Editorial

September 2023

Die seit der Weltwirtschafts- und Finanz-Krise 2008 virulent gewordenen Kräfteverschiebungen in den internationalen ökonomischen wie politischen Beziehungen haben die Gefahr auch militärisch-gewaltförmiger Konfrontationen zwischen den globalen Hauptmächten und Bündniskonstellationen massiv anwachsen lassen. Der Ukraine-Krieg ist nur eines der Felder, auf dem sich die der kapitalistischen Formation innewohnenden und durch die ungleiche Entwicklung der einzelnen imperialistischen Länder aufgestauten Aggressionspotenziale entladen (vgl. Z 130 »Weltordnungskrieg« und Z 134 »Wessen Weltordnung? Globale Kräfteverschiebungen«). Die Warnung des französischen Sozialisten Jean Jaurès – »immer trägt eure gewalttätige und chaotische Gesellschaft – selbst wenn sie Frieden will, selbst wenn sie scheinbar in Ruhe ist – in sich den Krieg«, ist, so die bittere Wahrheit, auch heute unmittelbar aktuell. Dies erfordert für marxistische Gesellschaftsanalyse auch einen erneuten Blick auf die Dynamik der Rüstungswirtschaft und des politisch-militärisch-industriellen Komplexes. Wir knüpfen damit auch an das vor zehn Jahren erschienene Heft 94 (Juni 2013) »Krieg und Rüstung« an. Im vorliegenden Heft stehen Rüstungspolitik und militärisch-industrieller Komplex im Kontext der transatlantischen Beziehungen EU-USA im Mittelpunkt. Die Fachbeiträge kommen von Expert:innen aus den USA, Frankreich und der Bundesrepublik.
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Claude Serfati dokumentiert die »zunehmende Militarisierung der Europäischen Union« seit Mitte der 2010er Jahre anhand der Entwicklung der Militärausgaben und des Bedeutungszuwachses der Kommission in Rüstungsfragen. Der Ukraine-Krieg hat dieser Entwicklung einen weiteren Schub gegeben. Serfati gibt einen Überblick zur Konzentration der von einer Handvoll großer internationaler Konzerne kontrollierten Rüstungsindustrie. Er charakterisiert diese Konzerne als »Finanzkonzerne mit industrieller Spezialisierung«, deren Renditeerwartung besser ist als die der Industriekonzerne insgesamt. Serfati diskutiert den Zusammenhang zwischen Wirtschaftsimperialismus der EU und ihren militärischen Fähigkeiten und konstatiert, dass diese für die NATO und USA unverzichtbar sind. Die »euroatlantische Achse« beruhe auf dem »soliden Dreifuß« von wirtschaftlicher Verflechtung, Militärbündnis und »Wertegemeinschaft«.
James M. Cypher charakterisiert den politisch-militärisch-industriellen Komplex
in den USA als »eisernes Dreieck« mit den Seiten Rüstungswirtschaft, Militär/Nachrichtendienste/private Söldner-Sicherheitsdienste und »ziviler nationaler Sicherheitsstaat«. In den USA nach 1945 sieht er bis Anfang der 2000er Jahre die Dominanz eines »militärischen Keynesianismus«, der dann – »Variantenwechsel« – von einem »globalen neoliberalen Militarismus« als bestimmender institutionell-ideologischer Konfiguration abgelöst worden sei. Beide Varianten seien verflochten mit dem »Militarismus der Konzerne«. Ausführlich behandelt er die Interaktion von Staat und Konzernen anhand diverser Rüstungsprojekte. Auch er konstatiert deutlich höhere Nettogewinne der Rüstungswirtschaft gegenüber dem zivilen Sektor. Die aktuelle Entwicklung ist, so Cypher, von zwei Faktoren geprägt: der überragenden Bedeutung der digitalen Elektronik für die Rüstung und der Konfrontation mit dem aufstrebenden China.
Einem auch für die Friedensbewegung wichtigen Spezialproblem wendet sich
Peter Wahl zu: Wie können und sollen die Rüstungsausgaben der einzelnen Länder gemessen und verglichen werden? Ihr Ranking hängt davon ab, ob man den Wechselkurs zum Dollar oder die Kaufkraftparität der Landeswährungen zur Grundlage nimmt. Je nach Methode sehen die ökonomischen Kräfteverhältnisse in der Welt sehr unterschiedlich aus. Wahl diskutiert Vor- und Nachteile beider Verfahren.
Aspekte der Beziehungen von EU und USA stehen im Mittelpunkt der Beiträge
von Jürgen Wagner und Özlem Alev Demirel. Wagner sieht, wie Cypher, als heute bestimmenden global- und rüstungspolitischen Konflikt die Auseinandersetzung zwischen »neoliberalem Westen und staatskapitalistischen Herausforderern«, insbesondere China. Weder die USA, noch gar die EU, seien in der Lage, diesem Konflikt allein zu begegnen. Wagner verfolgt anhand der wesentlichen rüstungspolitischen Initiativen die strategischen Debatten zum EU-USA-Verhältnis unter den drei Stichworten »Gefolgschaft«, »Rückversicherung« und »Emanzipation«. In der EU dürfte sich, so seine These, die bundesdeutsche Position einer gemeinsamen Verteidigung der »liberalen Weltordnung« mit den USA gegenüber Tendenzen zu einer stärkeren Orientierung auf Eigenständigkeit durchsetzen. Özlem A. Demirel hebt Zentrifugaltendenzen und Binnenkonflikte in der EU hervor: Der Einmarsch Russlands in die Ukraine hat ein politisches und militärstrategisches Zusammenrücken von USA und EU bewirkt. Die EU erhebt in ihrer EU-Globalstrategie aber auch den Anspruch, eigenständig strategisch handlungsfähig zu sein. Dazu investiert sie enorme Energien und Mittel in den Ausbau eines europäischen Rüstungskomplexes. Frankreich und Deutschland erheben Führungsansprüche, geraten dabei aber in Konflikt mit anderen EU-Staaten, vor allem mit Polen. Demirel erwartet, dass sich die Zentrifugaltendenzen in der EU weiter verstärken, während zugleich auch die Konkurrenzsituation zwischen EU und USA weiter bestehen bleibt. Entwickelt sich heute ein »digitaler MIK«? Christoph Marischka zeigt, dass anders als in den USA, wo die Entwicklung der Digitalwirtschaft von Anfang an unter dem Einfluss des MIK stand, in der Bundesrepublik – trotz einzelner militärischer Aufträge – zunächst andere industriepolitische Kräfte bedeutsam waren. Zunehmend, so Marischka, lässt sich die gegenseitige Durchdringung von Wissenschaft, Digitalwirtschaft und Militär auch hierzulande beobachten. Vorstellungen von einer digitalen Souveränität erweisen sich dabei weitgehend als Illusion, da die Digitalwirtschaft Europas selbst in zunehmende Abhängigkeit vom US-amerikanischen MIK tritt.

