Rechtspopulismus

Rechtspopulismus – Hintergründe, Ausprägungen und Formveränderungen

Reflexionen zu unterschiedlichen Erklärungsansätzen

von Dieter Boris
Dezember 2019

1.

Das Aufkommen rechtspopulistischer Strömungen, Parteien bis hin zu Regierungen oder Regierungsbeteiligungen in den letzten Jahren zählt zweifellos zu den dominanten Entwicklungstrends der Gegenwart. Trotz der z.T. erheblichen Länderspezifika des Rechtspopulismus (RP) gibt es auch Gemeinsamkeiten, die durch die zeitliche Parallelität und ähnliche Ursachen oder Ursachenkomplexe dieses Phänomens offensichtlich sind. Dieses Phänomen begrifflich-analytisch zu fassen und die wichtigsten bisherigen theoretischen Erklärungsansätze dafür zu reflektieren, zu systematisieren und gegeneinander abzuwägen, scheint lohnend und wichtig zu sein.

2.

Wie nicht anders zu erwarten war, sind die Akzentsetzungen bei den Erklärungsversuchen recht vielfältig[1]: politikökonomische, sozialstrukturell orientierte Ansätze, politikwissenschaftlich geprägte sowie kulturalistische und sozialpsychologische Zugänge bzw. Schwerpunktsetzungen kommen vor, teilweise in Abgrenzung zueinander (manchmal sogar als sich wechselseitig ausschließend verstanden), teilweise auch additiv nebeneinander aufgereiht oder ergänzend zueinander in Beziehung gesetzt (z.B. Rippl/Seipel 2018). Seltener werden die unterschiedlichen Dimensionen in eine bestimmte Reihenfolge oder gar kausale Beziehung miteinander gebracht und eine gewisse Gewichtung einzelner Realitätsebenen erwogen. Auch die differierenden „Zeitschichten“, z.B. kurzfristig oder langfristig, müssten in eine derartige Betrachtung Eingang finden, ebenso natürlich wäre der Umstand einzubeziehen, dass politische Entwicklungen keineswegs nur Produkt „objektiver Prozesse“ oder „subjektiver Reaktionen“ sind, sondern diese letztlich aus entsprechenden Interaktionen, Kämpfen von Gruppen, Fraktionen oder Klassen hervorgehen.

3.

Die Fülle der angedeuteten Ansätze soll hier nicht im Einzelnen dargestellt, sondern nur knapp skizziert werden.

Ökonomisch ausgerichtete Erklärungsversuche gehen in der Regel von Elementen und Wirkungen der neoliberalen Globalisierung aus: die Verlagerung von Arbeitsplätzen, verbunden mit Freisetzung oder Abstufung im Lohneinkommen, Flexibilisierung und Verschärfung der Arbeitsintensität, Spreizung der Einkommensstruktur, Polarisierung der Gesamteinkommen und Vermögen, Häufung von spekulativen Finanzkrisen, generell die Lockerung „meritokratischer“ Prinzipien (Verknüpfung von Leistung und Entlohnung), beschleunigte Entwertung von Kenntnissen und Qualifikationen infolge des technischen und digitalen Fortschritts – all das habe zur Verunsicherung und Ohnmachtsgefühlen bei einer erheblichen Zahl von Arbeitnehmern geführt. Die generelle Schwächung gewerkschaftlicher und kollektiver Gegenwehr (durch „Tarifflucht“, Individualisierung, Prekarisierung etc.) habe diese Abstufung begleitet und kaum verhindern können.

Sozialstrukturelle Erklärungsansätze, die an diese grundlegenden Tendenzen häufig anknüpfen, verweisen nicht selten auf die „Transnationalisierung des sozialen Raums“ bzw. die Transnationalisierung der bislang („containerhaften“) „nationalen“ Sozialstrukturen. Damit ist zumeist gemeint, dass zunehmend mehr Positionen in der Sozialstruktur eines entwickelten Landes sich als transnational „mobil“ erweisen, das heißt, dass diese Positionsträger zeitweise in verschiedenen Ländern ihre Tätigkeiten erfüllen, und infolgedessen einen neuen Habitus entwickeln (müssen).

Das wird als Grundlage einer sich entwickelnden Spaltungslinie („cleavage“) zwischen kosmopolitisch, neoliberalen, toleranten Milieus und einem kommunitaristisch-nationalen, eher protektionistischen Milieu wahrgenommen. Manche sehen diese Trennungs- und Konfliktlinie auf allen Stufen der gesellschaftlichen Hierarchie als präsent an: oben, in der Mitte und auch unten; wobei im unteren Bereich an Menschen migrantischen Hintergrunds, an transnationale Pendler, prekär Arbeitende gedacht wird, während im oberen Bereich bzw. der oberen Mittelschicht an Personal aus wirtschaftlichem Management, Wissenschaft, Politik, Unterhaltungsindustrie, Sport etc. zu denken ist. In manchen Ansätzen der sozialstrukturellen Analyse wird auch auf die Erosionstendenzen der „gesellschaftlichen Mitte“ infolge der Polarisierung in Bezug auf Einkommen, Bildung, Wohnmöglichkeit, Stadt-Land-Gefälle etc. hingewiesen. Tendenzen des Abbaus sozialstaatlicher Sicherungen hätten tatsächliche oder befürchtete „Deklassierungs- Erfahrungen/Ahnungen“ hervorgerufen, die globalisierungskritische Einstellungen gefördert haben.

1. Der überwiegend politikwissenschaftliche Ansatz konzentriert sich auf den im RP verbreiteten „Anti-Establishment“ bzw. „Anti-Eliten Diskurs“. Dieser kritisiert die Verselbständigung der politisch und ökonomisch dominanten Gruppen/Parteien, die ohne ausreichende Legitimierung gegen Mehrheitsinteressen gerichtete Entscheidungen treffen (Stichwort: Bankenrettung, EU-Rettung von hochverschuldeten Ländern, Öffnung der Grenzen für alle Flüchtlinge etc.). Dies wird als „Repräsentationskrise“ des parlamentarischen Systems oder gar des gesamten politischen Systems diskutiert, von manchen auch unter dem Stichwort „Postdemokratie“ abgehandelt. Dies ist also eine weitere Ebene, die Unzufriedenheit, Ohnmachtsgefühle und entsprechende Wutempfindungen beflügelt.

