Am 19. August jährte sich der Todestag von Heinz Jung zum 25. Mal. Er hat diese Zeitschrift ins Leben gerufen. Wir widmen ihm dieses Heft. Heinz Jung hatte in den 1970er Jahren den Übergang von der keynesianisch-wohlfahrtsstaatlichen zur neoliberalen Entwicklungsphase als Formwandel des Staatsmonopolistischen Ka-pitalismus charakterisiert: Der Staat bleibe weiter integraler Bestandteil des kapi-talistischen Reproduktionsprozesses, verändere aber seine Interventions- und Wir-kungsweise (vgl. den Auszug aus einer Studie von Heinz Jung von 1978 auf den Seiten 179ff. in dieser Ausgabe). Dieses Konzept des Variantenwechsels kann auch heute fruchtbar gemacht werden.
Die Weltwirtschafts- und Finanzkrise 2008/2009 hatte einen konjunkturellen Zyklus der kapitalistischen Weltwirtschaft eingeleitet, der schon 2019 abflaute und durch die Corona-Krise beeinflusst wurde. In diesen zwölf Jahren zwischen 2008 und 2020 wurde die Wirtschaft der entwickelten kapitalistischen Länder zweimal nur dank massiver staatlicher Programme vor einem Kollaps gerettet. Die Behauptung, markt- und privatwirtschaftliche Prozesse sicherten Wohlstand und Freiheit, hat sich vor der Wirklichkeit blamiert. Heute stellt sich die Frage, ob die mit labilen Finanzmärkten, wachsender Ungleichheit und durch das kapi-talistische Naturverhältnis bedingten Katastrophen verbundene neoliberale Ent-wicklungsphase ihrem Ende zugeht, ob sich neue Formen der staatlich vermit-telten Regulierung des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses abzeichnen. Zugespitzt könnte gefragt werden: Steht, wie in der Vergangenheit seit Mitte der 1970er Jahre, ein erneuter Variantenwechsel im System der staatlich-monopolistischen Regulierung an, der sich jetzt entgegen den neoliberalen Doktrinen und unter dem Druck von Anpassungszwängen im Rahmen der inter-nationalen kapitalistischen Konkurrenz, von Digitalisierung und Dekarbonisie-rung in Richtung einer Variante mit intensiverer Staatstätigkeit entwickelt? Das ist die leitende Frage für den Schwerpunkt dieses Heftes, das im Vorfeld der Bundestagswahlen auch die Gelegenheit gibt, einen Blick auf die diesbezügli-chen programmatischen Positionen der verschiedenen politischen Fraktionen und die Verschiebungen im (partei-)politischen Spektrum der Bundesrepublik zu werfen.
Einen Überblick über die Entwicklung im letzten Zyklus zwischen der Finanz-marktkrise 2008 und der Corona-Krise 2020 gibt Jörg Goldberg. Massive finanz- und geldpolitische Eingriffe verhinderten nach 2008/2009 das Abgleiten in eine längere Rezession. Damit wurden die in der neoliberalen Entwicklungsphase ent-standenen strukturellen Widersprüche, die die tiefste Krise der Nachkriegszeit verursacht hatten, aber lediglich überdeckt und verschleppt. Katharina Schramm untersucht die wichtigsten wirtschaftspolitischen Felder, die Fiskalpolitik, die In-dustriepolitik und die Geldpolitik und skizziert die Veränderungen, die sich dort vollzogen haben. Form und Umfang der direkten staatlichen Eingriffe hätten sich erheblich verändert und ausgeweitet. Ob dies einen „Bruch mit dem Neoliberalis-mus“ darstellt, könne, so ihr Fazit, derzeit noch nicht entschieden werden. Könn-ten die Bundestagswahlen einen wirtschafts- und finanzpolitischen Richtungswechsel bringen, fragt Michael Schwan und untersucht zu diesem Zweck pro-grammatische Aussagen der Bundestagsparteien. Dies sei denkbar, wenn die GRÜNEN – entsprechende Mehrheiten vorausgesetzt – ihren „ideologischen Spa-gat“ überwinden würden. Peter Wahl behandelt vor dem Hintergrund der mit der Dekarbonisierung als „strukturbildendem Vektor“ verbundenen Umbrüche einige für das deutsche Kapital besonders heikle Probleme. So muss die außenwirtschaft-liche Abhängigkeit von China mit der anti-chinesischen „Lagerdisziplin“ des Westens und speziell der EU in Einklang gebracht werden. Dies könnte Deutsch-lands Rolle als europäische Führungsmacht gefährden.
