Öffentlichkeit – Medien – Krieg

Inklusion statt Revolution

Habermas und der „neue Strukturwandel der Öffentlichkeit" (Leviathan- Sonderband, 2021)

von Michael Zander
September 2022

Es ist sicher ungewöhnlich, dass ein Autor mit Anfang 30 ein bedeutendes und einflussreiches Werk vorlegt und knapp sechs Jahrzehnte später Gelegenheit hat, auf das darin verhandelte Thema erneut zurückzukommen. Die Rede ist von Jürgen Habermas und seiner von Wolfgang Abendroth betreuten Habilitationsschrift über den Strukturwandel der Öffentlichkeit aus dem Jahr 1962. Das anhaltende Interesse an der historischen Studie verdankt sich wohl nicht zuletzt dem Umstand, dass Habermas darin die Entstehung eines institutionellen Rahmens für die politische Auseinandersetzung rekonstruiert, dessen Existenz man allzu leicht für selbstverständlich halten würde. Der Autor zeigt, wie sich in Frankreich, England und Deutschland im 18. und 19. Jahrhundert eine „bürgerliche Öffentlichkeit“ herausbildet, deren Geschichte und Verfall er bis in die „Adenauer-Zeit“ der damaligen Bundesrepublik nachverfolgt. „Aufgabe der vorliegenden Untersuchung ist die Analyse des Typus ‚bürgerliche Öffentlichkeit‘“, heißt es bündig im Vorwort von 1961.[1]

Seit damals sind zahlreiche Publikationen der Frage nachgegangen, wie sich die Öffentlichkeit in der Zwischenzeit verändert hat, insbesondere unter den Bedingungen der Vorherrschaft digitaler Medien. Der von Martin Seeliger und Sebastian Sevignani herausgegebene Sonderband der Zeitschrift Leviathan sticht aus zwei Gründen heraus: Zum einen erscheint er in einer Zeit gesellschaftlicher Krisen und Umbrüche, die in den Beiträgen reflektiert wird, zum anderen ist Habermas selbst darin mit einem ausführlichen Aufsatz vertreten.[2] Bevor auf diesen Band genauer eingegangen wird, soll Habermas‘ ursprünglicher Ansatz kurz skizziert werden.

1. Bürgerliche Öffentlichkeit und demokratischer Sozialismus

Die bürgerliche Öffentlichkeit, so ein Kerngedanke des Buchs, entsteht im Zuge der Emanzipation des Bürgertums von feudalen Verhältnissen. „Öffentlichkeit“ in diesem Sinne meint zunächst, dass sich Angehörige der bürgerlichen Klassen, deren relative Autonomie auf dem Privateigentum an Produktionsmitteln beruht, über die Angelegenheiten des Gemeinwesens austauschen und zugleich Mitsprache bei dessen Gestaltung einfordern. Es geht um eine „Selbstverständigung derer, die sich zur Mündigkeit berufen fühlen.“[3] Die „plebejische“ (Gegen-) Öffentlichkeit ist nicht Thema des Buches; der Ausschluss von Frauen wird behandelt, allerdings eher am Rande. Auf einer abstrakten Ebene ist der sukzessiv erweiterte Zugang der bisher von der Öffentlichkeit Ausgeschlossenen zentral für die Analyse. Im Zuge der historischen Entwicklung vollzieht sich ein „Strukturwandel der Öffentlichkeit“: „Auf dem Wege vom Journalismus der schriftstellernden Privatleute zu den öffentlichen Dienstleistungen der Massenmedien verändert sich die Sphäre der Öffentlichkeit durch das Einströmen privater Interessen, die in ihr privilegiert zur Darstellung kommen –, obwohl sie keineswegs mehr eo ipso für die Interessen der Privatleute als Publikum repräsentativ sind.“[4] Die Rede ist auch von einer „unter dem Druck kollektiver Privatinteressen vermachteten Öffentlichkeit.“[5]

