Konjunktur und Krise

Die Entwicklung der Weltwirtschaft und die deutsche Konjunktur 2003/2004

Juni 2004

Die Entwicklung der Weltwirtschaft während des vergangenen sowie am Beginn dieses Jahres wurde wesentlich dadurch beeinflusst, dass sich in wichtigen Ländern und Regionen konjunkturelle Aufwärtstendenzen weiter durchgesetzt haben. In den Gesamtdaten des vergangenen Jahres findet diese Tatsache allerdings noch wenig ihren Niederschlag, weil die Belebungs- und Aufschwungserscheinungen sich erst während des Jahresverlaufs 2003 zeigten und in einigen Teilen der Welt die Konjunktur auch weiterhin schwach blieb.*

1. Zunehmende Aufschwungstendenzen in der Weltwirtschaft bei deutlicher regionaler Differenzierung

In der USA-Wirtschaft verstärkten sich die konjunkturellen Aufstiegserscheinungen deutlich. Das gab auch der sich schnell entwickelnden ost- und südostasiatischen Region, die zum zweitwichtigsten Wachstumszentrum der Weltwirtschaft nach den USA geworden ist, zusätzliche Impulse. So hatten im vergangenen Jahr vor allem Thailand, Vietnam, die Philippinen, Malaysia und Indien kräftige gesamtwirtschaftliche Zuwachsraten von 4 bis 5,5 Prozent zu verzeichnen. Aber auch in den meisten anderen Staaten dieser Region lag das Wachstumstempo noch über dem der Industrieländer.

Eine besonders wichtige Rolle für die Entwicklung des asiatischen Raums nimmt China als zweitgrößte und derzeit dynamischste Volkswirtschaft der Welt ein. 2003 wuchs dort das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um gut 9 Prozent. Wesentlichen Anteil daran hatte eine starke Ausweitung der Exporte, die zu einem Rekordüberschuss der Außenhandels-Bilanz führte. So stieg China inzwischen auch zum führenden Exporteur in die USA auf. Dabei profitierte das Land – ebenso wie einige andere asiatische Staaten – von der Bindung des Wechselkurses seiner Währung an den Dollarkurs, zumal die jüngste Schwäche der US-Währung damit auch die eigene preisliche Wettbewerbsposition auf verschiedenen Teilen des Weltmarktes begünstigte. Der Exportboom wird von einer kräftigen Zunahme der Binnennachfrage begleitet.

Auch in Japan verstärkten sich die Anzeichen eines allmählichen Herauskommens aus der langwierigen Depressionsphase. Das BIP wuchs im Vorjahr um 2,7 Prozent, nachdem es 2002 noch um 0,4 Prozent zurückgegangen und während der letzten fünf Jahre nur eine durchschnittliche jährliche Zunahme um 0,4 Prozent erreicht worden war; zugleich stieg 2003 auch die Industrieproduktion um 3,2 Prozent. Maßgeblich dafür war eine ungeachtet der Aufwertung des Yen gegenüber dem US-Dollar kräftige Ausfuhrexpansion, die sich vor allem auf zwei Faktoren aufbaute: Zum einen profitierte Japans Industrie überproportional von der weltweit wieder gestiegenen Nachfrage nach modernen elektronischen Geräten, bei denen sie derzeit über einen technologischen Vorsprung verfügt. Zum anderen hat Japan am stärksten von dem enormen Importbedarf der schnell wachsenden chinesischen Wirtschaft profitiert. Im vorigen Jahr sorgten Aufträge aus China für mehr als zwei Drittel des japanischen Exportzuwachses, wobei die Lieferungen eine sehr große Produktpalette umfassten. Unter dem Einfluss des Ausfuhrbooms hat auch die japanische Inlandsnachfrage in Teilbereichen wieder etwas zugenommen. Das Comeback der japanischen Konjunktur wird jedoch erst dann nachhaltig gelingen, wenn auch der private Konsum als wichtigster Nachfragesektor wieder wächst. Noch wird aber das Verhalten der Masse der Verbraucher angesichts ungünstiger Einkommensentwicklung sowie weiter dominierender Angst um Arbeitsplätze und soziale Versorgung von Kaufzurückhaltung und Vorsorgesparen diktiert.

Tabelle 1: Wachstum der Weltwirtschaft 1999-2003 (in Prozent)

Tabelle siehe Datei zum Download!

Berechnet nach: IMF, World Economic Outlook, Database, lfd.; OECD, Main Economic Indicators u. Quarterly National Accounts, lfd.; für 2003 zum Teil Schätzungen auf der Grundlage dieser Quellen und von Korrekturen. (1) Ehemals sozialistische Staaten Europas und früher zur UdSSR gehörende asiatische Staaten; (2) Einschließlich China und Vietnam.

Zu den Volkswirtschaften mit relativ hoher Wachstumsdynamik gehört neben Australien, Kanada und einigen Ölförderländern des Nahen Ostens auch Russland, dessen Gesamtproduktion 2003 im vierten Jahr hintereinander kräftig um rund 6 Prozent anstieg, nachdem zuvor während des ersten Jahrzehnts nach der Auflösung der Sowjetunion Rückgangs- oder Stagnationsphasen dominierten. Einen wesentlichen Antrieb erhielt der gegenwärtige Aufschwung dabei von der stark expandierenden Erdölproduktion und –ausfuhr. Fast alle anderen Nachfolgestaaten der Sowjetunion hatten übrigens im vergangenen Jahr ebenfalls relativ hohe Zuwachsraten zu verzeichnen. Das gilt in etwas schwächerer Ausprägung auch für die Mehrzahl der ost- und mitteleuropäischen EU-Beitrittsstaaten.

Im Unterschied dazu schwächelte die Konjunktur in vielen west- und mitteleuropäischen Ländern ‑ vornehmlich in der Eurozone ‑ weiter und war durch geringe Wachstumsraten oder Stagnationserscheinungen gekennzeichnet. Auch eine Reihe südamerikanischer Staaten hatte noch unter den Auswirkungen der schweren Wirtschaftskrise Argentiniens zu leiden. Lateinamerika insgesamt war dadurch im Jahre 2003 neben dem Euroraum die wachstumsschwächste Region der Welt, zumal auch Mexikos Wirtschaft während der letzten drei Jahre nur um insgesamt 2 Prozent zunahm. Im überwiegenden Teil der Weltwirtschaft gab es jedoch am Beginn dieses Jahres deutliche konjunkturelle Beschleunigungstendenzen.

