, sind schlicht fauler Zauber. Beabsichtigt ist nicht einmal, Lyotard zum großen Philosophen zu verklären. Auch hier ist nicht alles Gold, was glänzt. Aber einige Ideen und Analysen sind weiter zu verfolgen.
Kehren wir zur Ausgangsfrage zurück, um ein Fazit zu ziehen. Welche ‚Grenze’ ist zu überschreiten und warum?
Zu überschreiten ist die Grenze bloßer Kritik von der vermeintlich gesicherten Perspektive wissenschaftlicher Weltanschauung her, wie sie nur allzu gerne von marxistischer Seite geübt wird. „Aber man wird nicht mit einer Philosophie fertig dadurch, daß man sie einfach für falsch erklärt.“ (Engels, MEW 21, 273)[18] Die Überlegenheit der marxistischen Theorie kann auch nicht ausschließlich im Rückgriff auf das Praxis-Kriterium erfolgen, weil dieses Begründungsverfahren zur Tautologie tendiert: die Bewertung ‚richtiger Praxis’ gelingt nicht ohne Rückgriff auf die Theorie, die durch die Praxis verifiziert werden soll. Die Kritik an metaphysischen Konzepten, die Zurückweisung von Totalitätsansprüchen muss – sofern dies für möglich gehalten wird – ihrerseits philosophischer Kritik unterzogen werden. Allerdings wird sich der grundlegende Widerspruch nicht auflösen lassen.
Wenn daher an ontologischen Setzungen festgehalten wird, kann daraus nicht eine wie immer auch geartete Überlegenheit anderen Anschauungen gegenüber abgeleitet werden. Lyotards Analyse der Diskursarten hat insoweit etwas Überzeugendes, als dass die philosophische Setzung einschließlich der daraus folgenden Ableitungen eine Diskursart unter vielen ist. Die Absage an die Metaphysik (an den spekulativen Diskurs) ist wiederum eine andere Diskursart, beide verhalten sich zueinander „inkommensurabel“ (Lyotard 1989, 215). Entscheidbar im Sinne von Verifizierung bzw. Falsifizierung sind diese Diskursarten nicht.[19] Zu akzeptieren ist der Widerstreit, d.h. die Unentscheidbarkeit, woraus sich ein starkes Votum für Pluralität ergibt.
Natürlich kann die Diskursarten-Theorie verworfen werden, allerdings ist dazu eine Analyse nötig, die ihren Ausgang beim Charakter der Sprache und den Satz-Regel-Systemen nehmen sollte. Überhaupt sollte eine materialistische Theorie der Sprache nicht nur nach dem Ideologiecharakter oder nach Widerspiegelung fragen. Beide Aspekte haben einen hohen Stellenwert, reichen aber nicht aus. Zu untersuchen wäre u.a. auch, ob und inwieweit die Struktur der Sprache(n) die Struktur menschlichen Erkennens bestimmt, ob und auf welche Weise das Weltverhältnis des Subjekts (auch) durch Sprache bestimmt ist oder es auch außersprachliche Erfahrung und Erkenntnis gibt. Diesen und anderen Fragen wird nicht ausweichen können, wer der Postmoderne argumentativ begegnen will.
Aufzugreifen ist, wie ich meine, auch die postmoderne Diskussion um das Ästhetische. Es ist bemerkenswert, dass Vertreter postmoderner Positionen – obwohl von ganz anderen Prämissen ausgehend – zu Einsichten gelangen, die bis in die Begrifflichkeit hinein mit avancierten Theorien von Marxisten korrespondieren. Dazu nur ein Beispiel. Thomas Metscher hat über Jahre hinweg ein entwickeltes Konzept zu einer Theorie ästhetischer Erkenntnis, „ästhetische Episteme“[20] ausgearbeitet, dessen Kernkategorie ein Mimesis-Begriff ist. Bei Wolfgang Welsch findet sich folgende Position: „Vom Ganzen der Wirklichkeit kann man sich (...) eigentlich keinen Begriff, sondern nur noch ein Bild machen (...) Dieses Ganze verweigert sich letzten Festschreibungen. Es ist nur noch mit ästhetischen Kategorien zu buchstabieren (...)“ (Welsch 1992, 70). Für Welsch folgt daraus ein Prozess der „epistemischen Ästhetisierung“, gemeint ist „das Ästhetischwerden unserer Auffassung von Wissen und Wirklichkeit“ (ebd., 72).[21] Dieses Konzept wird gewonnen in Abgrenzung gegen eine auf die Synthetisierung eines Ganzen (das Schöne als Vermittler zwischen dem Wahren und dem Guten) gerichteten Ästhetik und versteht sich ausdrücklich als gesellschaftskritisch.
