Berichte

Die Möglichkeit einer anderen Welt

Kongreß zu konkreter Utopie und realpolitischer Intervention 7.-9. Oktober 2005, Hannover

Dezember 2005

Gesellschaftskritik hat keinen Platz mehr in der Gesellschaft und muß daher einen Nicht-Ort, einen Ou-Topos aufsuchen, um überhaupt noch formuliert werden zu können – auf diese Zuspitzung brachte ein Diskussionsredner die Lage kritischer Wissenschaft. Und in der Tat fand man sich in einem Nirgendort, einem weitgehend ausgestorbenen Universitätsgebäude in Limmer, einem Arbeiterstadtteil Hannovers, zusammen. Etwa 150 Leute waren auf Einladung der Redaktion des Online-Magazins „Sozialistische Positionen“ (www.sopos.org) und der Loccumer Initiative Kritischer WissenschaftlerInnen zusammengekommen, um die Aufgaben und Möglichkeiten kritischen Denkens angesichts eines sich verdunkelnden gesellschaftlichen Entwicklungshorizonts zu diskutieren.

In ihrer Einleitung stellten die Veranstalter ihren Kongreß in den Kontext der zunehmenden Ausgrenzung kritischer Inhalte aus dem universitären Betrieb. Man wolle den Kongreß auch als einen Moment von Gegenuniversität verstanden wissen, als eine Form der „geistigen Aktion“ im Sinne des marxistischen Philosophen Karl Korsch. Denn alle diejenigen Denker, die sich außerhalb des neoliberalen wissenschaftlichen Mainstreams bewegten, würden mittlerweile ignoriert oder offensiv diffamiert. Daß dabei selbst die Toten nicht vor den Siegern der Geschichte sicher sind, verdeutlichten Peter-Erwin Jansen und Joachim Perels in ihren Vorträgen über Herbert Marcuse und Ernst Bloch. War der westliche Marxismus den Herrschenden in Ost wie West stets ein Dorn im Auge, wurde in den 90ern versucht, diese Art von Theorien zusammen mit dem Realsozialismus im Mülleimer der Geschichte zu entsorgen.

Welchen Anknüpfungspunkt insbesondere Blochs Begriff der „konkreten Utopie“ bietet, wurde deutlich in der Diskussion über den Sinn utopischen Denkens, die sich an Beiträge von Gunzelin Schmidt-Noerr und Roger Behrens knüpfte. Die Marxsche Theorie, so ein Diskussionsredner, verfüge über keine Handlungstheorie; ihre Dogmatisierung zu einer deterministischen Heilslehre während der Zeit der II. Internationale sei mithin kein Zufall. Die Spannung zwischen dem real Möglichen – eben dem Utopischen – und dem Elend der Realität befeuere individuelle und kollektive Aktivitäten und eröffne praktische Handlungsdimensionen.

Insbesondere die der Tradition der Kritischen Theorie Theodor Adornos und Max Horkheimers verpflichteten ReferentInnen und Kongreßteilnehmer mochten dieser Überlegung allerdings nicht ganz folgen. Die Entfaltung von Negationspotentialen in der Gesellschaftskritik, so etwa Roger Behrens, müsse im Mittelpunkt stehen, wolle man nicht in einer Praxis verharren, die im Bestehenden befangen bleibe. Im Kern ging es dabei um die alte Frage des Verhältnisses von Theorie und Praxis, das schwerpunktmäßig zwar erst am dritten Kongreßtag diskutierte wurde, sich aber durch die gesamte Veranstaltung zog. Deutlich wurde dabei, daß sich vor dem Hintergrund einer zunehmenden sozialen Polarisierung kritische Theorie wieder stärker auf die antikapitalistischen Bewegungen bezieht – auch wenn mancher das „Rückfahrticket nach Frankfurt“ nicht noch einmal lösen wollte. Wenn jedoch Moshe Zuckermann mit Verve die barbarischen Züge des kapitalistischen Weltsystems anprangerte und die begriffliche Negation des Bestehenden mit allen Konsequenzen auch für die eigene Person einforderte, konnte man dem sprengenden Potential einer an Adorno geschulten Denkweise gewahr werden.