Mit Blick auf die damalige Bundesrepublik und andere liberale Demokratien mit sozialstaatlichem Anspruch diagnostiziert Habermas eine widersprüchliche Tendenz. Einerseits würden ursprüngliche Abwehrrechte gegen die Einmischung des Staates, wie die Meinungsfreiheit oder das Versammlungsrecht, zunehmend als „Teilhaberechte“[6] reklamiert, deren Verwirklichung öffentlich und staatlich ermöglicht werden müsse; andererseits drohe eine „Refeudalisierung“ der Öffentlichkeit durch eine machtvermittelte und zu manipulativen Zwecken eingesetzte Publizität.[7] Eine mögliche politische Lösung dieses Widerspruchs wird lediglich angedeutet: Von Wolfgang Abendroth übernimmt Habermas den Gedanken, dass die entscheidende Frage nicht sei, ob man Menschen entweder ihrer individuellen Freiheit oder den Regelungen des Staates überlasse, sondern vielmehr, ob man Menschen den Partikularinteressen der Besitzenden unterwerfe oder sie gleichberechtigt an der Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens- und Produktionsprozesses beteilige.[8] Damit ist implizit die Perspektive eines demokratischen Sozialismus skizziert, in dessen Rahmen sich die Öffentlichkeit auch über die Anwendung der nunmehr vergemeinschafteten Produktionsmittel verständigt.

Zur Zeit der Abfassung und Veröffentlichung seiner Habilitationsschrift sah sich der als Marxist wahrgenommene Habermas im antikommunistischen Klima der Bundesrepublik Distanzierungen und Anfeindungen ausgesetzt. Dass Habermas, einst Mitarbeiter am Frankfurter Institut für Sozialforschung und Assistent von Theodor W. Adorno, sich bei Wolfgang Abendroth habilitierte, hatte damit zu tun, dass der Institutsleiter Max Horkheimer ihm (hinter seinem Rücken) vorwarf, an der Idee der Revolution festzuhalten, und auf seine Entlassung hinwirkte. An der Universität Marburg versuchten Professoren, das Habilitationsverfahren zum Scheitern zu bringen – erfolglos, dank des Einsatzes von Abendroth.[9]

Im Laufe der späten 1970er Jahre wandte er sich jedoch selber zunehmend vom marxistischen und kapitalismuskritischen Denken ab. Dies zeigt sich unter anderem in seinem neuen Vorwort zu seiner Habilitationsschrift, das 1990 unter dem Eindruck des Zusammenbruchs der DDR und anderer „realsozialistischer“ Staaten in Osteuropa entstand. Darin beschäftigt er sich ausführlicher mit der Frauenemanzipation und den Geschlechterverhältnissen, außerdem verweist er auf spätere Arbeiten zur proletarischen (Gegen-) Öffentlichkeit, deren Untersuchung er in seiner Habilitationsschrift noch bewusst ausgeklammert hatte.[10] „Der Sozialstaatsgedanke“, so Habermas im Rückblick auf seine frühere eigene und auf Abendroths Position, „sollte als Hebel für einen radikaldemokratischen Reformismus dienen, der die Perspektive für einen Übergang zum demokratischen Sozialismus mindestens offenhielt.“[11] Er, Habermas, habe damals jedoch die Komplexität moderner Gesellschaften unterschätzt. Ökonomie und Staat könnten „nicht mehr von innen demokratisch umgestaltet“, ohne „in ihrer Funktionsfähigkeit gestört zu werden“; der „Bankrott des Staatssozialismus“ habe dies bestätigt; möglich sei lediglich eine „Eindämmung der kolonialisierenden Übergriffe der Systemimperative auf lebensweltliche Bereiche.“[12] Zwischen gesellschaftlichem (kapitalistischem) „System“ und subjektiv erfahrbarer sowie symbolisch vermittelter „Lebenswelt“ unterschied Habermas – im Anschluss an Talcott Parsons – bereits Anfang der 1970er Jahre.[13] Aber die Perspektiven einer Aufhebung des (großen) Eigentums an den Produktionsmitteln und eines demokratischen Sozialismus haben sich für ihn knapp zwei Jahrzehnte später erledigt. Revolutionen sind für ihn nur noch denkbar, sofern sie „nachholend“ sind in dem Sinne, dass sie bürgerlich-demokratische Verhältnisse einführen oder vertiefen. Nach dem Ende der DDR gibt es zwar noch „ökonomische Rückstände“, „Hungerkatastrophen in der Dritten Welt“ und „Risiken eines überlasteten Naturhaushaltes“, aber der Linken wird nur noch die Funktion zugeschrieben, „radikalreformistische Selbstkritik einer kapitalistischen Gesellschaft“ zu leisten.[14]