Und Lyotard sieht im Rückgriff auf die Kantische Ästhetik gar „einen Weg zur Ontologie“ (Lyotard 1986c, 13), der dem begrifflichen Wissen allenfalls implizit, keinesfalls jedoch zugänglich ist. Bei aller Verschiedenheit zur marxistischen Diskussion und besonders der jeweiligen Intentionen: schon aus diesen wenigen Sätzen sollte ein gegenseitiges Interesse an den Überlegungen und Resultaten des vermeintlichen Gegners resultieren.
Abschließend sei hier noch dringend daran appelliert, auch zukünftig kritisch mit der eigenen Kritik umzugehen. Die vorgeschlagene „polemische Kritik“ (...), „Selbstverteidigung“ (...), „Gegenangriff“ (...), „Besichtigung des geschlagenen Gegners“ (...) (Metscher 2005, 116f.) taugt nur für ritualisierte Auseinandersetzungen, an denen kein Bedarf bestehen kann. Erstens, so lässt sich allemal für Lyotard behaupten, fand gar kein Angriff statt, weshalb, zweitens, Selbstverteidigung nicht erforderlich ist. Wie, argumentativ betrachtet, der Gegner erst geschlagen werden kann, um hinterher besichtigt zu werden, stellt ein großes Rätsel dar (ist eine gründliche Lektüre und Analyse doch schon die Voraussetzung dafür, überhaupt erkennen zu können, wer Freund ist und wer Feind). Eine ergebnisoffene, gleichwohl kritische Beschäftigung mit theoretischen Texten sollte anders aussehen und die Grundsätze philologischer Analyse achten.
Auf dem Spiel (um es einmal ‚postmodern’ zu sagen) steht in diesem Diskurs (und auch in keinem anderen) nicht die Einheit der Welt, auch nicht die politische oder gesellschaftliche Zukunft des Menschen. Zu lernen ist aus meiner Sicht, dass ein Nebeneinander unterschiedlicher, differenter, ja widerstreitender Auffassungen wünschenswert ist und dem ‚Fortschritt’, wie dieser auch immer gedacht sein mag, nicht zuwider läuft – fehlt doch bis heute jeder Beweis „für die Behauptung, menschliche Gesellschaften könnten nur dann überleben, wenn in ihnen weitgehende Einigkeit herrscht über Dinge von letzter, ausschlaggebender Bedeutung – wenn alle der gleichen Auffassung sind über unsere Stellung in der Welt und unseren Auftrag auf Erden“ (Rorty 1988, 111).
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* Cross The Border – Close The Gap ist der Titel eines der frühesten Manifeste postmodernen Denkens (vgl. Fiedler 1969). Für L.A. Fiedler war die Popkultur Ausdruck der Grenzüberschreitung zwischen elitärem Professionalismus und künstlerischem Amateurtum.
[1] Vgl. hierzu bes. Kopp/Seppmann 2002, Seppmann 2000, Metscher 2005.
[2] Auffallend auch, dass in den meisten Arbeiten, die sich allgemein mit der Postmoderne befassen, die Theoriegeber selbst nur selten zu Wort kommen. Es wird dafür aber gerne aus Werken über sie zitiert.
[3] Der Anlass ist die Veröffentlichung eines Aufrufs des Sprechers der sozialistischen Regierung, Max Gallo, an die französischen Intellektuellen, eine ergebnisorientierte öffentliche Diskussion über gesellschaftliche Veränderungen zu beginnen, die Frankreich aus seiner ökonomischen und sozialen Rückständigkeit führen solle (vgl. Lyotard 1983, 9).
