Sozialstaatsdemontage

Unterminierung des Sozialstaats durch neoliberale Wirtschaftspolitik

September 2003

1. Vom kapitalistischen Interessenstaat zum Wohlfahrts- und Sozialstaat

In der Frühphase des Kapitalismus war der abhängige Lohnarbeiter dem unternehmerischen Kapitalisten (heute Investor genannt!) hoffnungslos unterlegen, wenn ihm Lohn, Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen diktiert wurden. Hinzu kam die staatliche Parteinahme in Form eines Koalitionsverbotes, eines Verbots des Zusammenschlusses von Arbeitern, um eine Gegenmacht in Form von Gewerkschaften zum Kapital zu schaffen. „Die frühen Lohnarbeiter verfügen nur über die negativen Attribute liberaler Freiheit, vor allem frei von Produktionsmitteln zu sein und auch nicht besonders viele Rechte zu besitzen. Diejenigen, die nichts als ihre Arbeitskraft auf dem Markte anzubieten haben und anders als die zünftigen Handwerker nicht in der Lage sind, den Preis ihrer Arbeit zu kontrollieren, können sich nicht als Teil der Gesellschaft verstehen; sie ‚kampieren inmitten der abendländischen Gesellschaft (...), ohne darin Platz zu finden‘.“[1] Friedrich Engels hat dies mit seiner empirischen Untersuchung der „Lage der arbeitenden Klasse in England 1844“ aufgezeigt. „Eine Klasse, die alle Nachteile der sozialen Ordnung zu tragen hat, ohne ihre Vorteile zu genießen, eine Klasse, der diese soziale Ordnung nur feindselig erscheint, von der verlangt man noch, dass sie diese Ordnung respektieren soll? Das ist wahrlich zuviel.“[2]

Der Kapitalismus konnte sich aber nur entwickeln und seine Produktivkräfte entfalten, weil Lohnarbeit im Laufe der Zeit zu einem planbaren und relativ sicheren Leben der abhängig Beschäftigten geführt hat. Hierzu war eine entsprechende und nachhaltige Umverteilung von der Gewinn- zur Lohnquote notwendig. Nur so konnte eine Teilhabe am historischen Konsumniveau, eine politische und kulturelle Partizipation und daher auch eine Teilhabe an öffentlichen Dienstleistungen bzw. am „sozialen Eigentum“ erfolgen. Der Staat des 19. Jahrhunderts musste dazu allerdings einen nachhaltigen „Rollenwechsel“ vollziehen: Vom überwiegenden „Polizisten“ (Verbündeten) des Kapitals zum sozialen Vermittler zwischen Arbeit und Kapital, „der einerseits das Privateigentum schützt und andererseits eine von der Marktverteilung der Ressourcen abweichende Verteilung durchsetzt. Als Wohlfahrts- oder Sozialstaat wird der moderne Nationalstaat zum Verwalter des Konflikts zwischen den Klassen – auf der Basis jener Vermittlungsinstanzen, die das Lohnverhältnis institutionalisieren. Dies sind einerseits die Netze sozialer Absicherung im Fall von Alter, Krankheit, Arbeitslosigkeit, Erwerbsunfähigkeit, die auf die typischen Lebensbedingungen von vermögenslosen Lohnarbeitern zugeschnitten sind, und andererseits all jene Regelungen des Arbeitsrechts, die die Position der Lohnarbeiter gegenüber den Unternehmen stärken, indem sie das Angebot an Lohnarbeit (durch Arbeitsverbote, Arbeitszeitbeschränkungen, Arbeitsschutzvorschriften, die Etablierung des Tarifrechts) verknappen. Auf diese Weise wird das Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit zu einer die Politik leitenden Norm. Sie findet im System des Wohlfahrtsstaats ihren institutionellen und daher förmlichen Ausdruck.“[3]