2. „Inklusion“ und „Deliberation“ als zentrale Begriffe

Obwohl sich Habermas nicht von heute auf morgen, sondern in einem längeren Prozess vom Marxismus als wissenschaftlichem und politischem Paradigma entfernt hat, ist sein kurzangebundenes negatives Urteil über radikaldemokratische Eingriffe in die ökonomische und staatliche Ordnung doch überraschend. Immerhin hätte man auch ganz anders argumentieren können, etwa dahingehend, dass eine vollständige und gleichberechtigte Einbeziehung aller Gesellschaftsmitglieder radikale Eingriffe erforderlich mache, dass das Scheitern eines spezifischen sozialistischen Ansatzes unter bestimmten historischen Umständen nicht das Scheitern jeder wünschenswerten Alternative zum Kapitalismus impliziert und dass die Bewältigung von gesellschaftlicher Komplexität im Rahmen eines theoretisch-praktischen Lernprozesses gelingen könnte. Schon bald nach dem Untergang der „realsozialistischen“ Staaten in Osteuropa kam es jedenfalls in Deutschland und anderen Ländern zu einem „neoliberalen Politikwechsel“[15]. Dieser fiel derart gravierend aus, dass es untertrieben wäre, darin nur eine „Kolonialisierung“ der Lebenswelt durch das ökonomische System sehen zu wollen. Vielmehr führte er zu einer tiefgreifenden Umgestaltung des gesellschaftlichen Lebens und der öffentlichen Institutionen. Heute macht Habermas auf das „prekäre Verhältnis zwischen dem demokratischen Staat und einer kapitalistischen Wirtschaft, welche soziale Ungleichheiten tendenziell verstärkt, aufmerksam.“[16] Der Staat, so Habermas, müsse für „ausreichende Verwertungsbedingungen des Kapitals sorgen“ und zugleich „das Interesse breiter Schichten an den rechtlichen und materiellen Voraussetzungen für die Ausübung ihrer privaten und öffentlichen Autonomie befriedigen.“[17]

„Inklusion“ und „Deliberation“ bleiben die zentralen Begriffe von Habermas‘ Theorie der politischen Öffentlichkeit. Während Inklusion die gleichberechtigte Einbeziehung aller von einer Entscheidung Betroffenen bedeutet, meint Deliberation eine Verpflichtung der Beteiligten zur rationalen Argumentation. Die Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit ist für Habermas dabei eine Antriebsquelle für gesellschaftlichen Fortschritt. Die „sozialen Bewegungen, die das Bewusstsein für die unvollständige Inklusion der unterdrückten, marginalisierten und entwürdigten, der heimgesuchten, exploitierten und benachteiligten Gruppen, sozialen Klassen, Subkulturen, Geschlechter, Rassen, Nationen und Erdteile immer wieder aufrütteln, erinnern an das Gefälle zwischen der Positivität der Geltung und den noch ungesättigten Gehalten der inzwischen nicht mehr nur national ‚erklärten‘ Menschenrechte.“[18] Entfernt erinnern diese Sätze an Marxens berühmten „kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen“ ist.[19] Ein entscheidender Unterschied zwischen den beiden Zitaten ist bei Habermas das Fehlen einer Perspektive grundlegender Gesellschaftsveränderung und eines expliziten Hinweises auf Herrschaftsverhältnisse, die sich angemessen nicht in Metaphern von Inklusion und Exklusion, sondern von „oben“ und „unten“ beschreiben lassen, und die es wert wären, „umgeworfen“ zu werden. Zu problematisieren wäre die unterschiedslose Reihung der Kategorien. Abgesehen von den Fragezeichen, die man hinter den Begriff der „Rasse“ setzen sollte, verschwinden darin die spezifischen Eigenarten der in den Begriffen zumindest implizit angesprochenen Verhältnisse, insbesondere die mit der Existenz von Klassen (im Marxschen Sinne) notwendig verbundenen Macht- und Ausbeutungsbeziehungen. Gleichwohl trifft Habermas mit seiner Charakterisierung der unausgeschöpften Potenziale liberaler Gesellschaften einen richtigen Punkt. Man kann ihm einerseits bescheinigen, eine spezifische Dynamik liberaler Öffentlichkeiten früh erkannt und vorweggenommen zu haben, ihm andererseits aber auch vorhalten, dass er sich in seiner Theorie der Selbstbeschreibung ebenjener Öffentlichkeiten stark angenähert und sich damit die Möglichkeit eines grundsätzlich kritischen Standpunkts diesen gegenüber genommen hat.