2. In kulturalistisch geprägten Erklärungsversuchen werden ein beschleunigter Wertewandel, die Veränderung der Lebensweise und der gesellschaftspolitischen Vorstellungen und die konservativ-beharrende Gegenwehr gegen diese Tendenzen in den Vordergrund gestellt. Das intensivierte und den Alltag mitbestimmende Anstreben der Gleichheit der Geschlechter, die verstärkte Teilnahme der Frauen im Erwerbsleben, teilweise auch in der Politik, die Einführung von „Gender-Studies“ an den meisten Universitäten haben fest gefahrene Weltbilder – vor allem im männlichen Bereich – ins Wanken gebracht und teilweise Abwehrreaktionen (statt Lernprozesse) provoziert. Die gesetzliche und zunehmende gesellschaftliche Anerkennung unterschiedlicher sexueller Orientierungen mit entsprechenden Folgen für Eheschließung, Adoption etc. stellen für bestimmte Kreise eine weitere Bedrohung ihrer Ordnungsvorstellungen dar. Nicht selten geht mit diesen konservativ-reaktiven (bzw. reaktionären) Orientierungen eine Wiederaufwertung des Lokalen/Regionalen, „eigener“ Traditionen, von „Heimat“ in einem besonderen Sinne einher, welches gegen eine allzu euphorische, unterkomplexe und harmonisierende Sicht „multikultureller Verhältnisse“, wachsender Zuwanderung (vor allem aus anderen Kulturkreisen) in Stellung gebracht wird.

3. Eine weitere Position sieht insbesondere im Versagen der Linken (im weitesten Sinne) eine wesentliche Ermöglichungsbedingung für das Aufkommen und die Verbreitung des RP. Die Schwächung der Gewerkschaften durch die Globalisierung und die weitgehende Übernahme neoliberaler Denkmuster durch sozialdemokratische Parteien hat deren (einstige) breite Arbeitnehmerbasis noch hilfloser und orientierungsloser gemacht. Wenn nicht ein Rückzug aus politischen Aktivitäten generell (oder aus der Wahlbeteiligung) erfolgte, waren nicht wenige Arbeiter auch für (anscheinend) systemkritische, radikale Optionen von rechts offen bzw. anfällig. Die soziale und intellektuelle Entfernung von Politikern der Linken von ihrer ehemaligen Basis hat dazu geführt, dass diese sich teilweise auf kleinteilige – und mit neoliberalen Gedanken vereinbare – Anti-Diskriminierungspolitiken im kulturellen und gesellschaftspolitischen Raum konzentrierten, dabei aber entscheidende soziale Probleme, die durch die Globalisierung um sich griffen, „übersahen“ oder klein redeten. Es wird in diesem Zusammenhang von einem Vorrang der sog. „Identitätspolitik“ und einem „progressiven Neoliberalismus“ (Nancy Fraser) gesprochen.[2]

4. Eine andere Variante der RP-Interpretation/Erklärung begnügt sich mit dem Hinweis auf sich kumulierende Krisen, die negative Wirkungen erzeugten und sichtbar machten, dass die Kontroll- und Eindämmungsmöglichkeiten der fungierenden Regierungen (meistens aus sog. „Volksparteien“ oder Koalitionen von ihnen) bei weitem nicht ausreichten, diese Probleme zu lösen: weltweite Bankenkrise durch unkontrollierte Überspekulation, dann EU-Schuldenkrise, Rettungsmaßnahmen über Austeritätspolitik, Flüchtlingszustrom, fundamentalistische Bedrohungsszenarien etc. waren dieser Position zufolge ein bedeutender Nährboden für entsprechende Abhilfe versprechenden RP.[3]

4.

Bevor diese Ansätze diskutiert werden, sei eine methodische Vorüberlegung und Warnung vorangestellt. Nicht wenige AutorInnen zum Thema RP wissen von vornherein, was RP im Kern ausmacht und legen ihre Befragungen von AfD-WählerInnen beispielsweise oder der Nicht-WählerInnen so an, dass nur ermittelt werden kann, in welchem Maße die vermutete RP-Einstellung zutrifft, eventuell noch warum und wie man dazu gelangt sei. In den meisten Darstellungen wird das „typisch populistische Weltbild“ als Ausdruck von „Nostalgie“, von „romantisierender Rückwärtsgewandtheit“, Dummheit und Irrationalismus gewertet, welche Eliten-Kritik mit völlig überholten Vorstellungen von einem „homogenen Volk“ kombiniere. Als charakteristisch für diese Sichtweise kann z.B. folgende Bemerkung eines Forscherteams des WZB angesehen werden: „Dass die Partei (die AfD, DB) in ihrer Kommunikation weiterhin auf Anti-Eliten- und Krisenrhetorik setzt und dass ihre Wählerschaft zumindest teilweise von der Rückkehr in eine nie dagewesene goldene Vergangenheit träumt, erscheint sicher.“ (Giebler u.a. 2019:22)

1. Ein solche häufig anzutreffende Wortwahl (die schon eine Parteinahme dokumentiert) sowie die damit verbundenen Extrempositionen, die dem RP zugeordnet werden, sind aus mehreren Gründen unwissenschaftlich und für jeden Erkenntnisgewinn kontraproduktiv. Was als „Populismus“ zugrunde gelegt wird (schon begrifflich), bekommen diese „Forscher“ durch entsprechende „Befragung“ wieder heraus; ein Zirkel, der das Gegenteil von Erkenntniszuwachs bedeutet. Wer von vornherein ausschließt, dass hinter den Aussagen/ Positionen der Rechtspopulisten nicht auch eine gewisse Logik, z.T. Berechtigung steckt, der kann es sich einfach machen und diese Aussagen schlicht als Ausdruck von abwegigem Irrationalismus abtun, als undiskutable Nostalgie, Romantisierung und hoffnungslose Rückwärtsgewandtheit oder Hinterwäldlertum. Mit diesem Urteil kann dann in zweiter Stufe eine moralische und intellektuelle Abqualifizierung erfolgen; eine Auseinandersetzung mit „verrückten“ oder „amoralischen“ Menschen erübrigt sich, scheint sinnlos zu sein. Damit wird genau die Wahrnehmungsweise seitens der Rechtspopulisten, dass die Reaktion der liberalen Öffentlichkeit und der führenden Politiker auf sie lediglich „elitäre Besserwisserei“ oder „Gutmenschentum“ etc. sei, das sich zur alleinseligmachenden Instanz aufspreizt und von den angesprochenen Problemen damit abzulenken versucht, bestätigt.