[4] Eine Frage, die sich ebenfalls aufdrängt, wenn Seppmann bereits auf der zweiten Seite von Ende der Gesellschaftskritik? die Glaubwürdigkeit „des ‚Postmodernen Denkens’ auch deshalb zurückweist, weil „im Umfeld des Diskurses polizeiwidrige Aufsässigkeit vergeblich (zu) suchen (ist)“ (Seppmann 2000, 10). Wäre polizeiwidrige Aufsässigkeit des Autors ein Kriterium für seine Glaubwürdigkeit stünde es wohl schlecht um die Theoriebildung allgemein.
[5] Auf diesen Umstand habe ich schon in meiner Rezension von Kopp/Seppmann 2002 hingewiesen (vgl. Radewald 2003).
[6] Vgl. dazu Lyotard 1989, 185: „Von einer Totalität (...) läßt sich nichts feststellen und auf kognitive Weise auch nichts behaupten“.
[7] Die Ableitung politischer Wirkungen theoretischer Positionen sollte aber nicht ohne die Kenntnisnahme direkt politisch-programmatischer Aussagen erfolgen. Unter dem Stichwort „Terrorismus der Begriffe“ resümiert Seppmann: „Ein Zwangsverhältnis liegt (im Sinne des Postmodernismus, E.R.) nicht vor, wenn aus Gründen der Kapitalverwertung mit dem Abbau von Arbeitsplätzen auch Lebensperspektiven bedroht, die personale Identität beschädigt und sozio-kulturelle Regulationsgefüge destabilisiert werden. (...) Das Diskurs-Wissen kehrt die realen Verhältnisse um (...) Wir können uns (...) vorstellen, wie angenehm die massenhafte Verbreitung relativistischer (...) Denkmuster für Herrschaftsverhältnisse ist, die mehr als nur ihre Verantwortung zu verschleiern haben: Im besten Fall nehmen sie Partei für den Status Quo.“ (Seppmann 2000, 223) Dem sei ein Wort von Lyotard unkommentiert gegenübergestellt: „Führt, was ich sage, darauf, die Politik des Neoliberalismus zu empfehlen? Keineswegs, scheint mir. Diese ist selbst nur ein Trugbild. Was in Wirklichkeit stattfindet, ist eine Konzentration der Industrie-, Gesellschafts- und Finanzimperien, die von den Staaten und den politischen Klassen geführt wird. Aber es rührt sich die Ahnung, (...) daß die Arbeit, wie sie das 19. Jahrhundert begriff, aufhören muß, und anders als in Form von Arbeitslosigkeit. (...) viel weniger ‚arbeiten’, viel mehr lernen, wissen, erfinden, zirkulieren. Gerechtigkeit im Politischen ist in dieser Richtung weiterzutreiben. (Man muß eines Tages zu einer internationalen Übereinkunft über die verbindliche Herabsetzung der Arbeitszeit ohne Minderung der Kaufkraft kommen.)“ (Lyotard 1982, 87f.)
[8] Sicher ist auch nicht alles, was den ‚Gesetzmäßigkeiten gesellschaftlicher Entwicklung’ zuwider läuft, deshalb gleich irrational: In der DDR wurde von der Gründung bis zur Auflösung des Staates der Brotpreis subventioniert. Ein Pfund Brot kostete immer und überall 31 Pfennige. Dies hatte zur Folge, dass Brot als Grundnahrungsmittel nicht nur für alle preiswert zu haben, sondern zum Teil auch billiger als Viehfutter war – weshalb es gerne als Ersatz für selbiges herhalten musste. So wurden Subventionen im wahrsten Sinne des Wortes ‚vor die Säue geworfen’. Folgt aber aus der Fehleinschätzung, dass mit dem Verschwinden des sogenannten freien Marktes auch die Wertgesetze außer Kraft gesetzt sind, Irrationalismus? Ganz sicher nicht. Es ist darauf zu beharren, dass auch mit Vernunft Fehler gemacht werden können.
[9] Das Zitat ist einem Diskussionspapier von Hans Heinz Holz entnommen. Der Text wurde den TeilnehmerInnen einer Tagung der Marx-Engels-Stiftung zum Thema „Irrationalismus“ (Leverkusen, Juni 2005) an die Hand gegeben. H.H. Holz konnte leider aus gesundheitlichen Gründen seine Position nicht persönlich erläutern.
[10] Ob dies tatsächlich gelingt, wäre Gegenstand einer Untersuchung, die z.B. bei den Haupttexten von Lyotard ihren Ausgang nehmen könnte.