3. Umwälzung der politischen und medialen Landschaft

Dementsprechend betrachtet er gesellschaftliche Krisen vor allem als Anzeichen dafür, dass die liberale Öffentlichkeit ihren selbstgesteckten Ansprüchen nicht gerecht wird. Eine Ursache für den Aufstieg der rechtspopulistischen Bewegungen um den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump sieht er darin, dass „die politischen Eliten seit Jahrzehnten die legitimen, von der Verfassung gewährleisteten Erwartungen eines erheblichen Teils ihrer Bürger enttäuscht“[20] haben. Mit Blick auf die Bundesrepublik macht er auf den Zusammenhang zwischen Sozialstatus und Wahlbeteiligung aufmerksam; Wahlenthaltung und Zustimmung zu rechtspopulistischen Positionen hätten eine Ursache darin, dass Wahlen nicht „zur Korrektur von erheblichen und strukturell verfestigten Ungleichheiten“ führten.[21]

Der Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen fällt zusammen mit einer wachsenden Bedeutung digitaler Medien. Das einstige mit der Netztechnologie verknüpfte emanzipatorische Versprechen freier Kommunikation und Entlassung aus der „redaktionellen Vormundschaft“ der alten Medien werde heute übertönt „von den wüsten Geräuschen in fragmentierten, in sich selbst kreisenden Echokammern“; dieser Preis sei zu zahlen, solange die Nutzer den Umgang mit den neuen Medien noch nicht gelernt hätten.[22] Habermas verweist auf empirische Untersuchungen, denen zufolge sich der tägliche Medienkonsum auf acht Stunden aufgebläht habe und Unterhaltungsformate einen immer größeren Anteil daran hätten (siehe dazu den Beitrag von F. Nehring in diesem Heft). Der Konsum gedruckter Zeitungen gehe insbesondere in der jüngeren Generation ebenso deutlich zurück wie die durchschnittliche Lesedauer von Texten. Die Verbreitung von Fake News erschüttere dabei das Vertrauen in die alten Medien und trage so zu einer Unterminierung der Öffentlichkeit bei. Habermas scheint allerdings darauf zu vertrauen, dass das Publikum den Umgang mit den neuen Medien noch lernen und auch dort qualitative und redaktionelle Standards setzen werde. Nach Einführung des Buchdrucks, so Habermas, habe es schließlich auch lange gedauert, bis alle lesen konnten. Eine Forderung nach Enteignung der Internetkonzerne und nach einem öffentlich-demokratisch kontrollierten Netz findet sich bei ihm freilich nicht.

Mit dem von Habermas konstatierten „revolutionären Charakter der neuen Medien“[23] befassen sich u.a. Philipp Staab und Thorsten Thiel in ihrem Beitrag im Leviathan-Band.[24] Die Autoren verknüpfen Shoshana Zuboffs Theorie des „Überwachungskapitalismus“ mit Andreas Reckwitz‘ These von der sogenannten Singularität. Einerseits generieren Digitalkonzerne Profite, indem sie mit Userdaten handeln und auf Grundlage eines „datenzentrierten Behaviorismus (…) Handlungsoptionen im digitalen Raum“ so gestalten, dass ein „spezifisches Verhalten“[25] und „individuelle Konsumpräferenzen“[26] erzeugt werden; andererseits ließen sich Menschen auf die Nutzung solcher digitalen Infrastrukturen ein, weil diese es ihnen ermöglichten, Einzigartigkeit zu inszenieren durch Veröffentlichung persönlicher Selbstdarstellungen, Fotos usw. Eine Folge dieses Trends sei, dass an die Stelle politischer Öffentlichkeit ein „Kampf um Aufmerksamkeit, Beeinflussung und Datenhoheit“[27] trete.