2. Wer also apriori nicht nach Gründen bzw. objektiven Determinanten von typischen Aussagen der Rechtpopulisten sucht, nicht versucht, den „rationalen klassenpolitischen Kern“ (Dörre)[4] zu entschlüsseln, muss in der Analyse des RP zwangsläufig scheitern.

3. Der „rationale Kern“ typischer Aussagen und Topoi von Rechtspopulisten kann darin gesehen werden, dass negative Phänomene und Tendenzen in der gegenwärtigen Wirtschaft und Politik im Prinzip zutreffend wahrgenommen werden, deren wirkliche Ursachen aber in der Regel nicht näher analysiert werden oder in falscher Weise bzw. extrem simplifiziert ausgewiesen werden. Entsprechend fehlorientiert sind die Vorschläge, diese Tendenzen zu bekämpfen. Die kritisierten Tendenzen der neoliberalen Globalisierung, der Verselbständigung des ökonomischen und politischen Establishments etc. werden in einer Weise umgedeutet, dass die strukturellen Mechanismen (Ausbeutung/ Polarisierung, Prekarisierung etc.) nicht als Folgen und notwendige Implikationen der internen Herrschaftsverhältnisse identifiziert werden, sondern entweder schlicht personalisiert oder als Ergebnis eines Innen-Außen-Verhältnisses (z.B. „böses Auslandskapital“, USA-Dominanz bzw. US-Imperialismus, Migranten etc.) uminterpretiert werden.

4. Zu diesem methodisch fragwürdigen Umgang mit RP, den Philip Manow zu Recht als Kombination von „Theoriedefizit und Moralüberschuss“ gekennzeichnet hat, gehört auch, dass in der öffentlichen Diskussion bestimmte Themenfelder und Topoi zunehmend den Rechtpopulisten überlassen werden, da sie als „rechte“ oder anrüchige Themen gelten. Dazu gehören beispielsweise: Globalisierungskritik, Kritik der herrschenden Klasse oder des herrschenden Blocks (egal ob man sie als „Eliten“ oder „Establishment“ bezeichnet), Anstreben einer so weit wie möglichen national-souveränen Kontrolle des Wirtschaftslebens (solange wir keinen „Weltstaat“ oder „EU-Staat“ haben, von beidem scheinen wir weit entfernt zu sein), Kontrolle der Migration (als Gegenentwurf zum neoliberalen Konzept der schrankenlosen Zuwanderung zwecks Zufuhr billiger Arbeitskräfte), Verteidigung des Sozialstaats, der im übrigen von den zuvor genannten Aspekten ebenso abhängt wie von einer gewissen politisch-sozialen Homogenität der Territorialbevölkerung, was keineswegs völlige „ethnisch-kulturelle Homogenität“ sein muss[5], Kritik medialer, einseitiger und/oder ideologischer Berichterstattung[6] ( man kann das auch anders als mit dem belasteten Wort „Lügenpresse“ ausdrücken) etc. – Dadurch, dass diese (und vielleicht noch andere) Felder der Politik und der öffentlichen Diskussion – früher eindeutig „linke Themen“ – vom RP zunehmend besetzt wurden, gelten sie per se als anrüchig und werden von der Linken gemieden oder mit höchst abstrakten Slogans („soziale Rechte für alle“, oder: „Migration ist ein Menschenrecht“, alle können jederzeit migrieren etc.) belegt. Auf eine aktuelle Analyse der Entwicklung dieser Problemfelder wird weitgehend verzichtet. Damit werden rechtspopulistische Denkfiguren noch mal bestärkt und zu einer quasi allgemeinen Wahrheitsinstanz für ihre Adressaten gemacht. Dies hat kürzlich Bernhard Schlink auf den Begriff gebracht:„Die Themen, die er (d.h. der Mainstream, DB) nicht diskutiert hat und die von den Rechten usurpiert wurden, sind nun rechte Themen, und als rechte Themen kann der Mainstream sie erst recht nicht mehr diskutieren… Die Engführung des Mainstreams, die Kommunikationslosigkeit zwischen ihm und den Rechten und der AfD hatte und hat ihren Preis. Sie hat die Rechten und die AfD nicht schwächer gemacht, sondern stärker.“ (FAZ v. 1. August 2019)

5.

1. Es trifft zu, dass – wie in Punkt 3 angedeutet – sich der „Rechtspopulismus weitgehend als eine multikausale Bewegung gegen die Zersetzung sozialer und kultureller Sicherheiten fassen lässt, die der nationale Wohlfahrtsstaats-Kapitalismus versprochen und teilweise realisiert hatte und der globale Markt-Kapitalismus nun fortlaufend dementiert“ (Urban 2018: 184). Gleichwohl ist nach Verbindungen, Gewichtungen, der Abfolge sowie der perspektivischen Entwicklung bei dieser multikausalen Vielfalt zu fragen.