Ein anderer Konfliktpunkt ergab sich aus der Frage, was denn als Erbschaft unserer Zeit zu verstehen sei, welche Elemente des Kapitalismus zu transzendieren seien und in welchen Bereichen ein radikaler Bruch notwendig sei. Michael Krätke machte in seinem Referat Marx als Anti-Utopisten stark und hob hervor, daß sich das kapitalistische System in Permanenz selbst verändere und für eine andere Politik zahlreiche Anknüpfungspunkte biete. Dagegen betonte etwa Regina Becker Schmidt, das Fortbestehen kapitalistischer Vergesellschaftung sei ein „Alptraum“, dessen Ende nicht absehbar sei, wenn weiterhin wesentliche Aspekte des sozialen Lebens außerhalb des Kerns der kapitalistischen Ökonomie ausgeblendet blieben. Diese Problematik fand sich auch in den Vorträgen von Christoph Spehr und Christoph Görg. Der Zerstörung sozialer und ökologischer Lebenswelten sei ohne ein radikales Umdenken nicht zu begegnen. Mehr radikaler Bruch, weniger Kontinuität lautete die implizite Botschaft.

Die Frage, welche praktischen Schritte im kapitalistischen Diesseits möglich und notwendig sind, ohne im Bestehenden zu verharren, wurde an zwei Themenkomplexen diskutiert, denen die Veranstalter eine exemplarische Bedeutung beimaßen: Der freien Software und dem Copyleft sowie dem Copyright an Körpersubstanzen. Während im Bereich der freien Software die kapitalistische Eigentumsordnung nur mit Mühe aufrechterhalten werden könne, wie Stefan Meretz argumentierte, verdeutlichte Uta Wagenmann das Ausmaß der Inwertsetzung von Körpersubstanzen. Wie unterentwickelt die Debatte innerhalb der Linken zur Frage des Verhältnisses von technischer Entwicklung und Gesellschaft ist, machte die anschließende Debatte deutlich. Man konnte den Eindruck gewinnen, daß sich so mancher den technokratischen Heilsversprechen wohl nicht in Gänze verschließen mochte. So war es nicht unwichtig, wenn eine Diskussionsteilnehmerin vehement daran erinnerte, daß es keine technische Lösung sozialer Probleme geben könne.

Bemerkenswerterweise blieb trotz der Dichte des Programms und manchmal überlangen Referaten die Zahl der Kongreßteilnehmer erstaunlich konstant. Es waren offenbar nur die wirklich Interessierten gekommen, und das waren erstaunlich viele. Die Atmosphäre war trotz der mitunter kritischen Schärfe der Argumentation weitgehend frei von kulturpessimistischen Tönen, und auch die Diskussionen verliefen bei aller Kontroverse ohne überflüssige Polemik. Begriffliche Negation, das wurde greifbar, ist etwas anderes als Pessimismus. Angesichts der Dominanz konservativ neoliberaler Weltbilder und gelichteter Reihen rückt die linke Intelligenz offenbar enger zusammen und versucht, geistigen Kooperationsprozessen größeren Raum zu geben. Wenn der Marcuse-Kenner Peter Erwin Jansen und der Ökonom Tobias Ten Brink die alte Frage Marcuses, warum die große Revolte bisher ausbleibe und wie die Widerstandspotentiale der Menschen gestärkt werden können, in den Blick rückten, wurde ein Diskussionsbedarf deutlich, wie er selten geworden ist. Es hat sich gleichermaßen unter älteren und jüngeren WissenschaftlerInnen eine erfreuliche intellektuelle Unruhe breit gemacht. Die Unterschiedlichkeit theoretischer Ansätze – von Wolfgang Abendroth über Dietrich Bonhöffer bis Jean Paul Satre wurde auf denkbar vielfältige kritische Geister Bezug genommen – steht dabei nicht im Wege, wenn problembezogen diskutiert wird. Welche Grenzüberschreitungen dabei möglich sind, demonstrierte Oliver Heins, der in seiner Reflexion über die Grundlagen freier Software gleichermaßen an Otto Neurath und die Wiener Schule des logischen Positivismus und an Marx These von der Sprengung der Produktionsverhältnisse durch die Entwicklung der Produktivkräfte anknüpfte.

Noch stand die Selbstverständigung und Klärung im Vordergrund – und eine Verstetigung der Diskussion ist keineswegs selbstverständlich. Es hat sich aber gezeigt, daß es an den Universitäten und in deren Umfeld ein erhebliches Potential an Leuten gibt, die trotz alledem für ein emanzipatives Projekt einstehen.