Berichte

Aktualität marxistischer Klassentheorie

Tagung von Sozialistischem Forum Rheinland, Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW und Z, Köln, 22. Oktober 2005

Dezember 2005

An der Kölner Tagung zur Diskussion über aktuelle Fragen marxistischer Klassentheorie nahmen rd. 70 Interessenten vornehmlich aus Köln und Umgebung teil. Frank Deppe (Marburg) verwies in seinem Eröffnungbeitrag zu dem von Günter Bell aus Köln angeregten und moderierten Seminar darauf, dass in der „offiziellen“ Wissenschaft soziale Ungleichheit und Klassenanalyse in den letzten beiden Jahrzehnten faktisch keine Rolle spielten, während Individualisierungs- und Lifestile-Forschung massiv gefördert wurden. Dies habe sich in den letzten Jahren unter dem Druck der realen Prozesse wachsender sozialer Spaltung (Armut/Reichtum, Ausweitung des prekären Sektors, Dauerarbeitslosigkeit usw.) und der öffentlichen Auseinandersetzung um „soziale Gerechtigkeit“ zu verändern begonnen. In der Diskussion wurde als Indiz hierfür u.a. auf den in der akademischen „Zunft“ jedoch weitgehend unbeachtet gebliebenen Eröffnungsvortrag beim letzten Soziologenkongress (2004) von K.-S. Rehberg über „Die unsichtbare Klassengesellschaft“ verwiesen. Der akademische Diskurs über „Exklusion“ und „Anerkennung“ verschließt sich, so Deppe, allerdings weitgehend der Klassenanalyse. In der marxistischen Diskussion sind gegenüber den großen Projekten der 70er Jahre (IMSF, Projekt Klassenanalyse, Tjaden-Steinhauer/Tjaden u.a.) die Uhren weitergelaufen. Dies zeigt der Blick auf die seitdem deutlich gewordenen Defizite jener Studien, die Deppe mit folgenden Stichpunkten akzentuierte: Verengung auf das Kriterium der Lohnarbeit bei Unterbelichtung von Aspekten der sozialen Differenzierung wie Ethnie oder Geschlecht und der politischen, symbolischen und kulturellen Dimensionen von Klassenbildung; mangelnde Vermittlung zwischen Klassenanalyse und Handlungstheorie und vielfach vereinfachende Annahmen über den Zusammenhang von sozialer Lage und Bewusstsein; z.T. Vernachlässigung der Rolle des Staates für die Prozesse von Klassenformierung und -fragmentierung und Überschätzung von Momenten der „Vereinheitlichung“ gegenüber sozialen Desaggregationsprozessen.

Ökonomische Basisprozesse (Produktivkraftumbruch/„Mikroelektronik“, Überakkumulationskrise/Globalisierung und wachsendes Gewicht des Finanzkapitals), Veränderungen der staatlichen Regulierung (vom „keynesianischen Wohlfahrtsstaat“ zum „Wettbewerbsstaat“; Agenda 2010 und Hartz IV) und die Veränderungen im Kräfteverhältnis der Klassen (entsolidarisierende Wirkung der Massenarbeitslosigkeit, Zerstörung industrieller Kerne usw.) sind, so Deppe, wesentliche Determinanten für die Analyse der Sozial- und Klassenstrukturveränderungen, die mit der Herausbildung der neuen Kapitalismusformation seit dem letzten Viertel des 20. Jahrhunderts verbunden sind und die sich auf Struktur, Lebensweise, Formierungsbedingungen, Anpassungsverhalten, Selbstbewusstsein usw. von herrschender Klasse, Mittelschichten und Arbeiterklasse auswirken, wie Deppe insbesondere mit Blick auf die Veränderungen in Arbeiterklasse und Gewerkschaften, auf betriebliche Auseinandersetzungen und das wachsende Gewicht des prekären Sektors und durch ihn geprägte Erfahrungen und Einstellungen sehr plastisch darstellte. Zentrale Frage marxistischer Klassenanalyse bleibt die Frage nach dem Subjekt sozialer und politischer Emanzipation, nach der Artikulation der – neuen – Widersprüche und den politischen Handlungsoptionen. Deppe benannte vier Aufgabenfelder: „Neue Allianzen“ formen, d.h. gegen den herrschenden Block einen neuen gegenhegemonialen Block aufbauen; gegen die dominierende Fragmentierung Solidariät neu definieren, wobei heute Anerkennung der Differenz stärkeres Gewicht haben müsse; Internationalisierung: Suche nach Kooperations- und Einflussmöglichkeiten der Lohnabhängigen über die nationalstaatliche Ebene hinaus; politische und gewerkschaftliche Formierung – wenn, so Deppe, die Arbeiterbewegung als politische Gestalt der Klassenbewegung von unten im Kapitalismus in ihrer alten Form und Konstellation (Partei, Gewerkschaften, Kulturorganisationen, Genossenschaften) weitestgehend nicht mehr existiert, muss der große Zusammenhang neu begründet werden, eine Aufgabe, an der sich auch linke Intellektuelle zu beteiligen haben.