Nicht nur Individuen, sondern auch Institutionen lassen sich in diesen „Kampf um Aufmerksamkeit“ verwickeln. Diesen Eindruck gewinnt man jedenfalls, wenn man bei Georg Krücken über den „Transformationsprozess“ liest, den deutsche Universitäten in den zurückliegenden zwei Jahrzehnten im Zuge verschärfter Konkurrenz durchgemacht haben.[28] Die Rede ist von „‘Markenbildung‘, Vernetzung, Wettbewerbsorientierung“[29], „Rankings“, „Logos“, „Leitbildern, Merchandising, Imagebroschüren (…) Werbevideos“ und „‚Branding‘“[30]. Eine explizite Kritik an derartigen Phänomenen formuliert der Autor nicht, im Gegenteil: Wenn er die Rolle der Hochschulen als „Sozialisationsinstanzen“ damit begründet, dort würden „Grundprinzipien der modernen Individualität wie Eigenverantwortung, Frustrations- und Ambiguitätstoleranz und Expressivität eingeübt“[31], dann übernimmt er unhinterfragt herrschendes ideologisches Vokabular. In seiner Schilderung erscheinen die Bedingungen an den Hochschulen als Ergebnis eines subjektlosen Prozesses und nicht als Resultat politischer Entscheidungen wie den „Bologna-Reformen“.

Im Gegensatz dazu beschäftigen sich Ulrich Brinkmann und Heiner Heiland mit betrieblichen Öffentlichkeiten aus einer marxistischen Perspektive.[32] In der betrieblichen Öffentlichkeit könnten sich die Arbeitenden potenziell über die Gestaltung ihrer Arbeitsbedingungen austauschen. Die Kapitalseite verfüge allerdings über umfangreiche Mittel, diese Öffentlichkeit zu limitieren und zu spalten, sei es durch den Einsatz von Leiharbeitenden oder von unverfügbaren Technologien, die Entscheidungen der Geschäftsführung als Sachzwänge erscheinen lassen. Die Autoren konkretisieren dies am Beispiel der Auseinandersetzungen zwischen den Beschäftigten von Essenslieferdiensten und ihren Firmenleitungen. Gegen alle Verhinderungstaktiken gelinge es den „Ridern“, „digitale Kommunikationsformen kreativ für sich zu nutzen und (…) eine eigensinnige plebejische Öffentlichkeit zu erzeugen.“[33]

4. Die ökologische Existenzkrise

Habermas schreibt, die westlichen Demokratien seien „in eine Phase zunehmender innerer Destabilisierung eingetreten“, die unter anderem „durch die Herausforderungen der Klimakrise“ verstärkt werde.[34] Derzeit spreche „nicht viel für den wünschenswerten Politikwechsel zu einer sozialökologischen Agenda“[35]. Das Thema der ökologischen Krise ist keineswegs neu, es erfährt allerdings nicht die mediale Aufmerksamkeit, die es verdient hätte (siehe dazu den Beitrag von D. Goeßmann in diesem Heft). Anfang der 1970er Jahre hatte Habermas – gestützt auf einen Aufsatz des Physikers und Philosophen Klaus Michael Meyer-Abich[36] – das Problem des Klimawandels noch deutlich schärfer und konkreter formuliert: Wirtschaftliches Wachstum sei an steigenden Energieverbrauch gekoppelt, der „auf die Dauer eine globale Erwärmung zur Folge“ habe, wobei sich „nach dem derzeitigen Wissensstand (…) ein kritisches Zeitintervall von 75 bis 150 Jahren“ ergebe.[37] Ein exponentielles Wachstum von Bevölkerung und Produktion müsse „eines Tages an die Grenzen der biologischen Umweltkapazität“ stoßen. Dieser Zusammenhang gelte für alle komplexen Gesellschaftssysteme, allerdings könnten kapitalistische Gesellschaften ihr Wachstum nicht begrenzen, ohne ihr zentrales Organisationsprinzip zu verändern, weil eine Umstellung auf „qualitatives Wachstum eine gebrauchswertorientierte Planung der Produktion“ erfordere.[38] Übrigens wurde seinerzeit auch in der DDR registriert, dass durch die „Verbrennung enormer Mengen von Erdöl, Kohle u.a. Brennstoffen der Kohlenstoffgehalt in der Atmosphäre beträchtlich erhöht“ werde, wodurch „die Temperatur auf der Erde“ steige.[39] Allerdings wurden die damit verbundenen Gefahren und die Notwendigkeit politischer Gegenmaßnahmen nicht thematisiert oder sie durften nicht thematisiert werden, was wiederum Fragen nach den spezifischen Charakteristika der Öffentlichkeit im „realen Sozialismus“ der DDR aufwirft.