Bis sich ein Wohlfahrts- und Sozialstaat mit seinen Institutionen, Regulierungen und Verfahren etablieren konnte, der die marktliche Steuerung von Arbeitsmarkt, Einkommensverteilung und Lebensbedingungen korrigiert und ergänzt und der dem Staat und den gesellschaftlichen Gruppen im Wirtschaftsprozess eine aktive Rolle zuweist,[4] verging aber noch eine lange Zeit. Ende des 19. Jahrhunderts wurde mit der von Bismarck ins Leben gerufenen Sozialversicherung zumindest der fragmentarische Anfang eines Sozialstaats im gerade 1871 konstituierten Deutschen Reich gemacht. „Die Einführung (...) war kein administrativer Akt, sondern eine weitreichende politische Entscheidung der herrschenden Klasse in Deutschland. Sie hatte aus den Erfahrungen mit der Pariser Kommune von 1871 gelernt. Mit dem Konzept von ‚Zuckerbrot und Peitsche’ sollte das bestehende Gesellschaftssystem überlebensfähig gemacht werden.“[5] Richtig etablierte sich ein Sozialstaat in Deutschland aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg, obwohl schon in der Weimarer Reichsverfassung die „Soziale Sicherung“ erstmals als Staatsziel aufgenommen wurde. Während der Weimarer Zeit (1918 bis 1933) kam es aufgrund der instabilen ökonomischen Verhältnisse (Inflation, Weltwirtschaftskrise) aber auch vor dem Hintergrund einer politischen Zerrissenheit noch zu keiner großartigen gesetzlichen Durchsetzung sozialer Belange, mit der Folge, dass auf dem Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise 1932/33 für die arbeitslosen Massen kein wesentliches „soziales Netz“ vorhanden war. „Insgesamt blieb – aus heutiger Sicht betrachtet – das Leistungsniveau kärglich und das Leistungsspektrum auf wenige Risiken und Bevölkerungsgruppen beschränkt. (...) Auch die in der Weimarer Republik eingeführte Arbeitslosenversicherung bestand die Bewährungsprobe nicht, vor die sie in der Weltwirtschaftskrise gestellt wurde.“[6] Das Fehlen eines etablierten Sozialstaats in der Weimarer Zeit hat sicher auch mit dazu beigetragen, dass in Deutschland die Nationalsozialisten die Macht an sich reißen konnten. Der Nationalökonom John Maynard Keynes hatte mit seinem Werk „Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes“ schon 1936 auf die kapitalismusimmanente Schwäche hingewiesen. „Die hervorstechenden Fehler der wirtschaftlichen Gesellschaft, in der wir leben, sind ihr Versagen, für Vollbeschäftigung Vorkehrung zu treffen, und ihre willkürliche und unbillige Verteilung des Reichtums und der Einkommen.“[7] Bevor man allerdings erkannt hatte, dass in der Tat das zügellose kapitalistische System keine gesamtwirtschaftliche Wohlfahrt und per se auch keine Vollbeschäftigung für alle garantiert, musste noch ein grausamer Krieg mit dem Ergebnis von 50 Millionen Toten geführt werden. Die Wirtschaft und ihre Vertreter sowie die rechten Parteien hatten dabei aus Gründen der kapitalistischen Systemerhaltung keine Probleme damit, die politische Macht selbst in die Hände eines verbrecherischen Regimes zu legen. Nach der Schreckensherrschaft stellte 1947 der Ausschuss der CDU für die britische Zone im „Ahlener Programm“ fest: „Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund auf erfolgen.“

Zu dieser Neuordnung gehörte auch bei der politischen und ökonomischen Konstituierung der Bundesrepublik das verfassungsrechtliche Grundprinzip eines sozial verpflichteten Staates. „Im Grundgesetz wird ausdrücklich betont: ‚Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat’ (Art. 20 Abs. 1). Und nach Art. 28 Abs. 1 muss die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern ‚den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes entsprechen.’ Ähnliche Regelungen finden sich in den meisten Landesverfassungen. Das hier formulierte Sozialstaatsgebot ist zwar inhaltlich unbestimmt – legt also nicht fest, welche sozialpolitischen Leistungen in welcher Höhe und Reichweite erforderlich sind – aber in seiner Rechtsprechung hat das Bundesverfassungsgericht das Sozialstaatsprinzip mehrfach als Verpflichtung des Staates interpretiert, für einen Ausgleich der sozialen Gegensätze und für eine gerechte Sozialordnung zu sorgen und die Existenzgrundlagen der Bürger zu sichern und zu fördern.“[8]

Der Nachkriegssozialstaat konnte sich in der Bundesrepublik vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlichen Absicherung und aufgrund eines noch arbeitsintensiven Wachstums, das schließlich zu einer kurzen Phase von Vollbeschäftigung führte (die Jahre des sog. „Deutschen Wirtschaftswunders“), nicht nur etablieren, sondern es kam auch zu einem qualitativen und quantitativen Ausbau. Die Sozialversicherungssysteme wurden nachhaltig verbessert und eine aktive wie passive Arbeitsmarktpolitik sowie Ansätze zur Humanisierung der Arbeitswelt inklusive Arbeitsschutzbestimmungen und einer betrieblichen und unternehmerischen Mitbestimmung eingeführt. Die erste Wirtschaftskrise 1966/67 machte dann aber deutlich, dass offensichtlich ein unbegrenztes mittlerweile erreichtes Vollbeschäftigungswachstum, der „Traum von der immerwährenden Prosperität“, doch keine kapitalistische Selbstverständlichkeit ist. Die Reaktion der Politik auf diese Krise gipfelte aber weder in einem Sozialabbau, noch in Schuldzuweisungen bezüglich eines angeblich überbordenden Sozialstaats, wie es heute üblich ist, sondern die Antwort war eine keynesianische Wirtschaftspolitik, ein deficit-spending zur Schließung der sich krisenbedingt ergebenen deflatorischen Lücke. Diese Politik wurde sogar rechtlich durch die Einführung des „Stabilitäts- und Wachstumsgesetzes“ abgesichert. Das Gesetz hat übrigens heute noch Gültigkeit; dies ist aber offensichtlich bei der Politik nicht mehr präsent. Erst mit der schweren Rezession 1974/75, die die Arbeitslosenzahlen auf über eine Million ansteigen ließ, kam es, nicht zuletzt auch vor dem Hintergrund eines ökonomischen Paradigmenwechsels, der zu einer Ablösung des bis dahin praktizierten Keynesianismus durch ein neoklassisches/neoliberales Theoriengebäude führte, zu ersten Einschnitten in das „soziale Netz“.