2. Zur Situation der USA-Wirtschaft

Den wichtigsten Einflussfaktor für die Weltkonjunktur bildet auch in diesem Jahr die aktuelle Entwicklung der USA-Wirtschaft. Deshalb soll hier der Frage nachgegangen werden, inwieweit die überwiegend positiven Erwartungen berechtigt sind, die zum Jahresbeginn von vielen Politikern und Ökonomen in den amerikanischen Konjunkturaufschwung gesetzt worden sind. Diese Einschätzungen sind vor allem unter dem Eindruck einer kräftigen Beschleunigung des gesamtwirtschaftlichen Wachstums im 3. Quartal 2003 entstanden, als das BIP um reichlich 2 Prozent gegenüber dem Vorquartal expandierte, was einer Jahresrate von gut 8 Prozent[1] entsprechen würde – das war die höchste Vierteljahres-Zuwachsrate seit 1984. Für das Gesamtjahr 2003 wurde eine Zunahme des BIP von 3,1 Prozent erreicht (2002 = 2,2 Prozent).

Konjunkturstützende Steuer- und Finanzpolitik

Die Wachstumsbeschleunigung ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass die seit Beginn der Krise im Jahre 2001 von der US-Regierung verfolgte expansive Finanz- und Geldpolitik weiter fortgesetzt wurde. Konjunkturstützende Wirkungen der Finanzpolitik vollzogen sich vor allem über die seitdem erfolgten Steuersenkungen. Da sie mit Steuerrückzahlungen für einen Teil der Verbraucherhaushalte verbunden waren, bekamen diese die Verbesserungen ihrer Nettoeinkommen relativ schnell auf ihren Konten zu spüren und wurden entsprechend zum Konsum motiviert. Die Steuerabführungen aller privaten Haushalte sanken vor allem infolge dieser Maßnahmen 2002 um 15 Prozent und im vergangenen Jahr noch einmal um mehr als 6 Prozent.

In noch stärkerem Maße wurde das kräftige Wachstum des privaten Verbrauchs durch die von der US-Notenbank seit Beginn der Krise 2001 konsequent auf Konjunkturstimulierung orientierte Geldpolitik gefördert. Der Leitzins wurde seinerzeit innerhalb eines Jahres von 6,75 auf 1,75 Prozent und später bis auf den jetzt noch bestehenden Satz von 1,0 Prozent heruntergesetzt. Damit wurden die Käufe höherwertiger Konsumgüter auf Kredit und nicht zuletzt der Wohnungsbau erheblich stimuliert. Die Entwicklung der Wohnimmobilien hat überhaupt für die USA-Konjunktur der letzten drei Jahre eine sehr wichtige Rolle gespielt. Während der Hochkonjunktur in der zweiten Hälfte der 90er Jahre war es zu einer kräftigen Expansion der Wohnungsnachfrage gekommen, unter deren Druck die Preise für Wohnimmobilien in die Höhe gingen und die Bauproduktion wuchs. Diese Entwicklung hat sich dank der Niedrigzinspolitik der Zentralbank und der Umlenkung von Geldkapital aus dem Wertpapier- in den Immobilienmarkt in den letzten drei Jahren fortgesetzt und teilweise sogar noch verstärkt. Die Immobilieneigentümer waren damit in einer komfortablen Lage: Auf der einen Seite nahm mit den, zum Beispiel zwischen Juni 2000 und Juni 2003 im Jahresdurchschnitt um 7 Prozent, steigenden Preisen ihrer Wohnhäuser auch den Wert der von ihnen einsetzbaren Kreditsicherheiten kräftig zu. Auf der anderen Seite waren die bei der Aufnahme oder Verlängerung von Krediten zu zahlenden Zinsen während des selben Zeitraums erheblich gesunken, für 30-Jahres-Hypotheken beispielsweise von 8,3 auf 5,3 Prozent. Diese lukrative Möglichkeit zur Vergrößerung der vor allem für den schnelleren Erwerb langlebiger Konsumgüter verfügbaren Mittel wurde ausgiebig genutzt. So erreichte 2003 die Kreditaufnahme aller privaten Haushalte eine Größenordnung, die 12 Prozent ihrer gesamten Jahreseinkommen entsprach und damit einen historischen Rekord bedeutete. Rund 85 Prozent der Kredite wurden dabei als Hypothekendarlehen und nur 15 Prozent als übliche Konsumentenkredite aufgenommen.[2] Erst durch dieses Zusammenspiel mit der inflationären Preisentwicklung für Wohnimmobilien kam somit die Geldpolitik als Instrument zur Ankurbelung der privaten Konsumtionsnachfrage voll zum Tragen.

Einen Kulminationspunkt erreichten diese Effekte im 3. Quartal 2003, als es zu einem zeitlichen Zusammentreffen von Steuerkürzungen mit Umschuldungsterminen für Hypotheken kam, die von Hauseigentümern zur Verminderung ihrer künftig zu zahlenden Zinsen und damit zur faktischen Erhöhung ihrer verfügbaren Einkommen genutzt werden konnten. Beides zusammen wirkte für viele wie eine zu zusätzlichen Käufen herausfordernde Geldspritze. Das ließ die während der vergangenen beiden Jahre ohnehin kräftige Nachfrage nach dauerhaften Konsumgütern noch einmal ruckartig um 7 Prozent (auf Jahresrate umgerechnet 28 Prozent) gegenüber dem Vorquartal hochschnellen; gleichzeitig expandierten auch die Wohnungsbau-Investitionen kräftig. Diese Rekorddaten sind allerdings auf eine kaum wiederholbare Konstellation von Umständen zurückzuführen und markieren offenbar den Höhepunkt des Konsumgüterbooms. Im letzten Quartal 2003 und in den ersten beiden Monaten dieses Jahres verlangsamte sich die Entwicklung dieser konsumtiven Ausgaben dann auch wieder deutlich.