Nach diesem Szenario wandten sich die folgenden Vorträge der Tagung einzelnen Aspekten von Klassenanalyse und Klassentheorie zu. Olaf Groh-Samberg (Universität Münster) machte den Vorschlag, Befunde empirisch orientierter Schichtungstheorien wie der von J. Goldthorpe, die von Konzepten der Lebenschancen und der sozialen Ungleichheit ausgehen und nicht Ausbeutung und Klassenantagonismus in den Mittelpunkt stellen, mit marxistischer Klassentheorie zu verbinden. Bei Goldthorpe sind zentrale Fragen die nach der inneren Schichtung der Lohnabhängigen, nach der Stabilität von Schichtungs- und Klassenverhältnissen, nach „Mobilitätschancen“ und dabei auch der Bedeutung von Bildungsgängen. Er vertritt die Ansicht, dass qualifizierte Angestellte, Techniker oder Beamte auf Grundlage ihrer besonderen Qualifikationen und komplexerer Arbeitstätigkeit anders als „einfache“ Lohnabhängige eine Art „Dienstklasse“ darstellen mit größeren betrieblichen Spielräumen und bestimmten Privilegien – eine Sicht, die in der Diskussion allerdings stark in Frage gestellt wurde, zumal die bei Goldthorpe zugrundeliegenden Befunde schon Jahrzehnte zurückliegen. Aber auch wenn man diese Konzeption der „Dienstklasse“ nicht für tragfähig hält, bleiben die empirischen Beobachtungen z.T. wachsender lohnabhängiger Mittelschichten, was sowohl mit der Ausweitung qualifizierter Arbeit (Produktivkraftschub) wie mit betrieblichen Strukturveränderungen incl. „outsourcing“ etc. zusammenhängen dürfte. Groh-Samberg verwies dann auf Ergebnisse von Mobilitätsanalysen und Untersuchungen zur Bildungsungleichheit (aktuell im Zusammenhang mit den PISA-Studien), die besonders für die Bundesrepublik eine ausgeprägte Konstanz von Chancenungleichheiten und einen engen Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und erreichten Bildungsabschlüssen ausweisen. Die in den letzten Jahrzehnten zu beobachtende Ausweitung unterer Klassenmilieus (Prekarisierung) und insgesamt ausgeprägtere Fraktionierung der Lohnabhängigen sei nicht nur Ergebnis neoliberaler Politik, sondern auch ein wichtiges Moment neoliberaler Hegemonie.

Ben Diettrich (Hamburg) stellte Überlegungen zu „Gewerkschaftspolitik und Klassenfragmentierung“ vor. In seiner Auffassung von Klassenstruktur und Klassenfragmentierung – die er zu Recht im Gegensatz zu Auffassungen „orthodoxer“ Klassenanalysen unterschiedlicher Provenienz sieht – betont Diettrich die Momente von Differenz und Entgegensetzung innerhalb der aktiven Lohnabhängigen und der Erwerbslosen. Er unterscheidet neben den Beschäftigten in Kernbereichen des kapitalistischen Produktionsprozesses „PeripheriearbeiterInnen“ in deregulierten peripheren Arbeitsverhältnissen, die durch Überausbeutung, ausgeprägte Kontrolle, geringe rechtliche Absicherung und oftmals durch rassistische oder patriarchale Regulationsformen geprägt seien. Arbeitslose seien als eigenständige Klasse zu betrachten, was Diettrich auch für unbezahlte HausarbeiterInnen reklamiert. Klassenbildung der Lohnabhängigen im Sinne einer allgemeinen Emanzipation müsse sich nicht nur gegen das Kapitalverhältnis, sondern auch gegen Herrschafts- und z.T. auch Ausbeutungsbeziehungen untereinander richten. Die Herausbildung einer politisch homogenen Arbeiterklasse sei daher die historische Ausnahme und nicht die Regel. Wie kann solchen Fragmentierungsprozessen, die durch die Entfesselung von Konkurrenz, durch den Druck der Massenarbeitslosigkeit und die neoliberale Deregulierung vorangetrieben werden, etwas entgegengesetzt werden? Nach Beobachtung von Diettrich gibt es auch international gegenwärtig kaum soziale Bewegungen, die über einzelne Teilbereiche hinausweisen und zu einer Vereinheitlichung führen könnten (Kernbelegschaften, periphere Beschäftigte, Arbeitslose, MigrantInnen usw.). Zu fragen sei, wie sich unterschiedliche Klassenfragmente in ihren jeweiligen Selbstformierungsprozessen unterstützen und welche Rolle die Gewerkschaften hierbei in Zeiten, wo ein abgesichertes Normalarbeitsverhältnis zunehmend zu einem relativen Privileg werde, dabei spielen könnten. Gewerkschaftliche Projekte mit Organisationsangeboten für deregulierte und prekäre Sektoren u.a. von IG Metall, ver.di und IG Bau könnten den Trend eines insgesamt schwindenden gewerkschaftlichen Organisationsgrads derzeit jedenfalls nicht bremsen. Diettrich präsentierte in diesem Zusammenhang eine Reihe Forderungen, mit denen einer zunehmenden Fragmentierung der Lohnabhängigen und ihrer Konkurrenz im internationalen Rahmen entgegengewirkt werden könne (u.a. Arbeitszeitverkürzung auch ohne vollen Lohnausgleich, um der strukturellen Arbeitslosigkeit entgegenzutreten; Mindestlohn, Bürgergeld, kostenfreie Kinderbetreuung, Formen rechtlicher Gleichstellung von MigrantInnen). In der Diskussion spielten besonders Ansatzpunkte gewerkschaftlicher Betriebspolitik wie Kampf um Zeitsouveränität und um Arbeitszeitverkürzung unter den gegenwärtigen Bedingungen gewerkschaftlicher Defensive eine Rolle, aber auch die Frage, ob im internationalen Rahmen ein neuer Zyklus sozialer Bewegungen in Gang komme.