2. Neoliberale Wirtschaftspolitik gegen den Sozialstaat und abhängig Beschäftigte

Mit der sich seit Mitte der 1970er Jahre immer mehr aufbauenden und verfestigenden Massenarbeitslosigkeit und der in Folge steigenden Staatsverschuldung, die seit Beginn der 1990er Jahre durch die Wiedervereinigung zusätzlichen Auftrieb bekamen, sowie durch eine sich als Mainstream mehr und mehr etablierende neoliberale Wirtschaftsdoktrin, ist etwa seit Mitte der 1990er Jahre der Sozialstaat unter verschärfte Kritik geraten. Zwar wurde er immer schon mehr oder weniger von denjenigen kritisiert, die keiner staatlichen Absicherung und Einkommensumverteilung bedürfen, um in Wohlstand und Sicherheit zu leben, und insbesondere die Unternehmer hatten – wie hinlänglich bekannt – schon immer etwas gegen die Einschränkung des Warencharakters der Arbeitskraft bzw. gegen die Regulierung des Arbeitsmarktes. Dennoch wurden trotz sozialer Einschnitte in den 1980er und 1990er Jahren die Grundlagen des sozialen Systems insgesamt erhalten. Den wohl schärfsten Angriff auf den Sozialstaat fuhr Anfang der 1980er Jahre Otto Graf Lambsdorff (FDP) mit seinem sogenannten „Memorandum“ vom 9. September 1982, in dem er die Eckpunkte eines künftigen politischen Koordinatensystems beschreibt und damit quasi die Kohl-Ära einleitet. „Hier wird ‚Reform’ erstmals zu einem Abbaubegriff umdefiniert, der Sozialstaat zur Disposition gestellt. Alle Politikbereiche, einschließlich der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, werden an die Regeln und Gesetze marktwirtschaftlichen Handelns gebunden.“[9]

Dies gipfelt heute im Fahrwasser neoliberaler Apologetik zur Bekämpfung der „Geißel“ Massenarbeitslosigkeit in folgende zentrale Behauptungen und daraus abgeleiteten politischen Therapieforderungen:

- Die Arbeitsmärkte seien durch Gesetze überreguliert sowie der Faktor Arbeit zu teuer geworden, wobei insbesondere auf angeblich zu hohe Lohnnebenkosten bzw. Abgaben verwiesen wird, die die Leistungs- und Innovationskraft der „Leistungsträger“ lähmten.

- Außerdem seien in Deutschland die Steuern zu hoch und gefährdeten neben den zu hohen Arbeitskosten die internationale Wettbewerbsfähigkeit.

- Hinzu käme, dass das überbordende Sozialsystem die öffentlichen Haushalte überfordere und die überzogenen Sozialstandards anreizhemmend in Bezug auf die Übernahme niedrig bezahlter Arbeit seien und damit auch den Unternehmen die Möglichkeit verbaut würde, einfache Arbeitsplätze mit geringer Produktivität rentabel anzubieten.

Die politische Schlussfolgerung hieraus ist, den Arbeitsmarkt rechtlich zu deregulieren, d.h. Arbeitnehmerschutzrechte und Mitbestimmungsrechte zu beschränken und das Tarifrecht auszuhöhlen sowie den Niedriglohnsektor durch noch mehr prekäre Arbeitsverhältnisse auszubauen. Die direkten Lohnkosten sollen nur noch unterhalb der Produktivitätsrate mit der Folge einer Umverteilung von der Lohn- zur Gewinnquote steigen sowie einer größeren Lohnspreizung unterzogen werden und die Lohnnebenkosten seien durch eine Absenkung des sozialpolitischen Leistungsspektrums und –niveaus in Richtung einer überwiegenden Basissicherung einzuschränken. Zusätzlich müsse die paritätische Finanzierung innerhalb der Sozialversicherungssysteme zu Gunsten der Unternehmer verändert werden bzw. die soziale Sicherung soll vom Lohnarbeitsverhältnis abgekoppelt und stärker privatwirtschaftlich organisiert und vom Lohnabhängigen allein finanziert werden. Von dieser grundsätzlichen Ideologie sind auch die speziellen Vorschläge der Hartz-Kommission sowie die von Bundeskanzler Schröder vorgelegte Agenda 2010 geprägt. Sie zielen letztlich auf eine totale Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse, auf eine wachsende Rolle des Marktes bei der Vermittlung von Arbeitslosen und auf die Errichtung eines höheren Drucks auf die Arbeitslosen ab, auch niedrig bezahlte und unqualifizierte Jobs anzunehmen.