Kennzeichnend für die USA-Konjunktur der letzten drei Jahre war somit, dass es in erster Linie massive und schnell wirksame Finanzspritzen des Staates sowie eine rasch durchgesetzte und seit 2001 durchgehaltene Niedrigzinspolitik der Notenbank – also eigentlich Instrumente eines klassischen „zivilen“ Keynesianismus – waren, die mit dem privaten Verbrauch dem weitaus größten und mit den Wohnungsbau-Investitionen einem weiteren wichtigen Nachfragebereich der Volkswirtschaft kräftige Impulse gaben und dadurch die Konjunktur belebten. Allerdings vermochte es die expansive Wirtschaftspolitik bis zum vergangenen Jahr nicht, auch die Produktions- und Investitionstätigkeit in den Kernbereichen der verarbeitenden Industrie, die bereits den Ausgangspunkt des Abschwungs gebildet hatten, zu stimulieren. Die dort während des Booms in den 90er Jahren hochgetriebene Akkumulation von produktivem Kapital hatte die Kapazitäten weit über die Grenzen einer profitablen Absetzbarkeit der Produktion hinaus erweitert und damit die Profitraten gesenkt. Unter solchen Umständen lassen sich Unternehmen auch nicht durch das Winken mit noch so niedrigen Zinssätzen zu zusätzlichen kreditfinanzierten Investitionen verleiten, die ihre Überkapazitäts- und Verwertungsprobleme noch zu verschärfen drohen.

Gleichzeitig wurde über die enormen Mehrausgaben des Staates, die der Irakkrieg und seine Folgen, die weitere Aufrüstung des Militärpotentials als Instrument zur Durchsetzung des Hegemonialanspruchs der USA und nicht zuletzt der Ausbau des inneren Sicherheits- und Überwachungsapparates verschlingen, auch die „schmutzige“ Variante des Keynesianismus forciert angewandt. Das führte zusammen mit den Steuersenkungen zu einer starken zusätzlichen Belastung des Staatshaushalts. Hatte Bush den Etat 2000 noch mit einem Überschuss von 87 Milliarden Dollar übernommen, so hat sich dieses Guthaben bis zum Haushaltsjahr 2003 in das mit 374 Milliarden Dollar größte Defizit der amerikanischen Geschichte verwandelt.

USA-Konjunktur: Gegenläufige Tendenzen

Die nächsten Aussichten für die USA-Konjunktur werden vor allem durch die Tatsache positiv beeinflusst, dass erstmals nach einer fast dreijährigen Periode des Rückgangs die Ausrüstungs-Investitionen im zweiten Halbjahr 2003 kräftig gestiegen sind; sie lagen insgesamt um 8,5 Prozent über denen des gleichen Vorjahreszeitraums. Maßgeblich dafür war in erster Linie eine besonders hohe Zuwachsrate der Investitionen in Informations- und Kommunikationstechnik sowie Software, die indessen mehr als die Hälfte aller Ausrüstungs-Investitionen ausmachen. Zugleich ist auch die Produktion in einigen Industriezweigen wieder gestiegen, vor allem in den sogenannten High-Tech-Branchen, die nach dem kräftigen Boom der 90er Jahre besonders stark eingebrochen waren. Auf die an diesem Aufwärtstrend beteiligten Zweige entfallen zwar nur rund 15 Prozent der gesamten Industrieproduktion. Wegen deren Schlüsselrolle kann die jüngste Entwicklung aber dennoch als Indiz dafür gewertet werden, dass die Konjunktur jetzt mit wieder wachsenden Investitionen eines Teils der Unternehmen ein neues Standbein erhält und die Aussichten auf einen sich selbst tragenden Aufschwung damit steigen.

Obwohl diese Anzeichen für eine Kräftigung und Verbreiterung der Aufschwungstendenzen sprechen, gibt es durchaus auch Indikatoren dafür, dass die Konjunkturbäume nicht zu hoch in den Himmel wachsen werden. Noch hat die Aufwärtsentwicklung den größten Teil der Industrie nicht erfasst. Dort ist die Produktionsentwicklung noch viel zu schwach, um die während des Booms aufgebauten Überkapazitäten auch nur annähernd auszulasten. Immerhin betrug die durchschnittliche Gesamtauslastung aller Produktionskapazitäten der verarbeitenden Industrie im 2. Halbjahr 2003 nur 73,7 Prozent und lag noch unter dem Vorjahresniveau. Das ist auch einer der Hauptgründe dafür, dass die Konjunkturbelebung sich bislang insgesamt nicht in spürbar zunehmenden Beschäftigtenzahlen ausgewirkt hat. Zudem werden sich die Bedingungen für die weitgehend kreditfinanzierte Expansion des privaten Konsums verschlechtern. Die expansive Geldpolitik der Zentralbank gerät nämlich zusehends in Konflikt mit anderen wirtschaftspolitischen Erfordernissen. Wird die gegenwärtige Politik niedriger Zinsen und der wohlwollenden Hinnahme eines sinkenden bzw. niedrigen Dollarkurses fortgesetzt, dann kann sie den zur Deckung des hohen und weiter gestiegenen Handelsbilanz-Defizits nötigen Zufluss wachsender Mengen ausländischen Kapitals behindern. Sollen die internationalen Kapitalanleger bei der Stange gehalten werden, ist somit ein geldpolitischer Kurswechsel hin zur Förderung lukrativerer Wertpapierzinsen und eines höheren Dollarkurses erforderlich. Das aber wäre für die US-Konjunktur problematisch, weil es die Kredite für Investitionen und den Konsum verteuern sowie die Konkurrenzbedingungen für einen Teil der ausländischen Unternehmen verbessern und für US-Unternehmen verschlechtern würde – mit dem Ergebnis einer noch kräftigeren Zunahme des Außenhandelsdefizits. Dieser Zielkonflikt der amerikanischen Geldpolitik ist nicht nur symptomatisch für die gegenwärtige Risikoanfälligkeit der USA-Wirtschaft, deren Wachstum faktisch an einem Deficit-Spending-Tropf hängt, der aus der übrigen Welt gespeist wird, sondern auch für die Fragilität der gesamten Weltkonjunkturabläufe, die wiederum weitgehend am Wachstum des US-Marktes hängen.

