Mit Blick auf die Programmdiskussion in der DKP veranstaltete die Marx-Engels-Stiftung Wuppertal am 22. und 23. Oktober 2005 in Essen eine Konferenz, die sich mit der Frage „In welchem Kapitalismus leben wir eigentlich?“ befasste. Etwa 50 Interessierte debattierten z. T. lebhaft über die acht Referate.
Zum Thema „Kapitalismusanalyse und Solidität sozialistischer Programmatik“ sprach einleitend Ekkehard Lieberam (Leipzig). Er analysierte Erfahrungen aus der Programmdiskussion der PDS und bezeichnete deren Resultat, das Chemnitzer Programm von 2004, als ein „Konzept der Anpassung“, das „eine grundfalsche politische Handlungsorientierung“ gebe. Den dort verwendeten Begriff einer „kapitalistisch dominierten Gesellschaft“ lehnte er als „grundsätzlich falsch“ ab. Hier sei die Kapitalanalyse „passgerecht“ gemacht worden. Ein sozialistisches Programm habe – wie Kautsky zum Erfurter Programm der SPD formulierte – von der Gesellschaft und ihrem Entwicklungsgang auszugehen. Der Redner wandte sich dann der Situation des Kapitalismus zu und hob als Ausgangspunkt die Revolution der Produktivkräfte hervor. Transnationale Konzerne beherrschten die Welt, hätten einen „extrem kriegerischen Kapitalismus“ hervorgebracht und zu einer Verschärfung der Klassengegensätze weltweit geführt. Konzentrationsprozesse, Verwertungskrise, soziale Polarisierung bildeten in der Bundesrepublik den Hintergrund für die neoliberale Offensive, die nicht nur eine Variante bürgerlicher Politik darstelle, sondern „eine stabile Herrschaftskonstellation“. Es sei nicht möglich, alte Programme linker Parteien einfach fortzuschreiben. Lieberam nannte in diesem Zusammenhang besonders das Konzept einer „antimonopolistischen Demokratie“. Vielmehr gehe es um die „Akzentuierung der Klassenfrage und die Organisierung von Gegenmacht“ – letztere bezeichnete er als „Schlüsselbegriff“. Teilnehmer der Diskussion lehnten es ab, den Begriff einer „antimonopolistischen Demokratie“ so schnell „abzuservieren“. Es sei stärker abzugrenzen, wo diese Orientierung überholt sei einschließlich der mit ihr verbundenen Einheits- und Aktionspolitik und wo das Konzept „Gegenmacht“ zum Zuge kommen müsse.
Werner Seppmann (Haltern) referierte über „Neoliberalismus – kapitalistische Verwertungskrise und hegemoniale Anpassungsstrategien“. Er bezeichnete den Neoliberalismus als Reaktion auf fundamentale Verwertungsschwierigkeiten seit den 70er Jahren. Die Angriffe auf den scheinbar gesicherten Lebensstandard in der Bundesrepublik seien durch zwei Krisen motiviert: Durch eine Überakkumulation von Kapital und – grundsätzlicher – durch den tendenziellen Fall der Profitrate. Es sei gelungen, die Verwertungskrise in eine Beschäftigungs- und Existenzkrise der Lohnabhängigen zu verwandeln. Dem Hegemoniegewinn des Kapitals entspreche die Verunsicherung der Arbeitskraftverkäufer. Historisch erstmalig würden Arbeiterklassen verschiedener Länder gegeneinander ausgespielt. Seit den 90er Jahren sei die Drohung mit einer Arbeitsplatzverlagerung ausreichend, um Lohnkürzungen und Arbeitszeitverlängerungen durchzusetzen. Seine Überzeugungskraft habe der Neoliberalismus dennoch nicht ganz verloren: Mehrarbeit und Lohnverzicht seien für viele besser als der Arbeitsplatzverlust.
Ähnlich analysierte Mario Candeias (Berlin) „Konjunkturen des Neoliberalismus“. Nationalstaat und Normalarbeitsverhältnis bezeichnete er als „alte Formen, die nichts mit heute zu tun haben“. Der Zusammenhang von Fortschritt der Produktivkräfte und Lohnzuwachs in der Nachkriegszeit sei eine Ausnahme in der Geschichte des Kapitalismus gewesen. Der Neoliberalismus sei „organisierendes Element der Transformation“ und nehme die Bedürfnisse einiger sozialer Gruppen auf. Seine erste Konjunktur sei die Zersetzung des alten historischen Blocks durch Verschiebung des Kräfteverhältnisses, die Freisetzung von Marktkräften, die Bildung transnationaler Produktionsnetzwerke etc. Es handele sich nicht um ein statisches Programm, das als hegemoniales Projekt schon gescheitert sei. Vielmehr sei es ihm gelungen, sich oppositionelle Gruppen einzuverleiben und die Linke in Richtung Zentrum zu verschieben. Allerdings gebe es keine dauerhafte Balance, es gebe einen Bruch zwischen Repräsentierten und Repräsentanten, insofern eine Krise. Die Mittelschichten fühlten sich bedroht, seien aber getrennt von wirklichen Machtpositionen. Die Reaktion darauf sei die Beschleunigung des neoliberalen Umbaus. Entscheidend für seine Hegemonie sei, dass keine Alternative sichtbar werde. Große Teile der Bevölkerung stützten zudem die Betonung des Sicherheitsaspekts – vom Asyl bis zur Militarisierung.