Die dieser neoliberalen Wirtschaftskonzeption unterlegte Theorie geht davon aus, dass Arbeitslosigkeit vollbeschäftigungsinkonformen Lohnhöhen, herbeigeführt durch eine Machtkartellbildung, sowie einem überregulierten Arbeitsmarkt geschuldet ist. Arbeitslosigkeit entsteht demnach immanent an den Arbeitsmärkten. Der Zusammenhang mit Güter-, Dienstleistungs- und Finanzmärkten wird dagegen ausgeblendet und im Sinne einer kausalen Abhängigkeit geleugnet. Auch das Auftreten „technologischer Arbeitslosigkeit“, vor der in den 1920er Jahren schon John Maynard Keynes nachhaltig gewarnt hat, die immer mehr Menschen zur Güterproduktion überflüssig macht, ist für Neoliberale kein Thema. Vor allem die sich aus der Wachstums- und Produktivitätsschere ergebene logische Schlussfolgerung nach Arbeitszeitverkürzung wird strikt abgelehnt. Im Gegenteil, es werden längere und flexiblere Arbeitszeiten gefordert. Dies ist aus einem etablierten Macht- und Herrschaftsverhältnis heraus betrachtet nachvollziehbar, weil mit der Arbeitszeitfrage die Verteilungsfrage zwischen Kapital und Arbeit gestellt wird. Entgegen den Interessen des Kapitals haben die abhängig Beschäftigten allerdings schon immer um die Verkürzung des Arbeitstages gekämpft bzw. kämpfen müssen. Ging es zur absoluten Mehrwertproduktion zu Beginn der kapitalistischen Ordnung noch um die permanente Verlängerung des Arbeitstages, die allerdings auf physische Grenzen und letztlich auch auf moralische Schranken stieß, so kam es später nur noch auf relative Mehrwertproduktion mittels vermehrten Technikeinsatz an. Dieser verlangt aufgrund der damit einhergehenden Fixkostenökonomie nach einer immer größeren allgemeinen Flexibilisierung von Arbeit und schließlich auch nach einer entsprechend großen Arbeitszeitflexibilisierung. Immer mehr dringt dabei Arbeit in die private Sphäre der Menschen ein, sie besetzt immer mehr den Freizeitteil bzw. zersplittert ihn in kleinste Teile. Das Kapital verlangt eine zunehmende Verfügbarkeit über den Faktor Arbeit. Es kommt zu einer immer größer werdenden Zeitokkupation, bei der der Mensch in Zeiteinheiten atomisiert und letztlich dem Takt der Maschine und des Marktes untergeordnet wird. Liegen Aufträge und damit Arbeit vor, soll der Mensch voll (flexibel) zur Verfügung stehen, ist dies nicht der Fall wird er als obsolet abgeschoben. Die Flexibilisierung und Zeitokkupation hat dabei auch den Konsumsektor erfasst. Angeblich wünschen die Menschen mehr Zeit beim Konsum. Die Folge ist eine weitere Aufweichung der Ladenöffnungszeiten, die angeblich zu mehr Beschäftigung führen sollen. In Wirklichkeit ist auch hier das Gegenteil der Fall. Es droht eine weitere beschleunigte Vernichtung von Arbeitsplätzen und ein zunehmender Konzentrationsprozess im Einzelhandel. „Längere Öffnungszeiten werden vor allem von bedienungsarmen Großvertriebsformen und den großstädtischen ‚1-a-Lagen’ genutzt, um dem mittelständischen Einzelhandel in Klein- und Mittelstädten und Wohngebieten Marktanteile zu entziehen.“[10] Die neuen Ladenöffnungszeiten haben die Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten nachhaltig verschlechtert. Sie zerstören bei den Beschäftigten jegliches soziales Gefüge und stellen einen massiven Eingriff in die Wochenendfreizeit mit der Perspektive des Angriffs auf den freien Sonntag dar.[11] „Die ‚Rund-um-die-Uhr-Gesellschaft‘ gefährdet gemeinsame Zeiten mit Familie und Freunden, für Kultur und Ehrenamt und bedroht zunehmend auch andere Branchen wie zum Beispiel Banken, Behörden, ÖPNV usw.“[12]

3. Neoliberale Therapievorschläge versagen auf ganzer Linie

Alle neoliberalen Therapievorschläge zur angeblichen Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit werden mehr oder weniger bereits seit Anfang der 1980er Jahre praktiziert. Im Ergebnis haben sie allerdings nicht zu einem beschäftigungsschaffenden Wirtschaftswachstum geführt und damit die Arbeitslosigkeit gesenkt, sondern diese ist dramatisch gestiegen. Außerdem hat sich in Folge der Massenarbeitslosigkeit eine beachtliche Staatsverschuldung bei gleichzeitig gigantisch gestiegenem Reichtum im privaten Sektor aufgebaut. Allein das Geldvermögen wie Spareinlagen, Bausparguthaben, Aktien, Staatsschuldpapiere, Immobilienfonds, Lebensversicherungen etc. ist von 1991 in Höhe von 2 Billionen Euro bis 2001 auf rund 3,6 Billionen Euro angewachsen. Spiegelbildlich dazu stiegt die Verschuldung des Staates (Bund, Länder und Gemeinden) von 535 Mrd. Euro auf gut 1,2 Billionen Euro. Privatem Reichtum steht demnach eine wachsende öffentliche Armut gegenüber. Groteske Züge nimmt dabei die Forderung nach einem Schuldenabbau an. Dieser ist unter Ausschluss des Auslands, das uns den Gefallen nicht tun wird, nur durch die Möglichkeiten, den zukünftigen Anspruch an das erwirtschaftete Sozialprodukt in Form einer Lohnkürzung (einschließlich der Sozialeinkommen) und/oder einer Profit- und Vermögenseinkommenskürzung gegeben. Dabei hat es den Anschein, dass die Politik bisher und offensichtlich in Zukunft noch verstärkt einseitig die Verschlechterung der Lage der abhängig Beschäftigten und der auf Sozialeinkommen angewiesenen Bevölkerungsschichten im Blick hat. Selbst in konjunkturellen Abschwungphasen hält man in einer ökonomisch nicht mehr zu überbietenden Borniertheit prozyklisch am Schuldenabbau fest und nimmt damit eine Krisenverschärfung mit steigender Arbeitslosigkeit und am Ende mit noch mehr Staatsverschuldung in Kauf. Der Gipfel der neoliberalen Forderungen sind dabei weitere nachhaltige Senkungen der Gewinn- und Vermögenssteuern, die in Deutschland längst Tiefsstände erreicht haben, tiefere als im Steuerparadies Luxemburg, wie erst kürzlich die OECD festgestellt hat. Das wirkliche Problem sind vielmehr die zu hohen Lohnsteuern, die mittlerweile am Gesamtsteueraufkommen einen Anteil von 35 % erreicht haben, während der Anteil der Gewinn- und Vermögenssteuer lediglich bei 15 % liegt. Im Jahr 1960 war die Relation noch umgekehrt. Deutschland hat sich zu einem Lohnsteuerstaat entwickelt.[13]