3. Die Konkunktur in der Bundesrepublik: Hoffnungen auf einen Aufschwung

Ungeachtet des dominanten Einflusses der USA auf das weltwirtschaftliche Geschehen darf nicht vernachlässigt werden, dass für die deutsche Wirtschaftsentwicklung die EU, vor allem die Euroländer, deren aktuelle Entwicklungsaussichten aufgrund der besonderen Verkettung von denen unseres Landes kaum zu trennen sind, ein bestimmendes Gewicht haben. Immerhin gehen derzeit rund 43 Prozent aller deutschen Exporte in die Euroländer und weitere 12 Prozent in die übrigen EU-Länder.

Zur Lage in der Eurozone

Nachdem sich die konjunkturelle Abschwächung in der Eurozone im Krisenjahr 2001 deutlich moderater als in den USA vollzogen hatte, kam es während der letzten zwei Jahre zum Wechsel von kurzen Perioden schwachen Wachstums mit Phasen wieder sinkender oder stagnierender Produktion. Insgesamt waren jedoch, wenn auch mit Differenzierungen zwischen den einzelnen Ländern, in diesem Zeitraum Stagnationstendenzen dominierend. Das findet auch darin seinen Niederschlag, dass zur Mitte des vergangenen Jahres das Gesamtsozialprodukt der Euroländer nur um 1 Prozent höher war als unmittelbar vor der Konjunkturabschwächung im 1. Quartal 2001; das Niveau der gesamten Industrieproduktion sank im gleichen Zeitraum sogar um gut 2 Prozent ab. Ungeachtet dessen leistete die Wirtschaftspolitik im Euroland während dieser Zeit keinen nennenswerten Beitrag zur Stimulierung der Konjunktur.

Im vergangenen Jahr war das Gesamtwachstum des BIP mit bescheidenen 0,4 Prozent das schwächste seit Bestehen der Währungsunion; auch die Industrieproduktion nahm nur um die gleiche Rate zu. Nachdem im 1. Halbjahr ein leichter Rückgang der Gesamtproduktion zu verzeichnen war, zeigten sich während der zweiten Jahreshälfte Anzeichen einer möglichen Konjunkturbelebung. Vor allem im letzten Quartal stieg die Industrieproduktion der Eurozone relativ deutlich um 1,7 Prozent gegenüber dem Vorquartal an, das BIP nahm um 0,6 Prozent zu. Ausgelöst wurde diese Belebung jedoch fast ausschließlich durch das sich beschleunigende Wachstum in anderen Teilen der Weltwirtschaft, insbesondere in den USA, und die damit verbundenen Exportaufträge und -erwartungen. Die Binnennachfrage blieb dagegen sowohl bei der Konsumtion wie bei den Investitionen überall schwach. Zudem verbergen sich hinter den EWU-Gesamtzahlen durchaus Unterschiede zwischen den Mitgliedsländern. So stieg im 4. Quartal 2003 die Industrieproduktion vor allem in Frankreich, Belgien, Österreich, Irland und nicht zuletzt in Deutschland relativ deutlich an. Dagegen stagnierte in Italien die Produktion weiter, und in den Niederlanden kam es sogar zu einem deutlichen Rückgang.

Inzwischen sind allerdings die Aufschwungshoffnungen in der Eurozone wieder etwas abgeklungen. So haben im März eine Reihe von Instituten ihre erst zum Jahresbeginn aufgestellten Wachstumsprognosen für 2004 schon wieder herabgesetzt. Auch Umfrageergebnisse bei Verbrauchern und Unternehmen verschlechterten sich. Als Gründe für diese Skepsis wurden vor allem die negativen Auswirkungen des hohen Eurokurses auf die Exporte, Zweifel an der Nachhaltigkeit des USA-Aufschwungs sowie die durchweg zu schwache Konsumtionsnachfrage in den Euroländern angeführt.

Exportwachstum bleibt wichtigste Konjunkturhoffnung

Auch im vergangenen Jahr haben sich in Deutschland die zum Jahresbeginn noch dominierenden Hoffnungen auf den Beginn eines Aufschwungs wieder nicht erfüllt. Auch 2003 setzte sich die in der Tendenz bereits seit der zweiten Jahreshälfte 2000 vorherrschende – wenn auch mehrfach von kurzen und zaghaften Ansätzen einer Belebung unterbrochene – wirtschaftliche Stagnationsperiode fort. Während die Entwicklung des BIP 2002 im Jahresergebnis mit einem Plus von 0,2 Prozent noch knapp über dem Nullpunkt stagniert hatte, setzte sich 2003 die Stagnation mit einem Minus von 0,1 Prozent fort. Das war der erste Rückgang des BIP seit 1993. Fasst man die Ergebnisse von Beschäftigungs-, Sozialprodukts- und Exportentwicklung zusammen, dann war das vergangene Jahr das schwächste seit 2000. Besonders gravierend war, dass die Zahl der Erwerbstätigen im Jahrsdurchschnitt noch einmal um 421.000 absank und die der registrierten Arbeitslosen um 216.000 anwuchs.

Gegen Jahresende zeigten sich Anzeichen verstärkter konjunktureller Aufwärtstendenzen und vor allem -erwartungen. Ein Träger dieser Belebungssignale war wieder der Außenhandel. Dabei waren die deutschen Warenausfuhren 2003 insgesamt mit einer realen Zunahme um 2,5 Prozent deutlich langsamer gewachsen als aus den Vorjahren gewohnt. Dies war wesentlich auf den Kursanstieg des Euro zurückzuführen, der während des gesamten Jahres 2003 gegenüber dem US-Dollar immerhin um 20,5 Prozent und gegenüber den wichtigsten Handelspartnern außerhalb der EWU um durchschnittlich 11,5 Prozent aufwertete. Da die Importe aber insgesamt weniger zunahmen als die Ausfuhren, blieb der Handelsbilanz-Überschuss hoch und verhinderte im Jahresergebnis 2003 eine deutlichere Minusrate des BIP. Gestützt wurde dies vor allem durch eine Zunahme der Ausfuhren in andere Euroländer, nach Mittel- und Osteuropa sowie nach China, das inzwischen zum wichtigsten deutschen Handelspartner in Asien wurde. Demgegenüber waren die Ausfuhren in die USA um 9,7 Prozent, nach Japan um 5,9 und in die OPEC-Staaten um 4,7 Prozent geringer als im Jahr davor. In den letzten Monaten des Vorjahres wuchsen zunächst die Auslandsaufträge und danach im ersten Quartal dieses Jahres auch die Exporte kräftig an.

