Probleme mit dem Klassenkampf-Begriff
Mit dem Thema „Probleme des Klassenkampfes – heute“ widmet sich die 200. Ausgabe der PROKLA dem Schwerpunkt, nach dem sie ursprünglich benannt wurde. Man nehme das Jubiläum zum Anlass, „die wissenschaftliche und politische Relevanz des Klassenkampf-Begriffs nochmal expliziter in Augenschein zu nehmen“ (406), heißt es im Editorial, das auch die bisherige Klassendiskussion des Heftes Revue passieren lässt. Die sechs Beiträge des Schwerpunkts behandeln historische, theoretische sowie aktuelle empirische Aspekte des Klassenkampf-Begriffs und sollen verschiedene soziale Konflikte auf ihren Klassengehalt hin befragen.
David Bebnowski, der über die frühe (Theorie-)Geschichte der PROKLA sowie der Zeitschrift Das Argument promoviert hat, gibt einen kurzen Rückblick auf die Frühgeschichte der PROKLA als publizistisches Projekt der „Neuen Linken“. 1971 im Konflikt aus der Zeitschrift Sozialistische Politik ausgegründet, wird ihre Position und Entwicklung als ‚undogmatische’ marxistische Zeitschrift beschrieben, die, anders als viele andere damaliger Organe, nicht auf die Linie einer bestimmten Organisation festgelegt war und sich in theoretischen Fragen – etwa in der berüchtigten „Staatsableitungsdebatte“ – insbesondere von marxistisch-leninistischen Gruppierungen und Parteien absetzte. Bebnowski attestiert der PROKLA eine starke Basisorientierung und eine ambitioniert begründete Position „jenseits der Pole Sozialdemokratie und Kommunismus“ – es sei „um die Suche und das Aufspüren spontaner antikapitalistischer Proteste der Arbeiterklasse, die durch die Theorie Rückendeckung erfahren sollte“ (423) gegangen. Dies schlug sich auch in einem verstärkten Interesse an gewerkschaftlichen Fragen nieder, wie Bebnowski auch zeigt – ein Themenfeld, dem die Zeitschrift ruhig wieder verstärkte Aufmerksamkeit schenken kann.
Einen theoretischen Beitrag zum Verständnis von Klassen und Klassenkampf steuert Alex Demirović bei. Gegen eine seiner Ansicht nach reduktionistische Lesart Marxscher Klassentheorie, die soziale Kämpfe außerhalb des Kapitalverhältnisses ansiedelt, argumentiert er, dass das Kapital mit Marx „von vornherein als ein soziales Verhältnis des Kampfes begriffen werden“ müsse (430). Mit Poulantzas betont er daher die „Performativität von Klasse“: Es gebe „nicht die Klassen in der Ökonomie als Ebene der Struktur, die dann auf der Ebene der Politik in ein Kampfverhältnis eintreten“ (ebd.), sondern Klassen befänden sich zu jedem Zeitpunkt im Kampf. Daher müssten alle Existenzformen der Klassen als spezifische Form des Klassenkamps begriffen werden. Dies impliziere, dass alle Kämpfe – auch solche um Diskriminierung, bürgerliche Rechte oder Ökologie – Klassenkämpfe seien, weil in ihnen die Verhältnisse verhandelt würden, in denen Klassenverhältnisse und -subjekte reproduziert werden. Diesen Gedanken führt er unter Bezug auf Adorno und Althusser aus und schließt mit dem Hinweis, unter „Klasse“ sei seit Marx jener „performative Akt“ zu begreifen, der auf die Überwindung von „durch Herrschaft konstruierten Antagonismen, Identitäten und Praktiken“ ziele (438). Gegenüber strukturalistischen Marx-Interpretationen, die man etwa im Lager der ‚Neuen Marx Lektüre’ findet, ist Demirovićs Hinweis auf den Konfliktcharakter des Klassenverhältnisses berechtigt. Die Bestimmung von ‚Klasse’ als zu jedem Zeitpunkt umkämpfter, performativer Kategorie beruht indes auf einem rein theoretischen Verständnis des permanenten Kampfes, der sie kennzeichnen soll. Ferner funktioniert der Ausweis nahezu aller sozialen Konflikte als ‚Klassenkampf’ nur, wenn der Klassenbegriff um das ihm zugrundeliegende Ausbeutungs- auf ein nicht näher bestimmtes Herrschaftsverhältnis verkürzt wird. Er wird so aber nicht gehaltvoller, sondern büßt an Erklärungskraft und analytischen Unterscheidungslinien zum Verständnis von Form und Inhalt unterschiedlicher sozialer Konflikte ein.