André Leisewitz und John Lütten zeigen, dass die letzten zwölf Jahre durch einen deutlichen Anstieg der Erwerbstätigkeit bei gleichzeitiger sozialer Polarisierung und Verfestigung von Tendenzen der Prekarisierung geprägt waren. Der industri-elle Sektor und der Gesamtbereich der materiellen Produktion blieben zwar in ab-soluten Zahlen relativ stabil; angesichts der Expansion privater wie staatlicher Dienstleistungssektoren haben sie aber weiter relativ an Gewicht verloren. Glaubt man dem Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung von 2021, so hat sich die Kluft zwischen arm und reich in den letzten Jahren leicht abgeschwächt. Christoph Butterwegge, der prominenteste Armutsforscher der Bundesrepublik, bezweifelt das. Angesichts der von ihm konstatierten methodischen Mängel ten-diere der Bericht dazu, die Ungleichheit insbesondere der Vermögensverteilung zu verschleiern. Maurice Laßhof geht von der These aus, dass die Entwicklung der jungen Generation als Vorgriff auf zukünftige Trends verstanden werden kann. Er diskutiert die Einstellungen, politischen Orientierungen, Ängste der „pragmati-schen Krisen-Generation“ sowie deren Bezug zum „Leistungsversprechen“. Anhand eigener empirischer Daten zeigt er, dass trotz vieler Gemeinsamkeiten die junge Generation mitnichten als homogen zu begreifen ist. Veränderungen im po-litischen System, in den Parteien und in den politischen Orientierungen in den letzten zwanzig Jahren thematisiert Janis Ehling. Neben sozialstrukturellen und generationellen Veränderungen hebt er besonders die kulturelle politische „Libe-ralisierung“ des herrschenden Blocks hervor. Die Schnittmenge der Mitte (CDU/CSU, SPD, Grüne) ist groß. Die Linke als Partei der Jungen und Rentner sieht er in einer schwierigen Phase der Positionierung zwischen „Liberalisierung und rechter Gegenreaktion“ als dominierenden Strömungen in der Gesellschaft.
Eine Online-Heftpräsentation zum Schwerpunkt dieses Heftes wird Mitte September stattfinden. Alle Informationen finden sich auf der Z-Homepage und in unseren Social-Media-Auftritten.
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Corona-Krise: Anna Weber stellt eine Studie der NGO PublicEye zu Strategien der Profitmaximierung der Pharmaindustrie vor. Es braucht, so das Fazit der Autorin, einen grundsätzlichen Wandel der gesellschaftlichen Organisation der kapitalistischen Forschung, Entwicklung und Produktion von Pharmaprodukten, die Wissen allgemein verfügbar macht, statt es zu privatisieren (Patentrechte).
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Marx-Engels-Forschung: In seinen „modifizierenden Ergänzungen“ zum Beitrag von Lietz und Schwarz in Z 125/126 über den Wertbegriff bei Michael Heinrich pflichtet Stephan Krüger ihrer Kritik bei, dass die Wertgröße einer Ware nicht erst im Austausch, sondern durch die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit gebildet wird. Mit Blick auf den 3. Band des „Kapital“ gibt er aber zu bedenken, dass Marx für die Größenänderungen konkreter Wertkategorien wie Marktwert und Marktproduktionspreis rückwirkende Effekte der Nachfrage mitverantwortlich macht, die u.a. innerzyklischen Ausgleichsbewegungen zugrunde liegen.
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Weitere Beiträge: Frank Deppe hat diese Zeitschrift von Anfang an mit Rat, Tat und vielen Beiträgen begleitet und unterstützt. Da der Umstand so oder so be-kannt ist, dass er und seine politischen Freunde im September seinen 80. Ge-burtstag feiern werden, gratulieren wir vorab und bringen aus diesem Anlass ei-nen Auszug aus seinem neuesten, im September erscheinenden Buch, das der Geschichte und Zukunft des Sozialismus gewidmet ist (S. 131ff.).
Vladimiro Giacché konstatiert, dass mit der Krise ein Bedeutungsgewinn öffentli-cher Institutionen verbunden ist. Er untersucht dies am Beispiel der Zentralbanken und der EU-Institutionen, deren wachsende Rolle zur Durchsetzung „oligarchisch-technokratischer Entscheidungsmechanismen“ führe. Dagegen gelte es, die De-mokratie zu stärken, was nur im Rahmen der Nationalstaaten möglich sei. Holger Czitrich-Stahl und Rainer Holze geben einen Überblick zu aktuellen Publikatio-nen zum Arbeiterwiderstand gegen den Kapp-Lüttwitz-Putsch 1920 und zu den Märzkämpfen desselben Jahres. Sie ziehen dabei auch zahlreiche Regionalstudien heran. Die Massenbasis des Faschismus gehört zu den Wesensmerkmalen dieser Herrschaftsform und spielt in zahlreichen faschismustheoretischen Analysen eine wichtige Rolle. Dieter Boris rekapituliert den Stellenwert dieser Frage in unter-schiedlichen faschismustheoretischen Deutungen, fragt nach dem Verhältnis von Hegemonie und Gewalt im Faschismus, sowie nach den Gründen und der Her-kunft seiner Massengefolgschaft. Gegen nichtökonomische (psychologische) Er-klärungen von Entstehung und Funktion des Geldes argumentiert Klaus Müller, u.a. in Auseinandersetzung mit David Graeber. Außerökonomische Gelderklärun-gen mögen interessante Erkenntnisse liefern, es sei aber nicht möglich, Geld als Kategorie sinnvoll außerhalb der Warenproduktion zu erklären.
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In eigener Sache: Neben Frank Deppe (s.o.) geht unsere herzliche Gratulation auch an Hans-Jürgen Urban, der 60 geworden ist, und an Horst Schmitthenner, der seinen 80. Geburtstag feierte. Beide haben sich als Gewerkschafter große Verdienste erworben im Ringen um eine Erneuerung gewerkschaftlicher Strate-giefähigkeit und haben unserer Zeitschrift als Ratgeber und Autoren in diesem Kontext wichtige Impulse gegeben – was wir uns auch für die Zukunft erhoffen.
Z 126 (Kritik des Intersektionalismus) ist in 2. Auflage wieder lieferbar, Z 125 (Gesundheitssystem und Corona-Krise) ist vergriffen. Z 128 (Dezember 2021) wird verschiedene Aspekte aktueller Kapitalismuskritik behandeln und die Ausei-nandersetzung um Werttheorie und „neue Marx-Lektüre“ fortsetzen.