Zwanzig Jahre später – nach dem Ende des „Realsozialismus“ in Europa – schreibt der Historiker Eric Hobsbawm, das wirtschaftliche Wachstum und der Ressourcenverbrauch der Menschheit müssten begrenzt werden, um eine fundamentale Krise zu vermeiden. Ein neues Gleichgewicht im gesellschaftlichen Stoffwechsel mit der Natur „wäre unvereinbar mit einer Weltwirtschaft, die auf dem unbegrenzten Profitstreben von Wirtschaftsunternehmen beruht, welche ja per definitionem diesem Ziel verpflichtet sind und die darum auf einem freien Weltmarkt konkurrieren. (…) Wenn die Menschheit eine Zukunft haben soll, kann der Kapitalismus der Krisenjahrzehnte keine haben.“[40]

5. Krieg, Öffentlichkeit, Feindbilder

Auffällig ist, dass im Leviathan-Band die Kriege und Kriegsverbrechen und deren öffentlich-mediale (Nicht-)Thematisierung kaum vorkommen. Das gilt z.B. für die Propagandalügen, mit denen der damalige US-Präsident George W. Bush und der britische Premierminister Anthony Blair 2003 im Vorfeld des Irakkriegs die internationale Öffentlichkeit zu täuschen versuchten. Lediglich Nancy Fraser verweist am Rande auf die Aktivitäten der Plattform Wikileaks und darauf, dass auch Bushs Nachfolger Barack Obama den „Krieg gegen den Terror“ fortsetzen, den Sicherheitsstaat weiter ausbauen und Whistleblower verfolgen ließ, die die globale Internet- und Telekommunikationsüberwachung durch die US-Regierung aufgedeckt hatten.[41] Edward Snowden, der ein hohes persönliches Risiko auf sich genommen hat, um dieses nach wie vor intakte Überwachungsregime öffentlich zu machen, wird im Beitrag von Claudia Ritzi am Rande erwähnt, allerdings ohne dass die politische Bedeutung seiner Enthüllungen diskutiert würde.[42] Eine namentliche Nennung verdient hätte Chelsea Manning, die US-Kriegsverbrechen im Irak aufdeckte und dafür rund dreieinhalb Jahre inhaftiert wurde, zum Teil unter den Bedingungen von Isolationshaft, die von den Vereinten Nationen als Folter eingestuft wird.[43] Auch die Haftbedingungen des Wikileaks-Gründers Julian Assange, der derzeit in einem britischen Gefängnis einsitzt und den die Behörden an die USA ausliefern wollen, werden vom UN-Sonderberichterstatter Nils Melzer als Folter eingeschätzt.[44] Die Beispiele zeigen zum einen, dass gezielte Desinformation nicht nur von antidemokratischen Bewegungen, sondern auch von gewählten Regierungen ausgeht und dass die demokratische Öffentlichkeit im Krieg mit äußerst repressiven Mitteln eingeschränkt werden kann, und zwar nicht nur in Ländern wie Russland oder der Türkei, sondern auch in parlamentarischen Demokratien im Westen.

Am 28. April 2022 meldete sich Habermas mit einem Gastbeitrag über den russisch-ukrainischen Krieg in der Süddeutschen Zeitung zu Wort.[45] Es ist hier nicht der Platz, diesen Artikel ausführlich zu kommentieren, daher nur Anmerkungen zu einigen Aspekten, die für eine Theorie der Öffentlichkeit relevant sein könnten. Der im Text beschriebene „schrille, von Pressestimmen geschürte Meinungskampf über Art und Ausmaß der militärischen Hilfe für die bedrängte Ukraine“ sowie der Gegensatz zwischen „moralisch entrüsteten Anklägern“ und einer „reflektiert und zurückhaltend verfahrenden Bundesregierung“ wurden zwischenzeitig von den Ereignissen überholt und abgemildert durch die politische Entscheidung, der Ukraine sogenannte schwere Waffen zu liefern, also Panzer, Raketen, Geschütze usw. Im Hinblick auf die Motive der russischen Seite gibt der Autor zu bedenken: „Die Konzentration auf die Person Putins führt zu wilden Spekulationen, die unsere Leitmedien heute wie zu den besten Zeiten der spekulativen Sowjetologie ausbreiten. Das heute vorherrschende Bild vom entschlossen revisionistischen Putin bedarf wenigstens des Abgleichs mit einer rationalen Einschätzung seiner Interessen. Auch wenn Putin die Auflösung der Sowjetunion für einen großen Fehler hält, kann das Bild des verstiegenen Visionärs, der (…) die schrittweise Wiederherstellung des großrussischen Reiches als seine politische Lebensaufgabe betrachtet, kaum die ganze Wahrheit über seinen Charakter widerspiegeln.“ Dem Bild vom „wahnhaft getriebenen Geschichtsnostalgiker“ stehe der Lebenslauf eines „rational kalkulierenden Machtmenschen gegenüber, den die Westwendung der Ukraine und die politische Widerstandsbewegung in Belarus in seiner Beunruhigung“ bestärkt hätten. Unter anderem verweist Habermas auf das „Beispiel jener Jüngeren, die zur Empfindlichkeit in normativen Fragen erzogen worden“ seien, „ihre Emotionen nicht verstecken und am lautesten ein stärkeres Engagement einfordern.“ Dies erinnere „an die zur Ikone gewordene Außenministerin“ Annalena Baerbock (Bündnis 90/ Die Grünen), die nach Kriegsbeginn mit „einer bekenntnishaften Rhetorik der Erschütterung einen authentischen Ausdruck verliehen“ habe.