Die verbreiteten Erwartungen, dass die deutschen Ausfuhren im Verlauf dieses Jahres weiter deutlich steigen und zum Hauptträger eines sich endlich durchsetzenden Konjunkturaufschwungs werden, gehen von dieser aktuellen Verbesserung der Außenhandelsentwicklung aus und setzen für die nächste Zeit vor allem auf zwei begünstigende Umstände: Erstens wird mit einem relativ kräftigen, auch die Investitionen erfassenden Aufschwung auf dem USA-Markt gerechnet, der dann trotz Beeinträchtigung durch einen relativ hohen Eurokurs sowohl direkt in Nordamerika als auch indirekt in den von einer boomenden US-Nachfrage besonders profitierenden asiatischen Länder zu zusätzlicher Nachfrage nach deutschen Produkten führt. Zweitens wird eine Belebung der Investitionstätigkeit in den anderen EU-Ländern erwartet, die eine wieder verstärkte Nachfrage nach deutschen Investitionsgütern nach sich zieht. Dabei wird vor allem darauf gesetzt, dass die deutschen Exporteure ihre Marktpositionen im Euroraum nicht nur aufgrund der technischen Qualität ihrer Investitionsgüter, sondern auch wegen ihrer verbesserten, im Verhältnis zu den Konkurrenten günstigeren Preis- und Kostenrelationen ausgebaut haben.

Tatsächlich spricht manches dafür, dass die deutschen Ausfuhren in diesem Jahr insgesamt kräftiger wachsen als 2003 und damit einer von zwei möglichen Hauptträgern einer baldigen Konjunkturbeschleunigung sein können. Wie stark die Ausfuhrexpansion allerdings tatsächlich werden kann, ist jetzt noch nicht zu beantworten. Dazu steht der erhoffte kräftige Investitionsaufschwung sowohl in den USA als auch in der Eurozone noch auf zu unsicheren Füßen. Da sich gleichzeitig aufgrund des hohen Eurokurses die preislichen Konkurrenzbedingungen für einen Teil der Importeure verbessern, dürften auch die Einfuhren nach Deutschland deutlich zunehmen. Damit wird aber auch der Ausfuhrüberschuss, der in die Berechnung des BIP und der gesamtwirtschaftlichen Wachstumsrate einfließt, nur schwer die Größenordnungen der letzten Jahre erreichen können.

Ausrüstungsinvestitionen: Anzeichen einer Investitionsbelebung

Gegen Ende 2003 gab es erste Anzeichen dafür, dass die Ausrüstungs-Investitionen zum zweiten möglichen Träger einer sich verstärkenden konjunkturellen Aufwärtsbewegung werden können. Sie haben im 4. Quartal 2003 um 1,9 Prozent zugenommen. Das ist fast als ein historisches Ereignis zu werten, denn zuvor sind diese Investitionen, die als Hauptindikator der produktiven Kapitalakkumulation gelten, über einen Zeitraum von drei Jahren hinweg seit dem 4. Quartal 2000 von Vierteljahr zu Vierteljahr ohne Unterbrechung bis auf 80 Prozent des vorher erreichten Niveaus gesunken. Auch für das gesamte Jahr 2003 führte der während der ersten drei Quartale anhaltende Rückgang noch zu einer realen Minusrate von 3,1 Prozent. Korrespondierend dazu hat sich eine ähnliche Entwicklung zuletzt auch in der verarbeitenden Industrie vollzogen. Hier kam es nach zweieinhalb Jahren dominierender Stagnations- oder Rückgangserscheinungen im letzten Vierteljahr 2003 erstmals wieder zu einem kräftigen Produktionsanstieg um 2 Prozent gegenüber dem Quartal zuvor. Auch der Gesamtauslastungsgrad der Kapazitäten, der im 1. Halbjahr auf das niedrigste Niveau seit Mitte der 90er Jahre abgesunken war, erholte sich Umfrageergebnissen zufolge wieder etwas auf 82,5 Prozent.[3] Kräftige Produktionszuwächse hatten vor allem Zweige des Investitionsgüterbereichs wie die Metallerzeugung und -verarbeitung, die Elektrotechnik, Elektronik und EDV sowie der Maschinenbau zu verzeichnen. In den ersten Monaten dieses Jahres setzte sich diese Erholung fort – allerdings in verlangsamtem Tempo.

Tabelle 2: Ausgewählte aktuelle Wirtschaftsdaten Deutschlands (Veränderungen gegenüber der jeweiligen Vorperiode in Prozent)

Tabelle siehe Datei zum Download!

Quellen: Deutsche Bundesbank, Saisonbereinigte Wirtschaftszahlen, Zeitreihen u. Monatsberichte, lfd.; DIW-Wochenbericht, Nr. 9/2004; Statistisches Bundesamt, lfd. Die Angaben zum 1. Quartal 2004 sind teilweise Schätzungen auf der Grundlage der genannten Quellen.

(1) Waren und Dienstleistungen; (2) Die Arbeitsmarktdaten seit Mitte 2003 sind wegen Veränderungen in der statistischen Zuordnung nur bedingt mit den Vordaten vergleichbar und vermitteln teilweise einen geschönten Eindruck.

Der jüngste Investitions- und Produktionsanstieg ist bisher vor allem als eine Reaktion auf das mit der verbesserten internationalen Konjunktursituation eingetretene oder erwartete Anwachsen der Auslandsnachfrage nach deutschen Produkten zu bewerten. Setzt sich das verstärkte Ausfuhrwachstum fort, dann wird dies auch über die unmittelbaren Exportbranchen hinaus, insbesondere im Investitionsgüterbereich, die Absatz- und Profiterwartungen der Unternehmen weiter erhöhen und Erweiterungen von Produktionskapazitäten stimulieren. Damit könnten auch Teile der Inlandsnachfrage nach Produktionsmitteln noch stärker von der Belebung erfasst werden. Allerdings stützt sich eine solche Annahme in der Realität bisher nur auf eine kurze, noch nicht besonders gefestigte und nur bestimmte Bereiche betreffende Investitions- und Produktionsbelebung.