2. Nicht zu bezweifeln dürfte sein, dass die neoliberale Globalisierung die soziale Ungleichheit verschärft hat, die Arbeitswelt in einer Weise ständig restrukturiert, die (ebenso wie die soziale Polarisierung) Unsicherheit und Zukunftsungewissheit und -ängste wesentlich gefördert hat. Damit sind Fragen, wer die soziale Basis der AfD hauptsächlich sei, inwiefern insbesondere Globalisierungs- und Modernisierungsverlierer (auf welchen Stufen?) sich hier treffen oder auch andere sozialen Milieus in relevantem Ausmaß dabei sind, noch nicht beantwortet. Trotz der andauernden wissenschaftlichen Diskussion[7] scheint die Multikausalität des Phänomens RP sich auch in der heterogenen Sozialstruktur ihrer Wähler und Sympathisanten zu übersetzen. Tendenziell zutreffend scheint mir folgende Feststellung zu sein: „Zwar deuten die Daten darauf hin, dass Arbeitslose, Arbeiter*innen und Menschen mit geringen Bildungsressourcen überdurchschnittlich häufig für rechtspopulistische Parteien votieren… und dass dies in Deutschland auch für Gewerkschaftsmitglieder gilt …Dies impliziert aber rechnerisch nicht – und das wird häufig übersehen –, dass die Mehrheit der Unterstützer*innen rechter Parteien aus diesen Gruppen kommt. So wichtig die Suche nach den Gründen dafür ist, warum gesellschaftlich deprivilegierte und vom Prekariat bedrohte Menschen ihre politische Heimat nicht (mehr) in der politischen Linken sehen, so wenig darf mit dieser Ursachensuche aus dem Blick geraten, dass der Rechtspopulismus gerade deshalb erfolgreich ist, weil er klassenübergreifend mobilisiert, also nicht ein ‚Bündnis unterschiedlicher, kulturell deklassierter Gruppen’ anspricht…, sondern bis hinein in etablierte Selbstständigen- und Beamtenmilieus wirkt…“ (van Dyk/Graefe 2018: 337).

3. Die „Entleerung der Demokratie“, der die echte Demokratie der Rechtspopulisten entgegengesetzt wird, kann als Folge bzw. Begleiterscheinung der Unterordnung der Politik unter die Marktmechanismen gedeutet werden. Die „marktkonforme Demokratie“ transformiert sich zwangsläufig in eine „Postdemokratie“ (Colin Crouch), in der zwar die formellen Mechanismen (Wahlen, Parlamentsabstimmungen etc.) weiter stattfinden, deren reale Bedeutung aber dadurch enorm relativiert wird, dass gleichzeitig oder vorab die maßgeblichen Entscheidungen woanders getroffen werden. „Vertreter einander bis zur Ununterscheidbarkeit angeglichener Parteien verabschieden ahnungslos Gesetze, deren Texte von Interessengruppen des großen Kapitals formuliert worden sind. Abgeordnete als Abstimmungsautomaten beugen sich angeblichen Sachzwängen in äußerlich unveränderten, aber ausgehöhlten Institutionen des Parlamentarismus. ‚Die Mehrheit der Bürger’, schreibt Crouch, ‚spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.’“ (Bratanovic 2016).

4. Nimmt man noch den Umstand hinzu, dass zunehmend Elemente der politischen, nationalen Souveränität auf transnationale Instanzen (z.B. EU u.a.) übertragen werden, und dies von nationalen politischen Eliten bewusst und gewollt vollzogen wurde, wird die Rede vom „unverantwortlichen Establishment“ mehr als bloße rechtspopulistische Propaganda. Auch die gegen supranationale Instanzen gerichtete politische Programmatik scheint angesichts der durch jene noch beförderte Entmündigung der Bürger an Plausibilität und Glaubwürdigkeit zu gewinnen.

5. Dass aber, umgekehrt, die vom RP vorgeschlagene „wahre Demokratie“ sicher keineswegs besser und demokratischer als die liberale Version sein würde und dass die Verselbständigung sich in erster Linie den – nicht erkannten – Kapitalverwertungszwängen verdankt, steht auf einem anderen Blatt. Eine zentrale Frage wäre, warum die „Verschiebung“ der Verursachungsfaktoren weg von den anonymen Zwängen der kapitalistischen Akkumulation und hin zu personalisierenden Verschwörungstheorien mit ethnisch-nationalistischen Untertönen – so relativ leicht und erfolgreich funktionieren kann, eine dezidiert „linke“ Argumentation/Agitation dagegen vergleichsweise resonanzarm bleibt.

6. Wenn feststehen dürfte, dass die durch die neoliberale Globalisierung bewirkten sozialen Deklassierungen – auf unterschiedlichen Ebenen – bzw. die keineswegs unrealistischen Ängste vor zukünftigen Deklassierungen zur Verunsicherung wachsender Bevölkerungskreise beigetragen haben und dieses Ohnmachtsgefühl durch die fast völlige Untätigkeit der offiziellen Politik in dieser Hinsicht dies noch vertieft hat, so bleibt die Frage wie „kulturalistische“ Deutungen des RP hier einzuordnen bzw. zu gewichten sind. Hierunter ist, wie oben angedeutet, einen Wertewandel im weitesten Sinne (bezüglich gleichberechtigter Beziehungen zwischen den Geschlechtern, der sexuellen Orientierung, der sprachlichen Ausdrucksweise, der religiösen Toleranz, unterschiedlicher Erziehungsstile etc.) zu verstehen.

7. Die Bedeutung der geschlechtsspezifischen Komponenten/ Verursachungsfaktoren im Erstarken des RP scheint unbestreitbar zu sein, über das Gewicht sind sich die SpezialistInnen auf diesem Feld offenbar auch nicht gänzlich im Klaren.[8] B. Sauer sieht die Verunsicherung der Männer auch durch tendenzielle Veränderung der Rollenverteilung zwischen Frauen und Männern (die auch eine gewisse Abwertung der männlichen Rolle als Alleinernährer der Familie, höhere Teilnahme der Frauen im Erwerbsprozess, bessere Ausbildungsniveaus, mehr politische Partizipation etc. impliziert). Umgekehrt gebe es ein neues Modell minoritärer Hypermännlichkeit, das in der Rolle des Bankers, Börsianers etc. sich ausdrücke. „Im neoliberalen Verunsicherungsdiskurs bieten rechtspopulistische Geschlechter- oder, besser, Anti-Gender Anrufungen … Anknüpfungspunkte für eine Re-Etablierung traditioneller Geschlechterkonstellationen und -hierarchien. Dieses diskursive Angebot wird gleichsam als Heilmittel gegen eine erniedrigte und marginalisierte Männlichkeit verordnet.“ (Sauer 2018: 319). Zudem trage in der Wiederaufwertung der Männlichkeit auch der angeblich notwendige Schutz der Frauen in der Mehrheitsgesellschaft gegenüber migrantischen (insbesondere islamischen) Männern bei.