Über „Klasse und Geschlecht“ als zentrale Kategorien der Analyse sozialer Ungleichheit sprach Margareta Steinrücke (Arbeitnehmerkammer Bremen), die damit auch Ergebnisse eines eigenen Forschungsprojektes vorstellte. Ausgehend von der englischen „class & gender“-Debatte und Bourdieus Konzept des „sozialen Raums“ und des „Habitus“ wurde mit qualitativen Methoden (Interviews, häusliche Beobachtung, Zeit- und Geldverwendungstagebücher usw.) bei Paaren aus verschiedenen sozialen Schichten bzw. Klassen und sozialen Milieus (Arbeiter, Angestellte, Lehrer, Manager) untersucht, „was die Menschen mehr verbindet bzw. trennt: das Geschlecht oder die Klassenzugehörigkeit?“ Die Fragen bezogen sich auf wichtige Bereiche sozialer Beziehungen wie Sozialisation und Arbeit, Macht und Anerkennung, „Habitus“, Lebensstil, Ausprägung und Artikulation von Interessen. Die Ergebnisse zeigen, so Steinrücke, dass beide Kategorien – Klasse und Geschlecht – entscheidende soziale Beziehungen abbilden, die den Angehörigen verschiedener Klassen und Geschlechter unterschiedliche Plätze in der Gesellschaft zuweisen, auf der Ebene „objektiver“ sozialökonomischer Verhältnisse ebenso wie auf der Ebene der Subjektivität, der „Habitusformen“. Zugleich zeige sich bei allen untersuchten Paaren, dass die geschlechtlichen Unterschiede doch recht weitgehend von den Klassenunterschieden überlagert und dominiert würden. Die Gemeinsamkeiten und Affinität zwischen Mann und Frau innerhalb einer Klasse scheinen i.d.R. größer als die zwischen Frauen bzw. Männern über die Klassengrenzen hinweg. Zugleich zeige sich (besonders an der häuslichen Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern), dass „jede Klasse und Klassenfraktion ihre je eigene Vorstellung und Realisierungsform von Weiblichkeit und Männlichkeit hat“. In der Diskussion wurden ganz grundsätzliche Fragen aufgeworfen: Unterschiede zwischen dem Kapital-Begriff bei Marx und Bourdieu; gibt es noch die „klassische“ Arbeiterklasse? Funktion von Eliten und Elitediskussion heute; macht es Sinn, verschiedene Theoriekonzepte nebeneinander zu stellen? Viele an das Thema geknüpfte „praktische“ Erwartungen, wie sie sich z.B. in der Diskussion um Ansatzpunkte gewerkschaftlicher Politik gegen soziale Fragmentierung als einen entscheidenden Zug der gegenwärtigen Sozial- und Klassenstrukturveränderung zeigten, konnten gleichfalls nur angerissen werden. Vorträge und ein Diskussionsbericht werden in Z 65 (März 2006) abgedruckt.