Fortgesetzt hat sich dagegen auch im vorigen Jahr der Rückgang der Bau-Investitionen und damit auch der Produktion des Baugewerbes. Der Abwärtstrend ging allerdings während der zweiten Jahreshälfte in eine Stagnation über; dies war wohl überwiegend auf Vorzieheffekte im Wohnungsbau wegen der befürchteten Kürzung der Eigenheimzulage zurückzuführen. Eine Trendwende, die diesen Sektor zu einer spürbaren Konjunkturstütze machen könnte, ist jedoch nicht in Sicht. Zu stark engen die enormen Leerstände in Büro-, Lager- und auch Wohngebäuden, die leeren öffentlichen Kassen und nicht zuletzt die Einkommensunsicherheit der privaten Haushalte die Wachstumsmöglichkeiten der Bautätigkeit ein.

Anhaltende Schwäche des privaten Konsums

Wie schon 2002 konnte der private Verbrauch als mit einem Anteil zwischen 56 und 58 Prozent am gesamten BIP weitaus größter Nachfrageblock auch im vergangenen Jahr keinen Beitrag zum Wirtschaftswachstum leisten. Nachdem die private Konsumtion sich im Jahresergebnis 2002 um 1,0 Prozent verringert hatte, ging sie 2003 um 0,1 Prozent zurück. Dieses geringere Gesamt-Minus ist jedoch keineswegs Ausdruck einer günstigeren Entwicklung im Jahresverlauf. Lediglich im ersten Quartal war eine leichte Zunahme um 0,4 Prozent zu verzeichnen; danach aber zeigte die Tendenz wieder klar nach unten und die Verbrauchernachfrage ging für den Rest des Jahres von Quartal zu Quartal zurück. Das reale Volumen der Konsumentennachfrage erreichte dabei im letzten, dem Weihnachtsquartal, den niedrigsten Umfang seit dem 1. Quartal 2000. Damit wurden zugleich 56,1 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts für den privaten Verbrauch verwendet, das war der geringste Anteil innerhalb eines Vierteljahres seit Anfang 1992. Die schwache konsumtive Nachfrage hat sich dabei nicht nur auf die Produktion und Beschäftigung in großen Teilen der Industrie und im Baugewerbe negativ ausgewirkt, sondern zunehmend auch die Konjunktur in den Branchen außerhalb der Produktionssphäre beeinträchtigt. So hatten die Bereiche „Private und öffentliche Dienstleister“ mit einer stagnierenden realen Jahresleistung sowie „Handel, Verkehr und Gastgewerbe“ mit einem Zuwachs von nur 0,6 Prozent die schwächsten Ergebnisse seit zehn Jahren zu verzeichnen.

Maßgeblich für die neuerliche Verschlechterung der Verbrauchernachfrage war vor allem die ungünstige Entwicklung der Einkommen, insbesondere der durch sinkende Beschäftigung und wachsenden Lohndruck betroffenen Löhne und Gehälter. Im Jahr 2002 hatte die Gesamtsumme der Nettolöhne und -gehälter gerade noch um minimale 0,2 Prozent zugenommen, was bereits einen realen Rückgang um 1,1 Prozent bedeutete. Im vergangenen Jahr verstärkte sich dieser Negativtrend weiter; die Nettolohn- und -gehaltssumme verringerte sich insgesamt um 0,9 Prozent, was unter Berücksichtigung der Verbraucherpreiserhöhung einem realen Rückgang um knapp 2 Prozent entsprach. Das drückte auch auf die verfügbaren Einkommen der privaten Haushalte, die allerdings wegen der gegenüber den Arbeitnehmerentgelten etwas günstiger ausfallenden anderen Einkommensarten nominal noch um 0,9 Prozent wuchsen, real aber schon mit 0,2 Prozent im Minus lagen. Dabei verschlechterte sich die Situation zum Jahresende hin. So sanken im letzten Vierteljahr 2003 die real verfügbaren Einkommen, vor allem wohl wegen der Weihnachtsgeldkürzungen in einigen Bereichen, gegenüber dem vorausgegangenen Quartal um gut 0,7 Prozent und damit deutlich stärker als im gesamten Jahresdurchschnitt. Die Konsumausgaben wurden nur um 0,3 Prozent gesenkt und überschritten damit noch den von der Einkommensentwicklung gesetzten Ausgabenrahmen, so dass die reale Sparquote von zuvor 10,9 auf 10,6 Prozent sank.

Die Gründe für die gegenwärtige Schwäche der Konsumnachfrage resultieren somit aus handfesten ökonomischen Tatbeständen. Ein großer Teil der Verbraucher hat schlichtweg weniger oder zumindest nicht mehr Geld in der Tasche als bisher und kann sich deshalb manche Ausgaben nicht mehr leisten. Und die bereits in Kraft gesetzten, schon angekündigten oder teilweise chaotisch diskutierten „Reformen“, die alle in die eine Richtung zielen, den Trägern der Massenkaufkraft zusätzliche Belastungen aufzubürden, sind nicht geeignet, deren künftiges Kaufverhalten optimistischer zu gestalten.

Angesichts dessen ist auch für die nächste Zeit vom privaten Konsum allenfalls ein schwaches Wachstum, aber kein aufschwungstimulierender Einfluss zu erwarten. Das gilt auch für den öffentlichen Verbrauch, dem durch die Haushaltslücken und den sogenannten Stabilitätspakt sehr enge Grenzen gezogen sind und dessen Zunahme eher noch geringer ausfallen dürfte. Zählt man noch die Bau-Investitionen hinzu, die zur Stagnation tendieren, dann machen diese drei Nachfragebereiche, die so bald keine einen Aufschwung tragende Dynamik erreichen werden, zusammen rund 86 Prozent des gesamten BIP aus. Wenn für die restlichen, sich derzeit besser entwickelnden Nachfragesektoren, also den Export und seinen Überschuss über den Import sowie die Investitionen in Ausrüstungen und sonstige Anlagen, die bisher jeweils positivsten Wachstumsvorausschätzungen für 2004 zugrunde gelegt werden, dann erscheint insgesamt für 2004 ein Gesamtwachstum in der Größenordnung zwischen 1,0 bis 1,5 Prozent möglich. Das würde nur zu einer gewissen konjunkturellen Entspannung führen. Es würde aber unter den jetzigen Bedingungen weder ausreichen, die Beschäftigungskrise insgesamt wirksam zu mildern, noch den Abstieg weiter Teile Ostdeutschlands zu einem bundesrepublikanischen Mezzogiorno spürbar zu verlangsamen.