[11] In diesem Zusammenhang ist es allerdings auffällig, das – zumindest in den in Anm. 1 genannten Arbeiten - diese Problemstellung nicht einmal Erwähnung findet.
[12] Hier reiht sich Lyotard in eine lange Reihe französischer (und anderer) Denker ein, die ursprünglich dem Marxismus (auf unterschiedliche Weise) verbunden waren. Infolge der negativen praktischen Erfahrungen mit dem realen Sozialismus wendet auch Lyotard sich vom Marxismus ab. Dass viele linke Intellektuelle infolge des katastrophal gescheiterten Experiments ‚realer Sozialismus’ mit der Aufgabe gesellschaftlicher Utopien reagieren, dürfte unübersehbar sein. Die daraus resultierenden theoretischen Konsequenzen werden in der marxistischen Diskussion meines Wissens nur unzureichend beleuchtet.
[13] Seppmann irrt, wenn er Lyotard eine ausschließlich „negative Bewertung der ‚großen Erzählungen’“ unterstellt (Seppmann 2000, 53).
[14] Lyotard verfällt in der Folge dieser Überlegungen allerdings nicht in einen (latenten) Agnostizismus, sondern versucht das Problem mit seiner Theorie der Diskursarten zu lösen, auf die hier nicht weiter eingegangen werden kann (vgl. Lyotard 1989). Wichtig ist, dass jeder Streit, der innerhalb der gleichen Diskursart verläuft, auch entscheidbar ist. Widerstreitende Positionen sind solche, die innerhalb verschiedener Diskursarten angesiedelt sind.
[15] Gesellschaftstheoretisch liest sich die Mikrologie so: „Kann man sich nicht auch ein Minoritärwerden vorstellen? Einen allgemeinen Zustand der Gesellschaft, in dem die Minderheiten zueinander in flottierenden Beziehungen stünden (...)? Es gäbe Tauschverhältnisse und Verträge, nicht den Vertrag, vielmehr Verträge, die jederzeit revidierbar wären, d.h. nie den ein für alle Mal festgelegten Gesellschaftsvertrag darstellten.“ (Lyotard 1978, 46) Vgl. dazu auch Das Patchwork der Minderheiten (Lyotard 1977).
[16] Lyotard gilt als der profilierteste Vertreter einer philosophischen Ästhetik postmoderner Provenienz (‚Ästhetik der Erhabenheit’). Diese kann hier nicht ausführlich dargestellt werden. Nicht akzeptabel ist aber das pauschale Urteil von Erich Hahn, welches der Auseinandersetzung mit dem bekanntesten deutschen Lyotard-Adepten, Wolfgang Welsch, nachgestellt ist: „Die Behauptung einer allumfassenden Ästhetisierung wird als flankierendes Argument für die postmoderne Leugnung einer objektiven Realität instrumentalisiert.“ (Hahn 2002, 59f.) Hahn sieht hier nicht den Unterschied zwischen „schönheitlicher“ und „epistemischer Ästhetisierung“ (vgl. Welsch 1992).
[17] Für eine gründliche Analyse des Erhabenen vgl. Lyotard 1993.
[18] Dieser Satz von Friedrich Engels kritisiert die Weise, wie Feuerbach mit der Hegelschen Philosophie verfuhr. Eine Aufwertung postmoderner Philosophie, weder bei Lyotard, noch gar als ‚Ganzes’, in den Rang Hegelschen Denkens ist mit diesem Zitat natürlich ausdrücklich nicht intendiert.
[19] Unentscheidbar, das ist zu betonen, sind die Diskurse nur, wenn es sich um nicht-empirische Gegenstände handelt und die Diskurse nicht innerhalb der gleichen Diskursart geführt werden. Beim Gespräch über empirisch Vorgefundenes bzw. innerhalb der gleichen Diskursart kommen die Diskursregeln zur Anwendung, die auch Entscheidungen im Sinne von wahr oder Falsch erlauben.
[20] Vgl. u.a. Metscher 1999b. Darin eine umfangreiche weiterführende Bibliographie.
[21] Um hier der Kritik vorzugreifen: Gemeint ist nicht die Ästhetisierung der Lebenswelt (bis hin zur Politik), sondern (in nuce) ein Denken und Wissen, das seinen Grund in aisthesis hat.