Begleitet wird der „Gewaltakt“ Arbeitslosigkeit (Oskar Negt), der Millionen von Menschen um ein Leben in Würde bringt, immer mehr durch einen Abbau des „Normalarbeitsverhältnisses“, das den Arbeitnehmern einen Grad an Sicherheit im Austausch gegen Abhängigkeit und Unterordnung im Arbeitsprozess ermöglicht. Die Arbeitsverhältnisse sind zunehmend durch eine prekäre Beschäftigung gekennzeichnet. Diese impliziert Unsicherheit und Ängste, mit „normaler“ Arbeit noch ein Einkommen zu erzielen und einen „normalen“ Lebensstandard zu realisieren. „Seit Jahren dringt die Angst, durch Arbeitsplatzverlust aus dem gesellschaftlichen Ganzen vertrieben zu werden, in alle Poren unserer Lebenszusammenhänge. Daß der Entzug von Arbeit, ja schon der drohende oder phantasierte Arbeitsplatzverlust sozialpsychologisch eine ‚depressive Dynamik’ in den Individuen auslöst, wie Christine Morgenroth aufzeigt, scheint heute die Gesamtgesellschaft in ihren charakteristischen Merkmalen zu kennzeichnen. Entzug von Arbeit bedeutet, darin sind sich wichtige psychologische Studien zu den Folgen der Arbeitslosigkeit einig, nichts weniger als Realitätsentzug. Angst vor Realitätsentzug erzeugt wiederum erhöhte Bereitschaft zu Anpassung und Überanpassung.“[14] Angst ist auch der wesentliche Grund für ein erschreckend zugenommenes Mobbing, dem Psychoterror am Arbeitsplatz. Hier versuchen Menschen andere Menschen über längere Zeit systematisch zu schikanieren mit dem Ziel, einen vermeintlichen Konkurrenten aus dem Arbeitsprozess heraus zu drängen. Im Ergebnis kommt es bei den Betroffenen zu Depressionen und psychosomatischen Erkrankungen und im Extrem sogar zur Selbsttötung. Arbeitslos zu sein führt bei den Betroffenen aber auch zu Schmach und Scham, wie Viviane Forrestier in ihrem Buch „Der Terror der Ökonomie“ konstatiert. „Die Scham sollte (eigentlich) an der Börse gehandelt werden: Sie ist ein wichtiger Grundstoff des Profits. Sie ist ein stabiler Wert, genau wie das Leid, das sie hervorruft oder von dem sie hervorgerufen wird.“[15]

Trotz dieser Tatbestände haben sich aber offensichtlich politische und auch wissenschaftliche Apologeten, die bereits nebulös vom „Ende der Arbeitsgesellschaft“ reden, längst mit dem Zustand von Massenarbeitslosigkeit abgefunden. Kapitulierend wird der Arbeitsmarkt als ein isolierter Mikrokosmos betrachtet, auf dem man nur den vielfach beschworenen Marktkräften zum Durchbruch verhelfen müsste. Solange die Strukturen hier jedoch zu verkrustet wären, müsse man sich dann auch nicht wundern, wenn Erfolge ausblieben. Die Verantwortung liege in diesem Fall bei denjenigen, die ein Aufbrechen der Sklerose verhindern. Gemeint sind in erster Linie die Gewerkschaften.[16]

