Sozialstaatsdemontage

Neo-liberale Symbolik und Politik des Sozialabbaus

September 2003

Soziale Realität kann nur als interpretierte oder gedeutete wahrgenommen werden, sie stellt sich uns nicht „an sich“ dar. Insofern ist entscheidend, wer sie deutet, welche politischen und sozialen Kräfte die Interpretations- und Definitionsmacht besitzen, um somit auch die menschlichen Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata beeinflussen und beherrschen zu können. Denn Menschen bilden entsprechend den gesellschaftlichen Strukturen, in die sie eingebunden sind, in ihrem Habitus Wahrnehmungs-, Bewertungsschemata (Bourdieu) heraus, die es ihnen ermöglichen, sich in der sozialen Welt zurecht zu finden und zu handeln. Nichts kann wahrgenommen werden, wenn wir keine Wahrnehmungskategorien zur Verfügung haben, um die gesellschaftliche Deutung des Wahrzunehmenden zu verstehen – weder ob ein Baum grün ist noch ob der Gegenstand überhaupt so etwas wie das ist, was wir als Baum bezeichnen. Gemäß ihrer sozialen Wahrnehmungsschemata produzieren und reproduzieren die Menschen gesellschaftliche Strukturen und Verhältnisse, indem sie handeln, so wie „man“ handelt; präreflexiv akzeptieren sie den Codex des kleinen und größeren sozialen Umfelds, in dem sie leben.

Obwohl wir davon ausgehen müssen, dass Habitusstrukturen eines Individuums und somit seine Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata je nach biographischem Kontext relativ verschieden sind, so überwiegt dennoch die allgemein akzeptierte und übliche „Sichtweise“ auf die soziale Welt. Gemeinsames besteht nicht nur aus Tradition und Geschichte, auch die jeweils aktuelle gesellschaftliche Deutungsmacht eines herrschenden Diskurses ist nicht zu unterschätzen. In der Regel gelingt es, eine Kongruenz zwischen herrschender und individueller Interpretation sozialer Verhältnisse herzustellen. Wie anders ließe sich die Akzeptanz von nicht zu akzeptierenden Verhältnissen erklären.

Im folgenden möchte ich versuchen, anhand der spezifischen Symbolik des aktuellen neo-liberalistischen Diskurses auf einige Mechanismen seines Erfolgs aufmerksam zu machen.

Metaphern der neoliberalen Umdeutung

Eine entscheidende Rolle spielt z.B. das scheinbar einfache Adjektiv „neu“: Eine wirkungsvolle Performanz stilisierte es zum Symbol und zwar im längst wieder verebbten Diskurs New Economy. „Neu“ erfährt seine Bedeutung dadurch, dass „alt“ zu ihm in Gegensatz gebracht wird. Alles wurde und wird verteufelt, egal was und wen das Adjektiv „alt“ etikettiert, auch Bewährtes. Einmal in den Sog dieses Gegensatzpaares „neu/alt“ geraten, erhält „Altes“ dadurch eine negative Konnotation. In das Umfeld von „alt“ rücken dann auch Adjektive wie z.B. „starr“ und „unbeweglich“ in Gegensatz zu positiv zu deutenden Adjektiven wie „flexibel“ und „wandlungsfähig“; ein sehr wichtiges Gegensatzpaar wurde auch „traditionell/modern“. Alles und jeder, der sich dem neo-liberalen Flexibilisierungskurs entgegenstellt, wie z.B. einige Gewerkschaften, wie zögerlich auch immer, ist unbeweglich oder traditionell, hängt dem Alten nach, ist nicht „up to date“ – im übrigen das Schlimmste, was einem passieren kann.

Der Diskurs New Economy war in vieler Hinsicht einer der weitest reichenden und gelungensten Umdeutungsversuche der symbolischen ökonomischen und politischen Ordnung in jüngster Geschichte, weit über die Grenzen des ökonomischen Feldes hinaus. Anders formuliert, das ökonomische Feld konnte seinen Wirkungsradius erheblich ausdehnen. (Unseren Blick nur auf die neuen Produkte der Informations-und Kommunikationstechnologien oder inzwischen verrauchte spektakuläre Erscheinungen wie start-ups zu richten, wie es der Feuilletonismus beliebte zu tun, wäre weitaus zu kurz gegriffen.)

Mit seiner Umdeutungsmacht[1] ist es dem neo-liberalen Diskurs gelungen, grundlegende Neuerungen und Veränderungen im ökonomischen Feld zu installieren. Neue, neo-liberale Reglements als Resultat neuer Machtverhältnisse und Konkurrenzbeziehungen im engeren Bereich des ökonomischen Feldes, mehr und mehr auch darüber hinaus, konnten sich durchsetzen. Nicht zuletzt konnten sich die Großbanken beherrschende Positionen erobern.

Bereits in den 1970er Jahren war der Neo-Liberalismus zum Kampf gegen den Keynesianismus auf den Plan getreten. Deficit-spending des Staates wurde als die Todsünde überhaupt gegeißelt und für alles verantwortlich gemacht: Krise, Inflation, (erstmals auftretende) Dauerarbeitslosigkeit, die vor allem mit den Zechenschließungen im Bergbau begann, aber auch blieb. Gefeiert – und nicht etwa kritisiert – wurden Thatcherismus und Reaganomics. Von Vollbeschäftigung als volkswirtschaftlichem Ziel war keine Rede mehr, im Gegenteil: der Vorteil des Lohn-Dumping in unterentwickelten Ländern wurde salonfähig.