Wirtschaftspolitik und „Reformen“ wirken wachstums-
hemmend

Die deutsche Wirtschaft muss sich deshalb wohl weiter in einen Aufschwung hinein schleppen, und es ist zu befürchten, dass dieser dann dementsprechend ausfallen wird. Wie gezeigt wurde, ist dies in erster Linie auf die zu schwache Dynamik der Binnennachfrage und vor allem der privaten Konsumtion, zurückzuführen. Eine wesentliche Mitschuld daran trägt die Tatsache, dass die Wirtschaftspolitik sowohl in Deutschland als auch im EU-Maßstab ihrer Grundtendenz nach konjunkturhemmend angelegt ist und in den letzten Jahren zunehmend auch so gewirkt hat.

Die rotgrüne Regierung hat unsere vorjährige Einschätzung[4], dass sie mit der Verschärfung ihrer Sozialabbau- und Sparvorhaben einen sozialpolitischen Ruck nach rechts getan habe, inzwischen mit der forcierten Ingangsetzung und Ankündigung weiterer einseitig die Massen der Arbeitnehmer, Rentner, Arbeitslosen und anderen sozial Benachteiligten belastenden Maßnahmen vollauf bestätigt. Sie hat sich damit – oft auch unter zusätzlichem Druck der über die Bundesratsmehrheit verfügenden CDU/CSU – in noch stärkerem Maße den immer dreister vorgebrachten neoliberalen Forderungen des Großkapitals und seiner Gefolgsleute in der politischen Klasse sowie in den meinungsbildenden Institutionen unterworfen. Alle diese Forderungen münden darin, vor allem über die drei Komplexe Deregulierung des Arbeitsmarktes, weitgehenden Abbau der bestehenden Sozialsysteme mit gleichzeitiger Reduzierung der Staatsausgaben sowie weitere Steuersenkungen für Unternehmer und Reiche die Angebotsbedingungen ‑ oder richtiger ausgedrückt, die Profitbedingungen ‑ nachhaltig zu verbessern. Allein dies würde angeblich zu mehr Investitionen, Wachstum und Beschäftigung führen.

Rot-Grün: 50 Mrd. Euro Steuergeschenk für Unternehmer

Die ökonomische Wirklichkeit hat den Beweis für diesen von den vorherrschenden neoliberalen Dogmen behaupteten Kausalzusammenhang bislang nicht erbracht. Das soll hier am Beispiel einer vor drei Jahren in Kraft gesetzten Reform gezeigt werden. Die rot-grüne Regierung hatte schon kurz nach dem Rücktritt Lafontaines durch Veränderungen der Körperschaftsbesteuerung ab 2001 eine bisher in dieser Größenordnung nicht gekannte Steuerschenkungsaktion zugunsten des Großkapitals in Gang gesetzt. Vor allem die Herabsetzung des Steuersatzes auf 25 Prozent sowie die Steuerfreistellung der Konzerne für Gewinne beim Verkauf von Anteilen und Beteiligungen führten zunächst dazu, dass der Fiskus im Jahre 2001 infolge der Ausschüttungspolitik der Unternehmen wegen hoher Rückerstattungsforderungen nicht nur völlig auf Einnahmen aus der Körperschaftsteuer verzichtete, sondern darüber hinaus noch Rückzahlungen an die Konzerne zu leisten hatte. Insgesamt sind dadurch in den letzten drei Jahren nur 10,7 Milliarden Euro aus dieser Steuerart an den Haushalt abgeführt worden. Ohne diese Steuersenkungen hätten aber rund 61 Milliarden gezahlt werden müssen.[5] Innerhalb von drei Jahren haben die deutschen Konzerne also durch dieses mehr als großzügige Steuergeschenk schon bis jetzt einen Ertragszuwachs von gut 50 Milliarden Euro eingestrichen. Und sie werden dank der neuen Besteuerungsregeln auch künftig Jahr für Jahr einen Betrag von etwa 10 Milliarden Euro Steuern Körperschaftsteuer weniger zu zahlen haben. Das sind Zuwendungen an das Großkapital in einer volkswirtschaftlich durchaus relevanten Größenordnung.

Das provoziert die Frage, was die Konzerne mit den 50 Milliarden gemacht haben, die ihnen bisher durch Steuerverzicht zusätzlich zur Verfügung standen. Gab es während dieser drei Jahre etwa eine Häufung von Meldungen über Investitionen deutscher Großunternehmen zur Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze? Das war mitnichten der Fall, vielmehr häuften sich auch weiterhin die Hiobsbotschaften über vollzogene oder beabsichtigte Vernichtungen von Arbeitsplätzen durch diese Unternehmen. Sind der Rückgang der Beschäftigung und die Zunahme der Arbeitslosigkeit in diesem Zeitraum wenigstens zum Stillstand gekommen? Auch hierbei hat sich an der negativen Entwicklung nichts verändert. Die Gesamtzahl der Erwerbstätigen war Ende 2003 um rund 750.000 geringer als drei Jahre zuvor, und die Zahl der registrierten Arbeitslosen stieg in der gleichen Zeit um 563.000 Menschen an. Die enorme Finanzspritze hat somit an der Handlungsweise der Konzerne nichts verändert – sieht man von eventuellen zusätzlichen Aktivitäten bei der Inszenierung fragwürdiger Fusionsvorhaben oder bei der Anhebung von Managereinkünften und Dividenden einmal ab. Ihre Klagelieder über die Nachteile des Standorts Deutschlands – nicht zuletzt auch seiner Steuerbedingungen – und ihre entsprechenden Forderungen sind eher noch lauter geworden, und auch die neoliberalen Sprechblasen ihrer Gefolgsleute in Politik, Wissenschaft und Medien haben den gleichen Inhalt wie zuvor.

