Es sind zwei Themen, die die aktuellen politischen Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit in hohem Maße bestimmen: Einmal der Krieg in der Ukraine und die zunehmenden internationalen Spannungen; dann die Inflation und die Angst vor wachsenden sozialen Belastungen im Herbst und Winter, für die der gegenwärtig zu beobachtende Einbruch der (inflationsbereinigten) Einzelhandelsumsätze ein deutlicher Indikator ist. Diese Themen werden in der Öffentlichkeit medial vermittelt verhandelt. Wie funktioniert diese Öffentlichkeit heute, wer bestimmt, wie die Themen verhandelt werden, welche Chancen haben soziale Bewegungen und Linke, sich dabei Gehör und Kommunikationsräume zu verschaffen? Das sind Fragestellungen des Schwerpunkts „Öffentlichkeit – Medien – Krieg“, aber auch, auf andere Weise, des zweiten Themenbereichs „Verteilungsfrage und gewerkschaftliche Kämpfe“, in dem es um Herrschaftsideologie („Lohn-Preis-Spirale“) und um soziale Bewegungen (Streikentwicklung 2021) geht. In der Kommentar-Spalte unterstreicht Frank Deppe die Aufgaben, vor die die sozialistische Linke jetzt gestellt ist – Entwicklung einer wirkungsvollen Antikriegs- und Antikrisenpolitik; Ulrike Obermayr verweist auf anstehende gewerkschaftliche Kämpfe, Gerd Wiegel zeigt, wie die politische Rechte die wachsenden sozialen Belastungen instrumentalisieren will.
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Öffentlichkeit, Medien, Politik: In den gegenwärtigen Krisen- und Kriegszeiten nehmen die gesellschaftlichen Konfliktpotenziale zu; in den dominanten Medien scheint sich dagegen, ungeachtet aller Pluralität, eine herrschende Interpretationslinie der außen- und innenpolitischen Lage mehr oder weniger unisono durchzusetzen. Das verlangt nach Aufklärung und konkreter Analyse. Michael Zander befasst sich mit dem vor 60 Jahren erschienenen Band über den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ von Jürgen Habermas sowie mit einem diesem „Klassiker“ gewidmeten Sonderband des Leviathan aus dem vergangenen Jahr, in dem Habermas mit einer Aktualisierung seiner Thesen vertreten ist. Während Habermas heute den „revolutionären Charakter der neuen Medien“ betont, ist für ihn eine demokratisch-sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft, wie sie ihm Anfang der 1960er Jahre vorschwebte, nicht mehr denkbar. Gert Hautsch skizziert die Eigentumsverhältnisse innerhalb der sich zunehmend internationalisierenden deutschen Medienlandschaft. Obwohl die Branche insgesamt einen Umsatzrückgang zu verzeichnen hat, können die heimischen Spitzenreiter wachsende Gewinne einstreichen und sich gegen die GAFA-Konzerne (Google, Amazon, Facebook, Apple) in Stellung bringen. Die zunehmende Bedeutung digitaler Medien für linke Gegenöffentlichkeit zeigt Fabian Nehring am Beispiel des YouTube-Kanals 99zueins. Die Zeitbudgets für die Rezeption von Nachrichten, Kommentaren, Stellungnahmen usw. werden verstärkt für digitale Medien und weniger für Printmedien aufgewendet. Dieser Umstand macht es für die Linke notwendig, ihre gedruckten Publikationen durch inhaltlich und ästhetisch anspruchsvoll gestaltete Videos und Podcasts zu ergänzen. In diesen Kontext gehört auch der Bericht von Nils Schniederjann über„linken Medienaktivismus im Plattformkapitalismus“ (S. 184f.). David Goeßmann zeichnet nach, wie deutsche „Leitmedien“ einst Stimmung machten gegen sozialökologische Transformationsprogramme und wie sie heute die mittlerweile fühlbar gewordene Klimakrise nicht als akute, existenzielle Gefahr darstellen, sondern als ein Thema unter anderen behandeln. Diesen Trend führt Goeßmann unter anderem auf die Hierarchien und Konformitätszwänge innerhalb des Journalismus zurück. Die oft vereinseitigende und parteiische Kommentierung und Berichterstattung zum Ukrainekrieg kritisiert Sabine Kebir. Zu ihrem Befund gehört, dass Kontext und Vorgeschichte des Krieges zumeist ausgeklammert werden, u.a. die NATO-Expansion, der auch innerukrainische Konflikt ab 2013/14 und das Minsker Abkommen. Gerd Wiegel geht der Frage nach, warum Politik und Medien behaupten, Russland sei „faschistisch“, führe in der Ukraine einen „Vernichtungskrieg“ und begehe einen „Völkermord“, Untaten, die einst Deutsche in der Sowjetunion begingen. Es geht dabei, so Wiegel, um Schuldübertragung und nicht mehr um direkte Schuldabwehr, „nicht in erster Linie um die Entsorgung deutscher Vergangenheit, sondern um deren (moralische) Nutzbarmachung für aktuelle Politik.“ Anna Rebel schildert Eindrücke aus Russland, aus denen sich ergibt, das Teile der dortigen Bevölkerung keineswegs auf offizielle Medien vertrauen, sondern – „jenseits der Kreml-Propaganda“ – ukrainische Blogs, alternative Social-Media-Kanäle und ausländische Medien rezipieren. David Salomon bezieht Walter Benjamins Konzept einer „Ästhetisierung der Politik“ auf die öffentliche Inszenierung des Ukraine-Krieges. Er arbeitet heraus, wie mittels ästhetischer Effekte abstrakte Kollektive konstruiert und politische Kontroversen unterbunden werden. Als Ausgangspunkt dient ihm dabei das Erscheinungsbild des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyi.