Viele Interessenvertreter auf der Kapitalseite können mit Arbeitslosigkeit sogar bestens leben. Disziplinieren sie doch die Gewerkschaften und Lohnabhängigen nicht nur beim Arbeitsentgelt, sondern auch bei den Arbeitsbedingungen, die schon heute in vielen Fällen als prekär einzustufen sind. Man spricht bereits von „paradiesischen Zuständen“ für die Unternehmer. Diejenigen, die sich von Vollbeschäftigung längst verabschiedet haben, plädieren deshalb auch für eine Entkopplung von Arbeit und Einkommen, der Entwicklung von Grundsicherungsmodellen und/oder dem Ausbau des Dienstleistungssektors mit entsprechend niedrigen Arbeitsentgelten, womöglich generiert durch mehrere Arbeitsverhältnisse oder „Mac-Jobs“ á la USA. Wer sich hiermit nicht zufrieden gibt, sondern im Gegenteil davon überzeugt ist, dass Arbeitslosigkeit kein schicksalhaftes und schon gar kein gesellschaftlich hinnehmbares Phänomen, sondern ein der grenzenlosen Profitwirtschaft und der neoliberalen Politik-Doktrin geschuldeter Tatbestand ist, wird nach Alternativen Ausschau halten. Dies auch schon deshalb, weil in marktwirtschaftlichen Ordnungen Unternehmen zwar Menschen entlassen können, eine Gesellschaft dies als Ganzes aber nicht vermag und sich hierdurch, neben grundsätzlichen gesellschaftlichen Problemen einer eventuellen Radikalisierung, eine Reihe von weiteren schwerwiegenden einzel- und gesamtwirtschaftlichen Problemen – nicht nur bei den Betroffenen selbst – ergeben. Zunächst einmal bedeutet nämlich Arbeitslosigkeit einzelwirtschaftlich betrachtet „eine materielle Einbuße (trotz Einkommensersatzleistungen), die mit steigender Dauer der Arbeitslosigkeit zunimmt (Eintritt in den Sozialhilfebereich) und die physische Existenz bedroht; nicht von ungefähr ist seit Jahren die Rede vom Entstehen einer ‚neuen Armut‘. Hinzu kommt, dass sie – vor allem bei längerer Dauer – neben einer beruflichen De-Qualifizierung auch eine Perspektivlosigkeit für die Betroffenen auslöst und so gravierende psychische Belastungen mit erheblichen gesellschaftspolitischen Folgen (Radikalisierung, Kriminalisierung, Suchtgefahren) begründet. All diese Probleme wiegen um so schwerer, weil mit der amtlich ausgewiesenen Zahl der Arbeitslosen die tatsächliche ‚Betroffenheitsquote‘ – mit Blick auf ‚Stille Reserve‘ und Familienangehörige – nicht hinreichend abgedeckt ist. Die Probleme der Arbeitslosigkeit liegen zum zweiten im gesamtwirtschaftlichen Bereich: Arbeitslosigkeit bedeutet nicht nur, dass der Einsatz des Produktionsfaktors Arbeit sowie zusätzliche Nachfrage begrenzt und somit Teile eines möglichen realen Wachstumspotenzials ‚verschenkt‘ werden. Hinzu kommt, dass Arbeitslosigkeit mit einer enormen Belastung der öffentlichen Haushalte einhergeht. Sie resultiert sowohl aus Mehrausgaben (für Einkommensersatzleistungen unmittelbar – und mittelbar, um mögliche gesellschaftliche Folgewirkungen zu verhindern und zu korrigieren) als auch aus Mindereinnahmen (Steuerausfälle, Rückgang des Sozialbeitragsaufkommens).“[17]

4. Alternativen sind nötig und möglich

Um sowohl gegen die negativen einzel- als auch gesamtwirtschaftlichen Folgen von Arbeitslosigkeit vorzugehen, bedarf es endlich eines radikalen wirtschaftspolitischen Wechsels von der seit Anfang der 1980er Jahre weltweit initiierten und umgesetzten neoliberalen Doktrin. Diese hofiert die reine Lehre des Marktes und lehnt so gut wie alles ab, was als Staat daher kommt. Man kann mittlerweile schon fast eine politische Neurose diagnostizieren, wenn Neoliberale gebetsmühlenhaft den Markt und seine Wettbewerbsgesetze ohne jegliche kritische Reflexion anbeten. Der amerikanische Ökonom und Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz sprich in diesem Zusammenhang von einem Papageien, dem man Anfang der 1980er Jahre den Spruch „fiskalische Austerität, Privatisierung und Marktöffnung“ beigebracht habe. Fast alle würden heute diese drei neoliberalen Begriffe in normativer Absicht mit katastrophalen Folgen nachplappern. Was wir dagegen brauchen ist eine alternative Wirtschaftspolitik, die ein Konzept von Ökonomie als Teil der Gesellschaft vertritt, d.h. vor allem den Interessen der Menschen sowie sozialen und ökologischen Zielsetzungen zu dienen hat und nicht den Partikularinteressen der Profit- und Vermögensbesitzer. Neoliberale Politik setzt einseitig und in einer unerträglichen gesellschaftlichen Blindheit, versteckt hinter den „Sachzwängen der Globalisierung“, ausschließlich auf verbesserte Standort- und Wettbewerbsbedingungen für das Kapital, indem vor allem solche „Reformen“ des Abbaus durchgeführt werden, die Kostensenkung (insbesondere von Lohn- und Sozial- bzw. Lohnnebenkosten) der Unternehmen begünstigen und die Steuern und Abgaben (insbesondere die Unternehmens- und Vermögenssteuern) im Interesse hoher Kapitalrenditen und günstiger Kapital- und Warenexportchancen verringern. Dieser fast ausschließlich einzelwirtschaftlichen Sicht ist nachhaltig eine wesentlich mehr makroökonomische Fundierung entgegenzusetzen. Erstens ist zu konstatieren, dass die bestehende Massenarbeitslosigkeit nicht durch eine ausschließliche Arbeitsmarktpolitik, sondern nur durch eine adäquate Beschäftigungspolitik bekämpft werden kann. Aktive und passive Arbeitsmarktpolitik hat hier nur eine flankierende Funktion. Insofern knüpft das Hartz-Konzept und die Agenda 2010 schon vom Ansatz her eher an Nebensächlichkeiten der Problematik an, es schlägt quasi eine falsche Schlacht. Zweitens muss zwischen konjunktureller und struktureller Arbeitslosigkeit differenziert werden und drittens ist eine abgestimmte europäische Fiskal-, Geld- und Lohnpolitik als eine entsprechende europäische Beschäftigungspolitik in einem zukünftig noch massiv erweiterten europäischen Wirtschaftsraum notwendig.[18] Um die konjunkturelle Komponente der Arbeitslosigkeit zu bekämpfen, ist eine kurzfristig aktive antizyklische Fiskalpolitik mit einer abgestimmten expansiven europäischen Geldpolitik von Nöten. Hierbei muss vorübergehend auch eine weitere Neuverschuldung hingenommen werden, selbst dann, wenn sie die Defizitquote des Maastrichter-Vertrages von 3 Prozent übersteigt. Eine ökonomisch vernünftige Begründung für diese willkürlich gesetzte Marke gibt es nämlich nicht.[19] Schon Lorenz von Stein schrieb 1878: „Ein Staat ohne Staatsschulden tut entweder zuwenig für seine Zukunft, oder er fordert zuviel von seiner Gegenwart.“ Erst recht darf der Staat nicht während eines konjunkturellen Abschwungs auf eine aktive Staatsverschuldung verzichten, weil es ansonsten zu einem prozyklischen, d.h. krisenverschärfenden Ergebnis kommt. Wenn sich hierbei eine Regel wie die Defizitquote als falsch oder zu starr erweist, muss sie eben wieder abgeschafft werden. Selbst der Präsident der EU-Kommission hat in diesem Kontext ähnlich argumentiert. Aber auch eine steuerfinanzierte und damit haushaltsneutrale Staatsausgabenausweitung in Richtung von Infrastruktur, Umweltschutz und Bildung impliziert aufgrund des geringeren Steuereinnahmenmultiplikators noch einen positiven Wachstumseffekt in Höhe der jeweiligen Staatsausgaben (Haavelmo-Theorem). Trotzdem muss der Staat bei langfristiger Betrachtung seine Einnahmenseite der Ausgabenseite anpassen. Dies ist durch die Schröder-Regierung sträflich vernachlässigt worden. Hier wurden milliardenschwere Steuergeschenke an die Wirtschaft vergeben und nun wundert man sich in aller Naivität, dass diese Steuersenkungen nicht zu mehr Wachstum und Beschäftigung und damit wiederum zu mehr Staatseinnahmen geführt haben, sondern genau das Gegenteil eingetreten ist, dass nämlich weniger Wachstum, noch mehr Arbeitslose und eine desolate öffentliche Haushaltssituation bei gleichzeitiger Nichteinhaltung des Nettoneuverschuldungskriteriums zu beklagen sind.