Ein greifbares Ergebnis aber hat diese Reform. Sie hat durch die mit ihr verbundenen Ausfälle von Steuereinnahmen das Loch in den Staatsfinanzen weiter beträchtlich vergrößert. Diese ohne volkswirtschaftlichen Nutzen den Konzernen zugute kommenden Quasi-Subventionen wären für zusätzliche öffentlich Investitionen und gezielte investitionsfördernde Maßnahmen wesentlich besser eingesetzt gewesen. Jetzt aber tragen sie zur Einengung des Nachfragefaktors Staatsausgaben bei, ohne vom Finanzminister allerdings jemals als einer der Gründe für verstärkte Sparzwänge genannt zu werden. Dafür müssen nach wie vor die angeblich nicht mehr tragbaren Sozialleistungen des Staates herhalten.

Restriktive Wirkungen der EU-Finanzpolitik

Der die Entwicklung der privaten und öffentlichen Nachfrage einengende restriktive Kurs der Finanzpolitik ist jedoch nicht nur eine hausgemachte deutsche Angelegenheit. Die absolute Priorität angebotsorientierter Ziele unter weitgehendem Verzicht auf konjunkturpolitische Erfordernisse ist nicht nur von der Bundesregierung verinnerlicht worden, sondern bildet auch die oberste geld- und finanzpolitische Prämisse der Europäischen Währungsunion. Die beteiligten Staaten wurden mit der Einführung einer gemeinsamen Währung trotz fehlender gemeinsamer wirtschafts-, finanz- und sozialpolitischer Ausgangspositionen sowie erheblicher Unterschiede im ökonomischen Entwicklungsstand wie auch in den außenpolitischen Interessenlagen an die Kette einer einheitlichen, zentral gesteuerten Geldpolitik gelegt. Und die ist eben völlig einseitig auf neoliberal-monetaristische Zielvorstellungen eingeschworen. Sie finden vor allem in den Kriterien des sogenannten Stabilitäts- und Wachstumspakts ihren Niederschlag.

Das bisher am meisten diskutierte und gegenüber verschiedenen Ländern zumindest als Druckmittel auch angewandte Kriterium ist die Begrenzung der jährlichen Neuverschuldung des Staates auf einen Höchstbetrag, der drei Prozent des jeweiligen Bruttoinlandsprodukts nicht überschreiten darf. Diese angeblich zur Preisstabilisierung notwendige, aber im Grunde willkürlich festgeschriebene und ohne Berücksichtigung jeglicher anderen volkswirtschaftlichen Tatbestände anzuwendende Limitierung zwingt den betroffenen Ländern auch in konjunkturellen Krisen- und Schwächephasen eine restriktive Finanzpolitik auf, und zwar ohne Rücksicht auf die Folgen für das jeweilige Land sowie für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung des Euroraums. Ebenso wenig spielt es eine Rolle, ob tatsächlich irgendeine Inflationsgefahr gegeben ist. Die starren Anwendungsregeln machen dieses Kriterium zu einer Wachstumsbremse. So würde es auch wirken, wenn es unter den gegenwärtigen Bedingungen konsequente Anwendung fände. Derzeit sind sechs der zwölf Eurostaaten, in denen knapp 75 Prozent der Gesamtbevölkerung der Eurozone leben, von Verfahren wegen der Überschreitung des Limits betroffen oder zumindest bedroht. Zwei weitere Länder haben ein anderes Schuldenkriterium verletzt, das für die angelaufene Gesamtverschuldung des Staates eine Grenze von 60 Prozent des BIP vorsieht, und müssten deswegen gleichfalls unter Kuratel gestellt werden. Unbescholten blieben dann nur noch Spanien, Finnland, Irland und Luxemburg mit 16 Prozent der Euroland-Bevölkerung. Bei alledem liegt die Inflationsrate aber deutlich unter dem Richtwert der EZB. Diese absurde, aber konkrete Situation zeigt deutlich, dass die oft strapazierte Forderung nach Reformen endlich auch auf die EWU und ihr realitätsfremdes Regelwerk bezogen werden muss und als erstes bei der Korrektur oder besser noch der Streichung der monetaristischen Stabilitätskriterien ansetzen sollte. Ähnlich konjunkturfeindlich vollzieht sich auch die Geldpolitik der EZB, die bei nicht vorhandener Inflationsgefahr, aber durchweg schwachem Wachstum und erheblicher, die Exportchancen der Mitgliedsländer beeinträchtigender Euroaufwertung, nichts tut, um durch eine Senkung ihrer Leitzinsen wenigstens ein wechselkurs- und konjunkturpolitisches Signal zu setzen.

Die Bundesregierung aber akzeptiert diese einseitigen und unsinnigen Regeln und Praktiken nicht nur. Sie scheint eher ganz zufrieden damit zu sein, sich beim Vollzug der Agenda-Reformen, den damit verbundenen Sparmaßnahmen in den öffentlichen Haushalten und der weiterhin zu befürchtenden schwachen Konjunktur gegebenenfalls hinter den Zwängen des Maastricht-Vertrages und der Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank verschanzen zu können.

* Die letzte Jahresübersicht erschien in Z 54, Juni 2003, S. 97ff.

[1] Insbesondere in der USA-Statistik werden die prozentualen Veränderungen zum jeweils vorausgegangen Quartal häufig mit 4 multipliziert und als „Jahresrate“ bezeichnet, um auszusagen, zu welchem Wachstum über ein Jahr hinweg es führte, wenn ein Indikator während dieses Zeitraums von Quartal zu Quartal in dem gleichen Tempo weiter wüchse.

[2] Vgl. hierzu: R. Brenner, Neuer Boom oder neuer Bubble?, Supplement zur Zeitschrift „Sozialismus“, Nr. 4/2004, S. 17 ff.

[3] Deutsche Bundesbank, Monatsbericht, Februar 2004, S. 45.

[4] Vgl. den Konjunkturbericht 2002/2003, in: Z 54, Juni 2003, S. 112.

[5] Für diese Berechnungen wurde das durchschnittliche Körperschaftsteuer-Aufkommen der letzten vier Jahre (1997-2000) vor dem Beginn der Steuersenkungen zugrunde gelegt.