Online-Diskussion zu diesem Heft am Sonntag, den 11.09 2022, 20 Uhr, YouTube-Kanal von 99zueins mit Sabine Kebir, Michael Zander und Nadim von 99zueins.
Vorankündigung / Zugang sh. unsere Social-Media-Auftritte und https://www.youtube.com/c/99ZUEINS
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Verteilungsfrage und gewerkschaftliche Kämpfe: Zusammen mit der Inflation ist in Wissenschaft, Öffentlichkeit und Medien auch das Märchen von der Lohn-Preis-Spirale zurück. Klaus Müller zeigt, dass der unterstellte Zusammenhang zwischen Löhnen und Preisen weder empirisch noch theoretisch fundiert ist: Zweck ist die Heiligsprechung des Profits, der als unantastbar gilt. Die Propagierung dieses Zusammenhangs zielt auf die anstehenden Tarifauseinandersetzungen. Schon im letzten Jahr war – nach dem unter dem Eindruck der Corona-Pandemie konfliktarmen Jahr 2020 – eine deutliche Zunahme der Arbeitskämpfe zu verzeichnen gewesen. Das zeigt der von Sebastian Liegl und Juri Kilroy erarbeitete „Streikmonitor“ für 2021. Die großen Flächentarifkonflikte – in der Metall- und Elektroindustrie und im Öffentlichen Dienst – fanden noch unter den durch Corona erschwerten Bedingungen statt. Anders als in den Vorjahren lag der Schwerpunkt des Streikgeschehens diesmal nicht mehr im Dienstleistungssektor, sondern im verarbeitenden Gewerbe. Dort standen defensive Konflikte um Stellenabbau und Standortschließungen im Zentrum. Daneben gab es harte Konflikte in den als „systemrelevant“ geltenden oder von der Pandemie besonders in Mitleidenschaft gezogenen Bereichen. Dass Arbeitskonflikte und -kämpfe in transnationalen Konzernen in den einzelnen Ländern unter jeweils ganz unterschiedlichen Kräfteverhältnissen stattfinden, zeigt Klaus Dörre am Beispiel des Coca-Cola-Konzerns. Dabei kommt es – in der Öffentlichkeit wenig beachtet – zu einer lebendigen internationalen Solidarität (Tagungsbericht von Alexander Wagner).
Weitere Beiträge: Der Ausgang der französischen Präsidentschafts- und Parlamentswahlen belegt die schwindende Legitimität und den Kontrollverlust der politischen Institutionen. In diesem Rahmen, so die Analyse von Peter Wahl, ist eine weitere Rechtsentwicklung zu konstatieren. Allerdings zeigt der relative Erfolg des Linksbündnisses unter Führung des ‚unbeugsamen Frankreich‘, dass der Niedergang der politischen Linken in Europa kein Naturgesetz ist. Den erhofften Aufbruch hat der Parteitag der LINKEN Ende Juni in Erfurt nicht gebracht. Aber es wurde, wie Jürgen Reusch konstatiert, ein gewisser Aufschub erreicht. Der Partei fehlt nach wie vor ein integrierendes Zentrum, das die in Grabenkämpfe verstrickten Strömungen unter einem für alle akzeptablen Grundkonsens zusammenführen könnte. Die neugewählte Führung unterstrich, die LINKE müsse mehr sein als ein soziales Korrektiv. Sie wird den entscheidenden Test für ihre politische Handlungsfähigkeit in den für den Herbst/Winter zu erwartenden Kämpfen und Konflikten erst noch bestehen müssen. Dabei kommt es, so Reusch, auf die Entwicklung einer glaubwürdigen und handlungsorientierenden Antikriegs- und Friedenspolitik und einer sozialen und ökologischen, über den Kapitalismus hinausweisenden sozialistischen Perspektive an. Uwe Hirschfeld greift in seinem Artikel Gramscis Theorie des Alltagsverstands auf und zeichnet nach, dass sie ein in der materialistischen Staatstheorie häufig unterschätztes, wesentliches Element des Konzepts der Zivilgesellschaft ist. Er illustriert dies am Beispiel bürgerlicher Geschichtsarbeit. Über die politisch-publizistischen Aktivitäten von Richard Sorge im Bergischen Land in den Jahren 1920 bis 1922 berichtet Jörg Becker. Günter Benser stellt eine neue Studie zur DDR-Entwicklung der Ulbricht-Zeit vor.
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Marx-Engels-Forschung: Dieter Wolf wirft in der Debatte um die Marxsche Werttheorie den Autoren Lietz und Schwarz (Z 125, 126, 130) vor, die einfache mit der kapitalistischen Warenzirkulation zu vermischen. Die mit der einfachen Warenzirkulation vorgenommene Erklärung der einfachen gesellschaftlichen Formen würde von ihnen mit der Entscheidung verwechselt, ob sie zuerst in der kapitalistischen Produktion entstehen oder zuerst und ausschließlich in der kapitalistischen Warenzirkulation.
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Aus der Redaktion: Herausgeber und Redaktion freuen sich, mitteilen zu können, dass Nicole Mayer-Ahuja (Göttingen)und Uli Brinkmann (Darmstadt) neu in den Beirat der Zeitschrift eingetreten sind. Ebenso erfreulich, dass Jule Kettelhoit (Frankfurt/M.) neu in der Redaktion mitmacht. Z 132 (Dezember 2022) wird im Schwerpunkt Beiträge zum Lohnabhängigen- und Klassenbewusstsein heute bringen.