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Online-Diskussion zu diesem Heft ist für Anfang Oktober auf dem YouTube-Kanal von 99zueins geplant; Vorankündigung / Zugang sh. unsere Social-Media-Auftritte und https://www.youtube.com/c/99ZUEINS
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1923: Das Schicksal der Thüringer Arbeiterregierung aus Sozialdemokraten und Kommunisten im Krisenjahr 1923 untersucht Mario Hesselbarth. Er zeigt sozialdemokratische Intentionen zur »Erziehung« der Kommunisten wie deren Vorantreiben einer erhofften Revolution. Der Eingriff der Reichsregierung sorgte für die Beendigung des Ringens für linke Realpolitik zugunsten einer rechtskonservativen Entwicklung. Im gleichen Jahr 1923 erschien »Geschichte und Klassenbewusstsein« von Georg Lukács. Daniel Göchts kritische Neulektüre berücksichtigt Lukács‘ eigene Kritik an seinem Frühwerk. Zugleich arbeitet er heraus, dass Lukács‘ Kritik an Verfremdung und Verdinglichung ein bleibendes, aktuelles Element marxistischer Kapitalismuskritik ist.
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Marx-Engels-Forschung: Neuausgaben der MEW erhalten neben einer an der MEGA orientierten Textüberprüfung auch neue Vorworte, die jene aus den 1950er und 1960er Jahren ersetzen. Winfried Schwarz kommentiert das neue Vorwort von Ingo Stützle zu MEW 21 und fragt, wie zeitgebundene Gelegenheitsarbeiten wie der »Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates« zu »Referenzwerken« des Marxismus werden konnten.
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Weitere Beiträge: Siegfried Prokop zeichnet sowjetische Kursschwankungen nach dem Tod Stalins und vage Hoffnungen auf eine Entspannungspolitik im Jahre 1953 nach. Er nennt Indizien, dass solche Versuche Moskaus und insbesondere des Geheimdienstchefs Berija verantwortlich für die Krisentage im Juni 1953 sein könnten. Gerhard Weiß erinnert anhand neuerer Publikationen, u. a. des damaligen US-Außenministers Henry Kissinger, an den Krieg der USA gegen das sozialistische Vietnam und an den Befreiungskampf im Süden des Landes. Im Focus stehen Dauer und Kompliziertheit des letztlich erfolgreichen Verhandlungsprozesses zwischen Vietnamesen und den USA. 1973 wurde der Friedensvertrag in Paris unterzeichnet, Vietnam siegte 1975. Ulrich Brinkmann vertritt im zweiten Teil seines sich auf Betriebsbefragungen stützenden Beitrags zum »halben Fordismus« der DDR die These, dass der Verschleiß von ökonomischen und ideologischen Ressourcen wachsende Unzufriedenheit auslöste, was angesichts fehlender systemimmanenter Alternativen den politischen Zusammenbruch der DDR begünstigte. In seinen fortlaufenden Untersuchungen zur Sozialstrukturentwicklung der BRD gibt André Leisewitz in diesem Heft eine Übersicht zu Veränderungen der Tätigkeits- und Berufsstrukturen in den letzten 25 Jahren. Thomas Metscher interpretiert – gegen traditionelle vereinseitigende Rezeptionen – in einem Resümee zu einer anstehenden Buchpublikation Goethes »Faust« als paradigmatisches Beispiel einer dialektischen Dichtung, die den Widerspruch als Konstruktionsprinzip enthält und gerade darin auf ästhetische Welterkenntnis gerichtet ist.
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Aus der Redaktion: Herzlich zu danken ist Frank Walensky, der mit energischem Einsatz der Redaktion bei der Umstellung auf ein neues Layoutprogramm und der Überarbeitung des Layouts der Zeitschrift auf die Sprünge geholfen hat. Unbeschadet dessen gehen etwaige im Heft noch vorkommende Ungenauigkeiten zu Lasten der Redaktion. Heft 136 (Dezember 2023) wird in Aufnahme der Vorträge und Diskussionen bei der »Marxistischen Studienwoche« im August dieses Jahres Aspekte der aktuellen Multi-Krise behandeln.