Berichte

Gewerkschaften in der Erpressungsspirale – Europäische Perspektiven für die Erneuerung gewerkschaftlicher Gegenmacht

Gewerkschaftspolitische Konferenz, Rüsselsheim, 28./29. Oktober 2005

Dezember 2005

Als mit der Planung dieser Jubiläumsveranstaltung begonnen wurde, war nicht abzusehen, dass diese Konferenz, durchgeführt von der AG betrieb & gewerkschaft der Linkspartei.PDS im 14. Jahr ihres Bestehens, das erste größere öffentliche Auftreten der mit 8,7 Prozent in den Bundestag gewählten Partei darstellte. Das erklärt sicher auch das große Interesse der mit 250 Teilnehmern gut besuchten Konferenz in Rüsselsheim, dem Schauplatz just vergangener Opel-Kämpfe, deren Nachwehen auch in manchen Diskussionen auf dieser Konferenz noch zu verspüren waren. Die mit einer Fraktionsstärke von über 50 Abgeordneten in den Bundestag gewählte Partei sei sich der Verpflichtung gewiss, die man übernommen habe und deren Erfolg nicht zuletzt den vielen Gewerkschaftern (Wahlaufruf der 2.000) zu verdanken sei, betonte Katja Kipping, stellvertretende Vorsitzende der Linkspartei.PDS, auf dem Eröffnungspodium. Es sei schließlich auch bei der Opel-Auseinandersetzung deutlich geworden, dass mit der neoliberalen Hegemonie, der erpresserischen Standortpolitik der Konzerne und dem Ausspielen von Belegschaften selbst innerhalb eines Konzern es dringend erforderlich sei, über den „nationalstaatlichen Tellerrand“ hinauszudenken und entsprechend international abgestimmt zu handeln. Auf der Konferenz werde dies auch durch die Anwesenheit von und Diskussion mit linken Gewerkschaftern und Politikern aus Frankreich, Italien, Holland und Österreich unterstrichen. Sarah Wagenknecht, Europaabgeordnete, unterstrich die Notwendigkeit gemeinsamen europäischen Handelns am Beispiel der Bolkestein-Richtlinie, die entgegen mancher Wahrnehmung keineswegs vom Tisch sei und in Kürze wieder energisches und gemeinsames Vorgehen insbesondere der Gewerkschaften bitter nötig mache. Über Erfahrungen aus sozialen Bewegungen ihrer Länder berichteten Rene Roovers (Niederlande), der über die Bewegung gegen die Rentenpläne der Balkenende-Regierung sprach, und Louis Mazui vom Exekutivkomitee der FKP, der den erfolgreichen Kampf gegen den neoliberalen europäischen Verfassungsentwurf in Frankreich schilderte.

Bei der Eröffnung des Samstag-Plenums verband Gerald Kemski, einer der Bundessprecher der AG, die Begrüßung der internationalen Gäste und besonders der anwesenden Mitglieder der WASG mit der Bemerkung, dass gerade die Gewerkschafter in der Linkspartei beim Prozess des Zusammengehens von PDS und WASG eine vorwärtstreibende Rolle spielen wollten und spielten. Harald Werner, Gewerkschaftspolitischer Sprecher der Linkspartei, ging in seinem Referat u.a. auf die Geschichte des Neoliberalismus im Nachkriegs-Deutschland ein und verwies darauf, dass mit dem Mitte der siebziger Jahren neu einsetzenden Krisenprozess das Ende der „Ära des fordistischen Sozialstaatskompromisses“ sukzessive besiegelt wurde. Nicht durch Partizipation und Kompromiss, sondern durch Globalisierung und Sozialabbau sollten die Kapitalverwertungsbedingungen im Exportland BRD verbessert werden; der Neoliberalismus (in einer gegenüber Thatcher und Reagan abgemilderten Form) wurde zum vorherrschenden Politiktyp in der BRD, wobei die von der Bundesregierung forcierte Einführung des Euro und die Maastricht-Agenda zu einer beschleunigten Senkung des Lohnniveaus bzw. der Lohnquote in der Bundesrepublik entscheidend beitrugen. Doch sei diese Politik gescheitert, die Wachstumskrise nicht überwunden. Hartz IV und die Agenda 2010 seien nichts anderes als der untaugliche Versuch, diese gescheiterte Politik mit den Mitteln des Zwangs und des sozialen Drucks zu retten. Dafür hätten bei der Bundestagswahl sowohl Schröder als auch Merkel die passende Quittung erhalten. Abschließend regte Harald Werner an, die Versuche des globalen und europäischen Niederkonkurrierens (Osteuropa!) mit Beispielen europäischer Aktionen und Kooperation der Lohnabhängigen zu kontern, die den sozialen und gewerkschaftlichen Kämpfen neuen Aufschwung verleihen könnten. Verwiesen wurde u.a. auf die 35-Stunden-Woche in Frankreich, den Flächentarif in Österreich, die Errungenschaften der Arbeitslosenversicherung in Dänemark.