8. Insofern ist es keine Überraschung, wenn die AfD bei den letzten Wahlen (ähnlich ist es wohl bei der Trump-Wählerschaft) deutlich überproportional männlich war und sie insbesondere bei männlichen Arbeitnehmern zwischen 35 und 59 Jahren wohl die größten Zugewinne registrieren konnte (Becker/Dörre/Reif-Spirek 2018:10, sowie Heitmeyer 2018: 131). „Bei der Bundestagswahl 2017 wählten von den Männern 16,3 Prozent die AfD, von den Frauen nur 9,2 Prozent. Fast zwei Drittel der AfD-Wähler sind damit männlich, wobei es zwischen dem Osten und dem Westen in der Verteilung keine Unterschiede gibt (Decker 2018). Sicher hat hierbei der „Kampf gegen die bedrohte Männlichkeit“, also ein kulturalistisches Moment eine bedeutende Rolle gespielt; wenngleich natürlich andere Faktoren wie Bedrohungs- und Ohnmachtsgefühle in der Arbeitswelt, verstärkte Konkurrenzsituationen mit Migranten z.B. bei der Wohnungssuche, bei Infrastrukturausgaben etc. – als weitere motivierende Faktoren bei der Wahlentscheidung – nicht zu vergessen sind.

9. Die Erklärungsvariante des RP, wonach dieser Ergebnis des Versagens der Linken sei, tritt selten in dieser Ausschließlichkeit auf, bildet aber mit anderen Elementen und „Einrahmungen“ einen wichtigen Blickwinkel ab. Nicht zuletzt die hierzulande schnell übersetzten Schriften von Arlie Hochschild, Didier Eribon und Nancy Fraser haben – wenn auch mit unterschiedlichen Akzenten – diesen Diskussionsstrang beflügelt. In der Tat ist ja die Grundfrage des RP, warum die Krisen- und Verunsicherungsmomente, die durch den bürgerlich-konservativen Neoliberalismus erzeugt worden sind, nicht von der diesem entgegen stehenden Linken zur Stärkung der eigenen Anhängerschaft entsprechend genutzt werden konnte, sondern vielmehr von einer radikalen Rechten, von der man keine ernsthaften anti-kapitalistischen Maßnahmen erwarten darf. Wie also eine „Verschiebung“ der Gewichte innerhalb der Verteidiger der kapitalistischen Ordnung stattfinden konnte, ohne dass diese selbst offenbar stärker an Zustimmung und Legitimität verlor.

10. In zwei Teilaspekten, deren Gewicht nicht zu unterschätzen ist, könnte man dieser Version zustimmen. Einmal ist die Übernahme neoliberaler Denkmodelle (in der Wirtschafts- und Sozialpolitik) durch die sozialdemokratischen Parteien, vielleicht auch innerhalb der sonstigen Linken in der Weise wirksam geworden, dass eine konsequente Oppositionspolitik gegen die herrschende Linie nicht mehr ernsthaft konzipiert und realiter in Angriff genommen werden konnte. Eine weitere Variante linker Anpassung an die neoliberale Politik wird von Nancy Fraser als „progressiver Neoliberalismus“ bezeichnet. Hierunter versteht sie, dass Linke zunehmend auf klassenpolitische Zielsetzungen und die Bekämpfung der sozialen Ungleichheit im Allgemeinen zugunsten von teilweise kleinteiligen Anti-Diskriminierungsmaßnahmen verzichteten und zur gleichen Zeit ihre Kritik an der neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik deutlich mäßigten oder gänzlich einstellten.[9]

11. Ein weiterer Aspekt (oder Implikation) dieses Ansatzes ist zu erwähnen. Der unreflektierte und einschränkungslose Schulterschluss von bedeutenden Teilen der Linken mit den bürgerlichen Parteien im Angesicht der rechtpopulistischen Bedrohung führt, wie Andreas Nölke bemerkt, zu einem „doppelten Rechtsruck“, da in dieser Koalition dezidiert linke Positionen leiser werden oder im Hintergrund verharren und überdies die Rechtspopulisten nun behaupten können, sie seien die Einzigen, die wirklich gegen das „Establishment“ aufstehen.[10]

12. So zutreffend im Kern diese Version von RP–Interpretation in bestimmten Teilaspekten ist, so sollte sie in ihrem Gewicht in mehrerer Hinsicht relativiert werden. Zum einen bildet das Versagen der Linken nicht die Hauptursache der neoliberalen Polarisierung und Deklassierungsprozesse. Zum anderen ist die Fragmentierung der Arbeiterklasse (im weitesten Sinne) heute im Vergleich zu der Zeit vor ca. 40 Jahren weiter fortgeschritten, so dass eine vereinheitlichende Politik gegenüber den Herrschenden gegenwärtig größere Schwierigkeiten bereitet und sehr gut bedacht sein muss (Dörre 2019: 41ff.). Was natürlich nicht bedeutet, dass hiermit die Kritik an erheblichen Defiziten der Linken keine Berechtigung hätte.[11]

13. Die These schließlich, dass der RP vor allem durch eine Kumulierung von Ereignissen während des letzten Jahrzehnts entstehen und sich entfalten konnte, trifft teilweise Richtiges, ist aber zu wenig mit langfristigen Tendenzen und strukturellen Problemen der Globalisierung verbunden. In einem theoretisch befriedigenden Gesamtansatz kann und muss diese – eher kurzfristige und kontingente – Faktorenkette durchaus ihren Platz finden, vor allem als Verstärker oder Auslöser für Reaktionen auf Unsicherheits-/Ohnmachtsgefühle, die schon lange vorher sich entwickelt hatten und mehr oder minder latent vorhanden waren.