Um neben der konjunkturellen auch der strukturellen Komponente von Arbeitslosigkeit Herr zu werden, ist ein Einschwenken auf einen höheren Wachstumspfad erforderlich. Angesichts der Innovationsprobleme in weiten Teilen der deutschen Wirtschaft[20] – gerade in den zukunftsträchtigen Bereichen der Bio- und Gentechnik sowie der Informations- und Kommunikationstechnik – bedarf es einer effektiveren Nutzung des vorhandenen Sach- und Humankapitals. Die im internationalen Vergleich schwachen F&E-Quoten, aber auch die Missstände im Bildungssektor weisen in die falsche Richtung. Sich hier allein auf die Wirtschaft zu verlassen, wäre zu kurzsichtig. Statt dessen ist eine offensive Forschungs-, Technologie- und Bildungspolitik dringend geboten.

Zudem ist grundsätzlich die Verteilungsfrage zu stellen. Ohne eine Umverteilung des bestehenden (nicht nur zukünftig erwirtschafteten) gesellschaftlichen Reichtums kann eine Umverteilung von Arbeit – und damit eine gerechte Verteilung von Anerkennung und Würde – nicht gelingen. Die sich unter globalen und liberalisierten Bedingungen immer weiter öffnende Schere zwischen Arm und Reich muss dringlich geschlossen werden. Zukünftig ist es nicht mehr akzeptabel, dass drei Prozent der deutschen Bevölkerung über rund 80 Prozent des Produktivvermögens (Fabrikanlagen, Maschinen etc.) verfügen. 365.000 Einkommensmillionäre, knapp ein halbes Prozent der Bevölkerung, besitzen inzwischen mehr als ein Viertel des bundesdeutschen Geldvermögens; sieben Millionen Menschen in Deutschland müssen hingegen mit weniger als 460 Euro im Monat auskommen. Und die Gewinne der Unternehmen, seit 1976 um 90 Prozent gestiegen, schlagen sich nicht in der immer wieder fälschlicherweise behaupteten Schaffung neuer Arbeitsplätze nieder. Die neoklassische G-I-B-Formel, gib mir heute mehr Gewinn, bekommst du morgen mehr Investitionen und übermorgen mehr Beschäftigung, funktioniert eben nicht. Um deshalb den akkumulierten Reichtum in Deutschland im Sinne einer Wachstumsstrategie besser zu verteilen, sind eine nachhaltige Besteuerung des Vermögensbestandes und des vererbten Vermögens sowie eine Einkommenssteuerreform notwendig, die untere Einkommen nachhaltig entlastet und höhere Einkommen belastet. Außerdem haben sich alle Unternehmen gemäß ihrer tatsächlichen Ertragskraft (wieder) am Steueraufkommen zu beteiligen. Begleitet werden muss dies alles durch einen radikalen Subventionsabbau zum Nachteil von Großunternehmen und der Umleitung der hierdurch freiwerdenden Mittel in den Mittelstand, nicht zuletzt deshalb, um dadurch die bestehenden Strukturdefizite im Wettbewerb gegenüber Großunternehmen zumindest zum Teil zu kompensieren. Großunternehmen müssen außerdem durch eine rigorose Kartellpolitik in ihrem Marktmachtmissbrauch eingeschränkt werden, weil sie die steigende Produktivität nicht adäquat durch Preissenkungen weitergeben und somit von einer „relativen Inflation“ profitieren bzw. die Kaufkraft der Masseneinkommen unterminieren, die unbedingt zur Stärkung der Binnennachfrage benötigt wird. Und abschließend hinzukommen muss nicht nur im Interesse der arbeitenden Bevölkerung eine durch die Tarifvertragsparteien durchgesetzte Lohnpolitik, die zumindest den verteilungsneutralen Spielraum garantiert und eine durch den Staat unterstützte Politik der Arbeitszeitverkürzung, um die Effekte der steigenden Arbeitsproduktivität auch von dieser Seite her abzufedern. Dies wird aber nicht ausreichen, um allen Menschen, die Arbeit suchen, auch einen Arbeitsplatz anzubieten. Dies gilt insbesondere für die Schlechterqualifizierten und aufgrund von krankheitsbedingten Einschränkungen nicht voll Leistungsfähigen. Die Beschäftigungsalternative ist hier aber nicht ein prekäres, völlig ungesichertes Arbeitsverhältnis im Bereich der privaten Wirtschaft, sondern ein öffentlicher Beschäftigungssektor, der die in der privaten Wirtschaft auch aufgrund veränderter Anforderungsprofile zukünftig nicht mehr nachgefragten Arbeitskräfte auffängt. Dabei ist klar: Wer neben der Lohnfrage die Forderung nach einer Arbeitszeitverkürzung und nach einem öffentlichen Beschäftigungssektor stellt, stellt die Verteilungsfrage. Daran wird aber letztlich im Interesse aller in unserer Gesellschaft kein Weg vorbei gehen. Es sei denn, Deutschland entscheidet sich für einen Gang in die Eindrittel-Zweidrittel-Gesellschaft, d.h. ein Drittel der Gesellschaft wird von jeglicher Wohlfahrtsfunktion abgekoppelt. Noch können wir diese Entscheidung treffen.