Markus Wissen widmet sich dem Verhältnis von „Klimakrise und Klassenkampf“. Er geht der Frage nach, warum Lohnarbeit und Natur zwar gleichermaßen vom Kapital verschlissen würden, diese „Gleichursprünglichkeit“ von ökologischen und Klassenkämpfen aber nicht zu der so dringend benötigten Koalition von Ökologie- und Arbeiterbewegung führe, sondern oft sogar zu politischer Feindschaft. Aus Sicht einer „Mittelschichts-Ökologie“ müsse das als Beharren auf Privilegien der (Industrie-)Arbeiterschaft erscheinen. Im Lichte einer „ökologisch sensibilisierten Regulationstheorie“ werde dies jedoch als „Nachwirkung vergangener Kämpfe um gute Arbeitsbedingungen, soziale Teilhabe und politische Rechte“ (453) begreifbar. Das entsprechende fordistische Konsummodell stelle aus Sicht der Arbeiterklasse tatsächlich eine Errungenschaft dar und begründe eine ganze Lebensweise. Wissen macht daher die Idee einer „sozial-ökologischen Gebrauchswertorientierung“ als gemeinsame Perspektive einer linken Transformationspolitik für Lohnabhängige und Ökologiebewegung gleichermaßen stark: Sie spreche „die Arbeiter*innen als Produzent*innen“ und Gestalter ihrer eigenen Arbeit an und ermögliche den Brückenschlag zu progressiven sozialen Bewegungen – in ihr könnten ökologische, feministische, internationalistische und Klassenkämpfe gar zu einer gemeinsamen Transformationsstrategie konvergieren. Klassenpolitisch wäre im Anschluss an Wissens Vorschlag indes zu diskutieren, wie der notwendige Umbau bisheriger Produktions- und Konsumnormen dabei in den Blick genommen und an entsprechende Eigentumsfragen gekoppelt werden kann.
Neben den instruktiven Beiträgen von Jakob Graf und Anna Landherr zu Klassenkämpfen in Chile als Beispiel des sogenannten „globalen Südens“ sowie von Dorothea Schmidt zur eigenständigen Organisierung von Arbeitern in Russland 1917 und Berlin 1918 bleibt vor allem der klassenanalytische Betrag von Thomas Sablowski zur bundesdeutschen Corona-Krisenpolitik hervorzuheben, der die wirtschaftspolitischen Maßnahmen und „Hilfspakete“ der Bundesregierung auf ihre Auswirkungen für verschiedene Klassenfraktionen der Bourgeoisie und Lohnabhängigen hin untersucht. Die Arbeiterklasse, so Sablowski, sei etwa mit „massiven, existenzbedrohenden Einkommensverlusten“ konfrontiert (538).
Nicht alle Ansprüche, die im Editorial formuliert werden, kann die Jubiläumsausgabe auch tatsächlich einlösen. Gleichwohl liefert die gelungene Auswahl an Themen und Fragestellungen einerseits genügend Anlass zur weiteren Debatte und produktiven Kontroverse – und zugleich eine „Bestandsaufnahme“ der politischen Vielfalt des Projekts, das von marxistischen bis zu eher linksliberalen und libertär-herrschaftskritischen nach wie vor unterschiedliche Ansätze vereint.
John Lütten