14. Gemeint sind mit der „Kumulierung von Ereignissen“ mit höherer Relevanz vor allem die Banken- und Finanzkrise 2007/08, die darauf folgende Staatsschuldenkrise (inklusive der von ihr abgeleiteten Austeritätspolitik) in fast allen europäischen Ländern 2010 ff., die Stärkung des „Islamischen Staates“(IS) und die Zunahme terroristischer Großanschläge (2013ff.) sowie die Griechenlandkrise (2015) und der mit der andauernden Bürgerkriegskonstellation in mehreren nahöstlichen Ländern verbundene Zustrom von Flüchtlingen (insbesondere 2015f.). – Wenngleich diese Vorgänge nicht alle direkt miteinander zusammenhängen, haben sie zweifellos das Gefühl des Bedrohtseins und der Ohnmacht gestärkt, nicht zuletzt weil die offizielle Politik und die Reaktionen auf diese Entwicklungen nicht von realitätsgerechten Analysen (und der teilweisen Mitverschuldung dabei) ausgingen und infolgedessen im Wesentlichen in einer graduellen Fortschreibung der früheren Politik bestanden. Die damit verstärkte Verwirrung und sich ausbildenden Dispositionen für rechte Optionen – gerade infolge der Flüchtlingskrise von 2015f. – wurden von W.F. Haug treffend umschrieben: „Die Härten (der Austeritätspolitik, DB) waren als alternativlos ausgegeben worden. Nun sah es für die sich von der Politik vernachlässigt Fühlenden so aus, als veranstalteten die Akteure der neoliberalen Desolidarisierung im Lande eine Solidaritätskultur für Ausländer! In der Tat, welche Aufwallung von Solidarität unter dem Namen der Willkommenskultur – für Fremde! Und war nicht plötzlich Geld für vielfache materielle Hilfe, Deutschkurse, Unterbringungsmöglichkeiten usw. da? Die Regierenden hatten vergessen, diese Ungereimtheit zu bearbeiten: ‚Die Solidarisierung mit den Fremden steht im Widerspruch zu der neoliberalen Entsolidarisierung der letzten Jahrzehnte.’“ (Haug 2017: 301).

15. Ähnliche Wirkungen auf das Empfinden und das Bewusstsein von nicht unerheblichen Teilen der Bevölkerung erzeugten die anderen – hier nicht im Einzelnen zu besprechenden – Ereignisse und die vergleichsweise hilflose und wenig zu grundsätzlichen Veränderungen (z.B. in der Europapolitik) bereite offizielle Politik. Da die neoliberale Großkoalition wenig gesellschaftliche Alternativen zur bisherigen Politik anbieten konnte und auch die Linke wenig kurz- und mittelfristig wirksame, konkrete und glaubhafte (über abstrakte Wunschparolen hinausgehende) Politiken vorschlagen konnte, war ein Vakuum geschaffen bzw. der Boden für Antworten aus einer gänzlich anderen Richtung bereitet. Diese von realen Problemen ausgehende, sie aber in einem bestimmten Sinne umdeutende nationalistisch-ethno-soziale Propaganda sieht den Gegensatz zwischen „oben“ und „unten“ keineswegs als Klassengegensatz, sondern als einen zwischen „korrupter Elite“ und „integrem homogenen Volk“ und vor allem einen sogar noch wichtigeren Gegensatz zwischen „Innen“ und „Außen“.

6.

Schlussfolgernd und zusammenfassend lässt sich vielleicht so viel festhalten:

1. Die Ursachen 1) bis 3) – ökonomische, sozialstrukturelle und politische – hängen eng zusammen, bedingen sich gegenseitig, besitzen die gleiche, längere Existenzdauer sowie eine ähnliche Tiefendimension; man könnte sie zusammen genommen als den „neoliberalen Marktdominanz-Komplex“ nennen. Hier liegen die schwergewichtigsten Ursachen, ohne die alle weiteren genannten mit bedingenden Faktoren, die in den folgenden Erklärungsansätzen auftauchen nicht (oder nicht so stark) wirksam geworden wären. Es sind die strukturellen Determinanten, die Ängste, Unsicherheit und Ohnmachtsgefühle zu einer „verallgemeinerten Kultur der Unsicherheit“ (M. Candeias) in vielfältigen Formen haben entstehen lassen. Für den RP sind es zugleich die zentralen Ansatzpunkte für seine „Diagnose“ und „Therapie“-Vorschläge, die ein angeblich „radikales Durchgreifen“, nationalistische Exklusionsansprüche sowie eine Orientierung an einer „goldenen, wohl geordneten Gemeinschaft von früher“ enthalten. Wie realitätsnah und umsetzbar diese programmatischen Vorschläge sind, scheint von sekundärer Bedeutung zu sein, da die Vergangenheit offenbar näherliegend, leichter erreichbar ist als eine ferne und undurchsichtige Zukunft.

2. Die Reaktion der „Männlichkeitsverlierer“ – als einem intermediären Ursachenfaktor – ist erst breiter, intensiver und politisch wirksam geworden, nachdem sich der makropolitische Wind nach rechts gedreht hatte; latent hatten sich diese Abwehrimpulse vorher herausgebildet. In diese zweite Kategorie der Ursachenfaktoren wäre m.E. auch die „Schwäche der Linken“ in welcher Form auch immer einzuordnen, also nicht als primärer Faktor. Diese Schwäche kann wohl als eine Mischung von Nicht-Können und Nicht-Wollen verstanden werden und ist als zusätzliches Vermittlungs- und Verstärkungsglied in der Kette von vielen Faktoren einzuordnen.

3. Die dritte Art von Verursachungsfaktoren des RP-Aufstiegs, die relativ kurzfristigen Charakter tragen und als vergleichsweise kontingent (aber keineswegs völlig zufällig)[12] anzusehen sind, sind solche, die sich um herausragende Einzelereignisse, die Signalcharakter hatten, herumgruppieren. Diese Ereignisse, die teilweise zusammenhängen, teilweise auch nicht, bewirkten dass die unter 1) bis 5) genannten Faktoren und die durch sie verursachten Schieflagen/ Abstiege/ Gefahren etc. eindeutig die Abgehobenheit, Unfähigkeit und den Kontrollverlust seitens der herrschenden „Eliten“ zu bestätigen schienen. Banken-, Schuldenkrise, Austeritätsregime, Griechenlandkrise, islamistischer Terrorismus und schließlich Flüchtlingszustrom – all dies waren anscheinend weitere schlagende Belege von Kontrollverlust und Unfähigkeit und/oder Nicht-Bereitschaft an der offenbar unabwendbaren, stets gefährlicheren und unübersichtlichen Situation etwas zu verändern.