[1] Altvater, E./Mahnkopf, B., Globalisierung der Unsicherheit. Arbeit im Schatten, Schmutziges Geld und informelle Politik, Münster 2002, S. 32.

[2] Engels, F., Marx-Engels-Werke (MEW 2), Die Lage der arbeitenden Klasse in England, Berlin 1974, S. 356.

[3] Altvater, E./Mahnkopf, B., Globalisierung der Unsicherheit, a.a.O., S. 36.

[4] Vgl. Bäcker, G./Bispinck, R./Hofemann, K./Naegele, G., Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, Bd. 1, 3. Aufl., Wiesbaden 2000, S. 36.

[5] Deppe, H.-U., Zur sozialen Anatomie des Gesundheitssystems, Frankfurt a.M. 2000, S. 12.

[6] Bäcker, G./Bispinck, R./Hofemann, K./Naegele, G., Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland, a.a.O., S. 27.

[7] Keynes, J. M., Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, Berlin 1994, S. 314, (zuerst London 1936).

[8] Bäcker, G./Bispinck, R./Hofemann, K./Naegele, G., Sozialpolitik und soziale Lage, a.a.O., S. 36f.

[9] Negt, O., Arbeit und menschliche Würde, 2. Aufl., Göttingen 2002, S. 127.

[10] Ver.di-Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft e.V. (Hrsg.), Mehr Einkommen, mehr Kaufkraft! Lohnpolitik für Einkommen, Nachfrage und Beschäftigung, Berlin 2003, S. 29.

[11] Vgl. Biehler, H./Hahn, E./Meyer-Fries, T., Ladenschluss: Gesetz bereitet das Feld zum Angriff auf den freien Sonntag, in: WSI-Mitteilungen, Heft 4/2003, S. 259ff.

[12] Ver.di-Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft e.V. (Hrsg.), Mehr Einkommen, mehr Kaufkraft!, a.a.O., S. 29.

[13] IG Metall Hannover Bezirksleitung (Hrsg.), Für eine gerechte Steuerpolitik. Hannover 2000; Ver.di, Abteilung Wirtschaftspolitik (Hrsg.), Staatsfinanzen stärken, Berlin 2002.

[14] Negt, O., Arbeit und menschliche Würde, a.a.O., S. 15.

[15] Forrestier, V., Der Terror der Ökonomie, München 1998, S. 14.

[16] Vgl. Mahnkopf, B., Vom Sozialpartner zur Nicht-Regierungsorganisation?, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Heft 5/2003, S. 303ff.

[17] Glasstetter, W., Recht auf Arbeit – Plausibilität versus Umsetzbarkeit, in: Das Wirtschaftsstudium (WISU), Heft 4/1998, S. 470.

[18] Vgl. dazu das Memorandum 2002 europäischer Ökonominnen und Ökonomen, in: Memo-Forum. Zirkular der „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik“, Nr. 29 vom Dezember 2002, S. 16ff., sowie Welzmüller, R., Für eine Europäische Wirtschaftspolitik, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Heft Nr. 9/2002, S. 525ff., Truger, A./Hein, E., Koordinierte Makropolitik nach wie vor erforderlich, in: Gewerkschaftliche Monatshefte, Heft Nr. 9/2002, S. 534ff.

[19] Vgl. Heise, A., Zur ökonomischen Sinnhaftigkeit von „Null-Defiziten“, in: Wirtschaft und Gesellschaft, 28. Jahrg., Heft 3/2002, S. 291ff.

[20] Vgl. Welsch, J., Innovationsstandort Deutschland – Verpaßte Chancen?, in: WSI-Mitteilungen 1/1994, S. 12 f.