In einem mit großer Aufmerksamkeit aufgenommenen Vortrag entwickelte Frank Deppe Überlegungen zum zyklischen Charakter und Verlauf des politischen Prozesses in der Bundesrepublik und Europa. So sei etwa seit Mitte der neunziger Jahre der Höhepunkt der neoliberalen Herrschaft überschritten. Mit dem Anschwellen von Konflikten und Streiks sei auch in der sozialwissenschaftlichen Literatur wieder ein neues Interesse an der Arbeiterbewegung erwacht. Dies bedeute aber nicht, dass der gewerkschaftliche Organisationsgrad in den europäischen Ländern durchweg angestiegen sei, im Gegenteil. Einzig im Öffentlichen Dienst könne eine Zunahme des Organisationsgrades festgestellt werden, was zweifellos seine Ursache darin habe, dass dieser soziale Sektor zu einem entscheidenden Operationsfeld neoliberaler Privatisierung, Flexibilisierung und Kommodifizierung geworden sei. Mit dem Entstehen einer „neuen europäischen Ökonomie“ entstünde gleichzeitig auch ein neuer Typ von Politik („soft politics“), der stärker auf den „stummen Zwang der (Markt- und Konkurrenz-)Verhältnisse“ setze als auf bürokratisch-administratives Handeln, was am Beispiel des so genannten „Bologna-Prozesses“ deutlich werde (europäischer Anpassungsdruck auf Universitäten durch Bachelor und Master-Abschlüsse). Der Staat, so Deppe, ziehe sich nicht zurück, sondern verändere seine Rolle, vor allem durch den Ausbau seiner Repressivfunktion als Reaktion auf die (neuen) Verwerfungen eines enthemmten und seiner sozialstaatlichen Zügelung immer mehr entledigten Kapitalismus.

Welche Tendenzen sind in der europäischen Gewerkschaftsbewegung erkennbar? Frank Deppe sieht 1. eine verstärkte Anpassung ehemals kämpferischer Gewerkschaften (wie der CGT), 2. eine stärkere Verbetrieblichung gewerkschaftlicher Arbeit und 3. eine zunehmende Entfremdung zwischen den (Arbeiter-)Parteien und Gewerkschaften. In Italien seien die großen „Bastionen des Norden“ wie Fiat fast vollständig geschliffen, die Mitgliederbasis in den Großbetrieben gehe merklich zurück. Andererseits wachse die Mitgliederbasis in Bereichen, bei denen man das kaum für möglich gehalten habe: bei (Schein-)Selbständigen, prekär Beschäftigten und in kleinen Betrieben. In England hätten sich unter Blair interessante politische Entwicklungen vollzogen. Linke Führungen konnten sich durchsetzen; mit dem Aufschwung sozialer Auseinandersetzungen hätte die englischen Gewerkschaften einen Zuwachs von 600.000 neuen Mitgliedern zu verzeichnen. Belgien stand still beim Generalstreik gegen die Rentenpläne der Regierung, in Holland kamen über 400.000 Menschen gegen die neoliberale Balkenende-Politik in Bewegung. Insgesamt sei ein Ansteigen der Kampfbereitschaft bei stagnierender bzw. sinkender gewerkschaftlicher Mitgliederbasis zu konstatieren.

Unter diesen Bedingungen muss, so Deppe, um eine stärkere Koordinierung europäischer Sozial- und Gewerkschaftsbewegungen und, bei Berücksichtigung jeweils unterschiedlicher Bedingungen, ein stärkeres Zusammengehen im Kampf gegen den Sozialabbau, gegen die Massenarbeitslosigkeit und die neoliberale Steuerpolitik gerungen werden. Ganz im Gegensatz zu Hubertus Schmoldt, der in der Linkspartei eine „Gefährdung der Einheitsgewerkschaft“ sieht, definierte der Referent die politische Rolle der Linkspartei als eine „Scharnierfunktion“ zwischen Arbeiterbewegung und Intelligenz und zwischen der außerparlamentarischen Bewegung und dem Agieren der Parlamentsfraktion. Den in der Fraktion vertretenen Gewerkschaftern komme hierbei eine große Bedeutung zu.

Der Samstag Nachmittag gab Raum für die Arbeit von fünf Foren mit folgenden Themen: 1. Soziale Daseinsvorsorge auf dem Weg zur Börse? 2. Gesetzlicher Mindestlohn oder Tarifvertrag – wie ist das Lohndumping zu stoppen? 3. Grenzenloser Wettbewerb – begrenzte Solidarität? Sind „global unions“ ein Ausweg? 4. Arbeitszeitpolitik im Krebsgang – sind kürzere Arbeitszeiten noch durchsetzbar? 5. Ausbildung muss fit machen. Wie aus den einzelnen Foren berichtet wurde, gab es eine durchweg gute Beteiligung und lebhafte Diskussionen. Die Ergebnisse der Tagung und vorgestellten Beiträge zu internationalen Erfahrungen sollen ev. in einem Protokollband einem breiteren Interessentenkreis zugänglich gemacht werden.