4. Von den vielen ungelösten Problemen einer befriedigenden, kohärenten theoretischen Erklärung des RP sollen am Ende drei noch einmal umrissen werden. Zum einen, warum eine linke Antwort auf die „verallgemeinerte Kultur der Unsicherheit“ offenbar weit weniger attraktiv und erfolgreich gewesen ist als es die rechtspopulistischen Antworten sind. Dies scheint umso unverständlicher, wenn man davon ausgehen darf, dass die Hauptverursacher dieser Unsicherheit und Deklassierungsgefahren wesentlich zutreffender von der Linken als von rechts analysiert und benannt werden und zudem eine Wiedererlangung der Kontrolle über die eigenen Lebensbedingungen nur durch eine entschiedene Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft erreicht werden kann; dagegen würde eine bloße Auswechslung politischer Eliten, bei gleichzeitiger Fortdauer der Fremdbestimmung und Ausbeutung durch uneingeschränkte kapitalistische Produktionsverhältnisse, wenig an den als kritisch empfunden Grundproblemen ändern – was wohl bei einer Regierungsübernahme des RP der Fall sein würde. Die Frage, ob und wann zur Klärung dieses Problems eine sozialpsychologische Erklärungsdimension – z.B. die Entstehungsbedingungen und die Verbreitung autoritärer Charakterstrukturen – oder die bei Dani Rodrik und Philip Manows Politischer Ökonomie des Rechts- und Linkspopulismus zentral einbezogenen länderspezifisch unterschiedlichen Formen der Weltmarkteinbindung, der Arbeitsmarktstrukturen und Sozialstaatsmodelle eine wesentliche Rolle spielen müssten, wäre zu thematisieren und zu hinterfragen. Erstaunlicherweise sind diese Dimensionen des Problems in der großen Mehrheit der Arbeiten über RP überhaupt nicht thematisiert oder gar einbezogen.[13]

5. Zum zweiten ist m.E. nicht eindeutig geklärt, dass der Aufstieg des RP notwendigerweise mit einer Verabsolutierung des Gegensatzes von Innen versus Außen bzw. der Frontstellung gegen Migranten/ Andere zusammengehen muss. Oder, anders formuliert: ob die Doppelfrontstellung oder Abgrenzung gegen „oben“ (die „Eliten“) und gegen „unten“ (Randgruppen, Arbeitslose, „Sozialschmarotzer“, Lesben, Schwule etc.) immer für den RP konstitutiv ist bzw. sein muss. Dabei könnte – zumindest theoretisch – auf Migranten, Asylsuchende etc. als negative Projektionsgruppen verzichtet und andere „Feind-Gruppen“ ins Visier genommen werden. Diese relative Beliebigkeit „funktionaler Äquivalente“ zwecks Abgrenzung deutet Candeias an. „Die radikale Rechte ermöglicht den Einzelnen einen nonkonformistischen Konformismus, bei dem sich die widerständige Haltung rhetorisch zwar gegen Instanzen der Herrschaft richtet, sie aber zugleich praktisch anruft zur Abwertung und Ausgrenzung des ‚Anderen’, der Migranten_innen, der ‚Arbeitsscheuen’, der ‚versifften 68er’, der Feministinnen etc. Dies kann als Stabilisierung restriktiver Handlungsfähigkeit unter verschärften Bedingungen der Unsicherheit erlebt werden.“ (Candeias 2018:42).

6. Drittens wäre weitergehend zu thematisieren, wie sich die Verlaufsformen des RP gestalten: ob es zu einer Radikalisierung nach rechts kommt, wie man es beispielsweise bei der FPÖ, der AfD u.a. beobachten kann (und damit der Begriff „Rechtspopulismus“ mit „Rechtsextremismus“ ersetzt werden müsste), oder ob die umgekehrte Entwicklung in Richtung Mäßigung, Öffnung zur Mitte, stärkere Aufnahme sozialstaatlicher Elemente in die Programmatik eintritt, wie dies anscheinend bei dem „Front National“ in Frankreich und der „Dänischen Volkspartei“ der Fall ist.

Literatur

Adorno, Theodor W.(2019):Aspekte des neuen Rechtsradikalismus, Berlin (mit Nachwort von Volker Weiß)

Bieling, Hans-Jürgen (2018): Die ‚Krise der Politik’ als Ausdruck gesellschaftlicher Kräfteverschiebungen und neuer Konfliktlinien, in: Das Argument 328, 60. Jg., H.4, S. 492- 501

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Bratanovic, Daniel (2016): Elitär plebiszitär. Die ‚Alternative für Deutschland’ wird vermutlich nicht mehr so schnell verschwinden. Sie ist im ‚Establishment’ gut verankert und wird sowohl von Arbeitern als auch Besserverdienenden gewählt. Ein nationalistischer Kitt hält sie zusammen, in: junge welt v. 19.5. 2016

Candeias, Mario (2018): Den Aufstieg der radikalen Rechten begreifen. Wie hängen unterschiedliche Erklärungsmuster zusammen? Dimensionen einer verallgemeinerten Kultur der Unsicherheit, in: Ders. (Hg.):Rechtspopulismus, Radikale Rechte, Faschisierung. Bestimmungsversuche, Erklärungsmuster und Gegenstrategien, Berlin, (Materialien Nr. 24 der Rosa-Luxemburg- Stiftung), S.33-60

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Dörre, Klaus (2018): In der Warteschlange. Rassismus, völkischer Populismus und die Arbeiterfrage, in: Becker u. a, a.a.O., S.49-80

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Lux, Thomas (2018): Die AfD und die unteren Statuslagen. Eine Forschungsnotiz zu Holger Lengfelds Studie: Die ‚Alternative für Deutschland’. Eine Partei für Modernisierungsverlierer?, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, online 02 July 2018

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Koppetsch, Cornelia (2019): Die Gesellschaft des Zorns. Rechtspopulismus im globalen Zeitalter, Bielefeld