Insbesondere in Kriegszeiten ist man sicher gut beraten, wenn man öffentlich gezeigter politische Leidenschaft, authentisch oder nicht, mit Vorsicht begegnet. Die historische Erfahrung lehrt, dass Skepsis angebracht ist, wenn für den Einsatz militärischer Gewalt moralische Gründe angeführt werden. Vertreter der damaligen (und heutigen) Koalitionsparteien SPD und Bündnis 90/ Die Grünen – Verteidigungsminister Rudolf Scharping und Außenminister Josef Fischer – haben den von ihnen mitzuverantwortenden völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien mit Lehren aus „Auschwitz“, angeblichen „serbischen Konzentrationslagern“ und einem nicht existierenden „Hufeisenplan“ für einen Genozid an der kosovarischen Bevölkerung zu rechtfertigen versucht.[46] Sie täuschten die Öffentlichkeit, indem sie ihrer Aggression einen antifaschistischen Anstrich gaben, und nahmen damit den heutigen russischen Propagandatopos von der angeblichen „Entnazifizierung der Ukraine“ vorweg. Eine Theorie der Öffentlichkeit müsste erklären können, wie es vor allem in Kriegszeiten zu einer ausgeprägten Uniformität der in den Medien vertretenen Ansichten, den darin transportierten Feindbildern und der Idealisierung der „eigenen Seite“ kommt, ohne dass staatliche Zensur ausgeübt würde und ohne dass es dabei im Kern um wissenschaftlich prüfbare Tatsachen wie die Existenz der menschengemachten globalen Klimaerwärmung oder die Gefährlichkeit des Covid-19-Virus ginge.

6. Fazit

Insgesamt zeigt sich ein widersprüchliches Bild. Einerseits machen die Beiträge des Leviathan-Bandes deutlich, wie fruchtbar Habermas‘ Theorie der Öffentlichkeit heute noch ist und wie notwendig es nach wie vor ist, die Entstehungs- und Funktionsbedingungen einer sich technologisch, ökonomisch und politisch rapide verändernden Öffentlichkeit zu untersuchen; andererseits kranken viele Aufsätze daran, dass sie, wenn sie sich nicht auf eine Position unbeteiligter Beobachtung zurückziehen, einen bloß immanenten Kritikstandpunkt einnehmen. Die dynamischen gesellschaftlichen Gegensätze werden eher unter- als überbetont. Die analytische und normative Perspektive ist die Inklusion in ein sich wandelndes Bestehendes, nicht eine grundlegende gesellschaftliche Veränderung. Wenn man die Möglichkeit grundsätzlich anderer sozialer Verhältnisse nicht in Betracht zieht, kann man auch, frei nach Ernst Bloch, die Schranken der bestehenden Gesellschaft nicht als solche erkennen.

[1] J. Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Frankfurt a.M., 1990, S. 51.

[2] M. Seeliger & S. Sevignani (Hrsg.): Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit? Leviathan – Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaft, Sonderband 37, 2021.

[3] Habermas, 1990, S. 106.

[4] A.a.O., S. 284.

[5] A.a.O., S. 309.