Den „Mängeln der marxistischen Kapitalismuskritik bei der Analyse von wissenschaftlich-technischer Revolution und Weltmarktorientierung“ wandte sich Hans-Peter Brenner (Bonn) zu. Er kritisierte, dass die Entwicklung des modernen Kapitalismus von Marxisten zu oft aus der Zirkulationssphäre in Kategorien der Internationalisierung und Globalisierung gesehen werde. Wichtiger sei aber die Durchsetzung der wissenschaftlich-technischen Revolution. Wissenschaft als Produktivkraft sei ein Zeichen für sich entfaltenden Kapitalismus. Zugleich werde damit die Voraussetzung für die kommunistische Gesellschaftsformation geschaffen, d. h. die Auflösung des Kapitalismus. Dieser Doppelcharakter kennzeichne den modernen Kapitalismus. Nötig sei eine höhere Bewertung des Kampfes um Verkürzung der Arbeitszeit.
Zwischen 1970 und 2000 wuchs das Bruttoinlandsprodukt auf der Welt pro Jahrzehnt um etwa zehn Billionen US-Dollar. Bei einem Gesamtumfang von etwa 40 Billionen Dollar erwirtschafteten die USA allein zuletzt zwischen zehn bis zwölf Billionen US-Dollar. Jörg Miehe (Göttingen) nannte diese Zahlen in seinem Referat über „Die Entwicklung der Formation seit 1945 und das aktuelle Weltwirtschaftsregime. Neoliberalismus, Globalisierung oder alt-neuer Imperialismus?“. Miehe schlussfolgerte: „Die Frage, ob es in der Entwicklung des Kapitalismus eine dramatische Wende gegeben hat, beantwortet sich von selbst.“ Der industrielle Kapitalismus habe sich gewaltig ausgedehnt (Japan, Südkorea, Südeuropa) und mit ihm die Arbeiterklasse. Sie verzeichne in den Zentren einen Rückgang, wachse aber z. B. in China und Indien in rasantem Tempo. Für die Bundesrepublik zählte Miehe rund vier Millionen Beschäftigte in den klassischen Kernbereichen der Industrie, in China seien es etwa 280 Millionen. Miehe unterstrich, dass er den Begriff Imperialismus für den Gesamtzustand der Formation für unzureichend halte. Das „Quasimonopol Microsoft“ werde nicht durch die US-Armee gestützt. Es sei privatrechtlich entstanden und ohne die USA gebe es seine marktbeherrschende Stellung nicht – aber in dieser Reihenfolge. Ein vergleichbares Monopol, nämlich das von IBM, sei „dahingeschmolzen“ und habe seine Sparte für Personalcomputer an die drittgrößte Firma der Welt auf diesem Gebiet verkauft, an Lenovo aus China. Alle Weltgegenden, in den sich diese Expansion abgespielt habe, seien seit 1945 kriegsfrei, u. a. durch die Hegemonie der USA, aber ohne sich – wie Japan und die EU – den USA zu unterwerfen.
Miehe hält den Imperialismusbegriff für hilfreich, wenn es um die Analyse der Durchsetzung monopolistischer Interessen geht wie in den Kriegen gegen den Irak 1991 und 2003. Die Profite der Ölkonzerne betrugen nach seinen Angaben im vergangenen Jahr 80 Milliarden US-Dollar und übertrafen damit die aller anderen Branchen einschließlich der Rüstungsindustrie um Längen. Von solchen Summen könne man eine Menge für politische Macht abzweigen. Allein das Irak-Öl werde, so schätzten die Ölmonopole, eine Rente von zwei Billionen US-Dollar abwerfen.
Diese Analyse, die Miehe mit der Auffassung verband, angesichts der unterschiedlichen Sichten auf den heutigen Kapitalismus sei eine Programmdebatte wie in der DKP fruchtlos, löste unter den Teilnehmern eine heftige Kontroverse aus. Die Einwände lauteten: Lenin habe seinen Begriff des Imperialismus entwickelt, um den Unterschied zum Kapitalismus der freien Konkurrenz zu erfassen und ihn nicht auf kriegerische Politik reduziert. Der Monopolbegriff bezeichne bei Lenin eine bestimmte Form des Kapitalverhältnisses und sei nicht – wie bei Miehe – identisch mit dem der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre. Wenn Miehe aus der Ausweitung kapitalistischer Produktion automatisch auf das Nicht-Ende des Kapitalismus schließe, was sei dann dessen Ende? Ein Zusammenbruch? Entscheidend für die Kapitalismusanalyse sei die Entwicklung der Widersprüche des Kapitalismus und deren Zuspitzung.
Die Kernproblematik des Konferenzthemas war in dieser Debatte offenbar sichtbar geworden. Unterschiedliche Bezeichnungen zur Charakterisierung des heutigen Kapitalismus bleiben unter Marxisten ähnlich umstritten wie vor 100 Jahren in der klassischen Imperialismusdebatte von Hilferding, Kautsky, Lenin und Luxemburg. Die beiden abschließenden Referate befassten sich mit aktuellen Fragen. So setzte sich Reinhard Jellen (München) mit der Wirkungskraft des Begriffs „soziale Gerechtigkeit“ in der SPD-Rhetorik auseinander. Regiert hätten Begriffe wie Eigenverantwortung, Flexibilität und Reform. Jenseits davon habe die Schröder-Regierung die „Wohlfahrt für oben und den Neoliberalismus nach unten“ per Staatsintervention abgesichert.
Erfahrungen aus den gewerkschaftlichen Kämpfen um Tarifverträge und soziale Sicherheit vermittelte Horst Gobrecht (Wiesbaden). Aus seiner Sicht wird die Bedeutung des erkämpften Tarifsystems „unterschätzt oder banalisiert“. Die Verteidigung der erkämpften Lebensverhältnisse bleibe die wichtigste Aufgabe einer Aktionseinheit. Sein Referat machte besonders deutlich: Wer vom Kapitalismus reden will, muss sich zunächst mit den konkreten sozialen Auseinandersetzungen befassen.