Manow, Philip ( 2018): Die Politische Ökonomie des Populismus, Berlin

Nölke, Andreas (2018): Politische Irrwege beim Umgang mit dem Rechtspopulismus – und eine linkspopuläre Alternative, in: Becker u.a., a.a.O., S. 325-335

Rippl, Susanne/Seipel, Christian (2018): Modernisierungsverlierer, Cultural Backlash, Postdemokratie. Was erklärt rechtspopulistische Orientierungen? In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 70(2), S. 237-254

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Sauer, Birgit (2018): Radikaler Rechtspopulismus als männliche Identitätspolitik, in: Becker u.a. , a.a.O., S.313-323

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Weiß, Volker (2017): Die autoritäre Revolte. Die neue Rechte und der Untergang des Abendlandes, Stuttgart

[1] Entsprechend sind die Ausdrücke dafür, was hier vorläufig „Rechtspopulismus“ genannt wird, recht unterschiedlich: z.B. „autoritärer Nationalradikalismus“, „Bonapartismus“, „Rechtsextremismus“, „Neo-Faschismus“, „Neo-Nationalismus“, „globaler Autoritarismus“, „autoritärer Populismus“etc.

[2] Während für einen schwerpunktmäßig politikökonomischen Zugang beispielsweise Manow (2018) genannt werden kann, ist die sozialstrukturelle Dimension vor allem bei Koppetsch (2019) stark betont. Für die Postdemokratie-These bzw. die von der „Repräsentationskrise“ kann die Arbeit von Crouch (2008) genannt werden, obwohl die Populismusproblematik bei ihm nur am Rande auftaucht; an seine Hauptthese schlossen sich aber verschiedenen RP-Erklärungsversuche an. Für die kulturalistische Akzentsetzung sind z.B. Inglehart/Norris (2016) hervorzuheben, während schwerpunktmäßig die die Defizite der Linken betonende These u.a. von Fraser (2017) und Eribon (2016) vertreten wird.

[3] Freilich gibt es noch weitere Erklärungsversuche, die aber wegen ihrer krassen Einseitigkeit und begrifflich-analytischen sowie empirischen Schwäche hier nicht zu diskutieren sind. So z.B. die Auffassung, dass nur die Psychologie oder höchsten die Sozialpsychologie weiterhelfen kann, oder der RP ausschließlich Ausdruck von „Wohlstandschauvinismus“ bzw. des Versuchs der Verteidigung der sog. „imperialen Lebensweise“ (in aller Welt) sei, können schwerlich ernsthaft diskutiert werden. Auch die These, dass der mehrschichtige (direkte und indirekte) „Einfluss Chinas auf den Prozess der weltweiten Ausbreitung des Autoritarismus“ (Schaffar 2019:59) ein zentraler Erklärungsfaktor sei, bedürfte einer besonderen Auseinandersetzung. Erstaunlich nur, dass das seit ca. zwei Jahren intensivierte China-bashing in der westlich-bürgerlichen Politik und ihren Medien nun auch in die RLS vorgedrungen ist.

[4] Vgl. Dörre 2018:60, 64 und 75; tendenziell ähnlich: Bieling 2018: 494.

[5] Zu diesem Zusammenhang von Sozialstaat, Bereitschaft zu wechselseitiger Solidarität und relativer sozialer sowie politischer Homogenität siehe neuerdings: Jörke 2019: 215ff.

[6] Vgl. Krüger 2016:77-90.

[7] Lengfeld (2017), Lux (2018); Jörke (2018), Nölke ( 2018) Koppetsch ( 2019).

[8] So formuliert Birgit Sauer, dass diese Dimension, „die Geschlechterverhältnisse ein Schlüssel zum Verständnis des aktuellen Erstarkens rechter Parteien in Europa sind. Oder anders formuliert: Der moderne Rechtspopulismus kann bzw. muss auch aus der Geschlechterstruktur europäischer Gesellschaften und nicht nur allein aus ökonomischen Entwicklungen oder Klassenverhältnissen und schon gar nicht allein als Folge von parteipolitischem Kalkül oder individuellen Präferenzen erklärt werden.“ (Sauer 2018:314). Die Frage bleibt: „Schlüssel“ oder „auch“?

[9] Dies hat bekanntlich innerhalb der Linken – zumindest hierzulande – zu einer unendlichen und unfruchtbaren Debatte darüber geführt, was zentraler sei: Klassen- oder Identitätspolitik? Dass N. Fraser eine solche sich wechselseitig ausschließende Politik des „entweder“ „oder“ nicht im Sinne hatte, sondern nur die Substitution von Klassenpolitik durch sog. „Identitätspolitik“ und den damit verbunden Verzicht auf Neoliberalismuskritik eigentlich meinte, ist leider in der Hitze des Gefechts verloren gegangen.

[10] „Die Linkspartei stellt sich in Bezug auf die Provokationen der AfD regelmäßig verbal auf die Seiten der bürgerlichen Parteien (so fordert Katja Kipping ein ‚breites Bündnis gegen Rechts’)…. Sowohl von Journalisten als auch von linken Politikern werden solche Positionen – etwa Sarah Wagenknechts Äußerungen zu straffälligen Flüchtlingen oder Oskar Lafontaines Hinweis auf die von den Flüchtlingen ausgehende Lohn- und Mietkonkurrenz – als AfD-nah bezeichnet, damit wird jede Form einer grundlegenden Kritik an der aktuellen Politik tendenziell dieser Partei zugeordnet und nicht mehr der Linken.“ (Nölke 2018: 328).

[11] Die kürzlich vorgetragene Kritik an „der Linken“ von Külow/Lieberam (junge Welt v. 18. Sept. 2019), dass u.a. aus Kreisen der Linken häufig zu hören sei, sie sei keine „Protestpartei“ mehr, sondern von außen eher als eine parlaments- und regierungsfixierte Organisation gesehen werde etc., müsste im Einzelnen bedacht und diskutiert werden. Sh. auch den Kommentar von Lieberam in Z 119 (September 2019), S. 15-17.

[12] Manche sprechen scheinbar paradox von „struktureller Kontingenz“.

[13] Siehe als Ausnahme die jüngste kritische Auseinandersetzung mit dieser Position Manows bei Biskamp 2019.