[6] A.a.O., S. 333.

[7] A.a.O., S. 337.

[8] A.a.O., S. 335.

[9] S. Müller-Bloohm: Jürgen Habermas. Eine Biographie. Frankfurt/M., 2014, S. 119 und 131.

[10] Genannt werden u.a.: O. Negt/ A. Kluge: Erfahrung und Öffentlichkeit. Zur Organisationsanalyse bürgerlicher und proletarischer Öffentlichkeit. Frankfurt, 1972; E.P. Thompson: The Making of the English Working Class. London, 1963.

[11] Habermas, 1990, S. 26.

[12] A.a.O., S. 36.

[13] J. Habermas: Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus. Frankfurt a.M., 1973, S. 9 ff.

[14] J. Habermas: Die nachholende Revolution. Frankfurt/M., 1990, S. 198 und 203.

[15] J. Habermas: Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit. In M. Seeliger & S. Sevignani, 2021, S. 470-500, hier: S. 484. Der Beitrag erscheint im September – nach Redaktionsschluss des vorliegenden Heftes – als Kernstück einer Monographie. J. Habermas: Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik. Frankfurt/M., 2022.

[16] A.a.O., S. 483.

[17] Ebd.

[18] J. Habermas, 2021, a.a.O., S. 474.

[19] MEW 1, S. 385.

[20] Habermas, 2021, S. 474.

[21] A.a.O., S. 482.

[22] A.a.O., S. 488.

[23] A.a.O., S. 486.

[24] P. Staab & Th. Thiel: Privatisierung ohne Privatismus. Soziale Medien im digitalen Strukturwandel der Öffentlichkeit. In Seeliger & Sevignani, a.a.O., S. 277-297.

[25] A.a.O., S. 286.

[26] A.a.O, S. 290.

[27] A.a.O., S. 293.

[28] G. Krücken: Imaginierte Öffentlichkeiten – Zum Strukturwandel von Hochschule und Wissenschaft. In Seeliger & Sevignani, a.a.O., S. 406-424.

[29] A.a.O., S. 411.

[30] A.a.O., S. 414.

[31] A.a.O., S. 408.

[32] U. Brinkmann & H. Heiland: Rationalisierung statt Rationalität – Betriebliche Öffentlichkeiten zwischen Refeudalisierung und Revitalisierung. In Seeliger & Sevignani, a.a.O., 115-136.

[33] A.a.O., S. 131.

[34] J. Habermas, 2021, a.a.O., S. 484.

[35] Ebd.

[36] K.M. Meyer-Abich: Die ökologische Grenze des Wirtschaftswachstums. Umschau, H. 72 (1972) S. 645–649.

[37] Habermas, 1973, a.a.O., S. 65.

[38] Ebd.

[39] K. Müller: Subjektiver Faktor und Zusammenhang von Gesellschaft und Natur. Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Bd. 22, H. 5, 1974, S. 584-597, hier: S. 592.

[40] E. Hobsbawm: Das Zeitalter der Extreme. Weltgeschichte des 20. Jahrhundert. München, 1998, S. 703.

[41] N. Fraser: Neue Überlegungen zur Transnationalisierung der Öffentlichkeit. In Seeliger & Sevignani, a.a.O., S. 139-159.

[42] C. Ritzi: Libration im Öffentlichkeitsuniversum. In Seeliger & Sevignani, a.a.O., S. 298-319, hier: S. 313.

[43] UN-Resolution 67/161 (2021), https://www.un.org/Depts/german/gv-67/band1/ar67161.pdf

[44] https://www.ohchr.org/en/press-releases/2019/11/un-expert-torture-sounds-alarm-again-julian-assanges-lifemay-be-risk; s.a. den Kommentar von Sevim Dağdelen im vorliegenden Heft.

[45] J. Habermas: Schriller Ton, moralische Erpressung: Zum Meinungskampf zwischen ehemaligen Pazifisten, einer schockierten Öffentlichkeit und einem abwägenden Bundeskanzler nach dem Überfall auf die Ukraine. Süddeutsche Zeitung, 28.4.2022, https://www.sueddeutsche.de/
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[46] A. Ivanji: Örtlich gebombt. Vor 20 Jahren trieb die rot-grüne Regierung Deutschland in den Kosovokrieg. Ein Präzedenzfall, der die Welt veränderte. taz, 24.3.2019

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