Seit den 1990er Jahren nun ist zu beobachten, wie sich die Finanzmärkte mit ihrer durchaus spezifischen Logik als ökonomisch strukturbestimmend auch im produktiven Sektor in den Vordergrund geschoben haben. Die beiden herausragenden „Kreationen“ der New Economy waren „venture capital“ und „shareholder-value“, sie überlebten den Boom der New Economy und blieben uns erhalten. Beide demonstrieren sie die Machtstrukturen des ökonomischen Feldes geradezu beispielhaft: ein „venture“-Kapitalgeber spekuliert mit Börsengewinnen ebenso wie ein Shareholder. Beide repräsentieren sie Positionsinhaber im Feld, die über ein großes Kapitalvolumen als „Spieleinsatz“ verfügen.[2]

Darüber hinaus avancierte in der Phase boomender New Economy der Markt zur wichtigsten Metapher, dessen „magische Kraft“ keineswegs nachgelassen hat. Als Begriff „praktisch nie definiert und erst recht nicht diskutiert, ... (ist) Markt seit der grenznutzentheoretischen Revolution von etwas Konkretem zu einer abstrakten Idee ohne empirische Bezugsgröße..., zu einer mathematischen Fiktion geworden“ (Bourdieu 1998: 164). Die Metapher „Markt“ unterfüttert die Fiktion mit vielfältigen Assoziationsmöglichkeiten. Einen Markt ohne Machtstrukturen imaginierend, suggeriert sie in ihrer Symbolik freien Zutritt für jeden. Sie mobilisiert Alltagserfahrungen – symbolische Assoziationen, z.B. vom orientalischen Basar, über einen großstädtischen Wochenmarkt bis hin zur Börse in der Wallstreet. „Viele soziale, politische, internationale Kämpfe haben keine andere Waffe (...) als die Symbolik. So sind die Finanzmärkte zum großen Teil symbolische Spiele, in denen die Kraft der Vorstellungen, die Kraft der Ideen zum Einsatz kommt“ (Bourdieu 2001b: 36).

In der Metapher, die den Markt, das ökonomische Feld als offen, frei zugänglich für jeden, der sein Glück versuchen will, ausmalt, verschwinden die ökonomischen, sozialen und symbolischen Zugangsbedingungen und Voraussetzungen für eine tatsächliche Teilnahme am Marktgeschehen und ökonomischem „Erfolg“. Ohne Besitz von ökonomischem, kulturellem und symbolischem Kapital ist keine Position innerhalb der hierarchischen Struktur des Marktes zu erobern. Verkannt werden Machtstrukturen und Konkurrenzkämpfe um die führende Stellung oder schlicht um Positionen überhaupt. Sowohl Volumen als auch Symbolkraft des akkumulierten Kapitals sind also strategisch entscheidend.

Nur in außergewöhnlichen historischen Konstellationen, wie z.B. das Ereignis New Economy möglicherweise ein solches war, konnten einige Akteure lediglich mit exzeptionellen Ideen (und großzügigen venture-Kapital-„Spritzen“) sich Positionen auf dem Markt (der I&K-Technologien) erobern.[3] Manche junge start-ups waren dank der historischen Konstellation erfolgreich, viele sind letztendlich in Verkennung der realen Bedingungen und Voraussetzungen des Marktes gescheitert. Dennoch, ohne ein „Interesse, das eine Verkennung der realen Verhältnisse immer produziert“, ohne „jene besondere Glaubensform der ‚illusio’“ (Bourdieu 2001a: 128) hätten sie ihre Versuche auf dem Markt der New Economy nicht gewagt – ohne Glauben an das Spiel keine Spieler.

Auch wenn der Börsenboom mehr oder weniger in sich zusammengefallen ist und in seinem Niedergang nicht nur einige I&K-Produktionen, sondern auch alteingesessene Unternehmen der „Realwirtschaft“ tangiert hat, der Feldzug des Neo-Liberalismus ist dadurch nicht aufgehalten. Die Metapher eines „freien“ Marktes (gemeint ist natürlich ein deregulierter Arbeitsmarkt) hat ihre Wirkung keineswegs eingebüßt.

Eine zu beobachtende breite Akzeptanz in weiten Kreisen der Bevölkerung, insbesondere auch bei denjenigen, die keine Akteure im ökonomischen Feld sind, bei noch Arbeitenden wie bei solchen, die nur Konsumenten sind, lässt sich m.E. auf die mystischen Effekte der Metapher zurückführen. Manch ein Arbeitsloser mag sogar Zweifel hegen, ob nicht die „Nebenkosten“ auch seines Lohns für den „Arbeitgeber“ untragbar waren. Denn eine Metapher transformiert stets das, wofür sie steht, in eine Sphäre des Universellen und Unhistorischen. Mit einer Vorstellung von Markt als abstraktem Gebilde, das weder hierarchische Strukturen noch Geschichte hat, überall gleich und ohne besondere Eigenschaften ist, damit „arbeiten“ neo-liberale Protagonisten. Funktioniert der Markt nicht, d.h. wenn Krisen auftreten und kein stetiges Wachstum stattfindet, dann ist das – lt. ihrer Definition sich spontan selbst regelnde System – durch Interventionen fremder „Instanzen“, z.B. den Staat, aus dem „Gleichgewicht“ (auch eine mythologische Vorstellung) gebracht worden, dann sind es Störungen, die eingetreten sind, weil in das Marktgeschehen interveniert worden ist. Das neo-liberale Dogma besagt, dass ein Markt nur dann ohne konjunkturelle Schwankungen (Anomalien) funktionieren kann, wenn er frei ist von (staatlichen) Reglementierungen[4] und den Akteuren keine (sozialen) Einschränkungen auferlegt werden. Ein „freier“ Markt ist offen für die Bedürfnisse eines jeden Individuums, so das Credo in Hayeks „Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung“ (Hayek, 1969).

Zu den zentralen Bestandteilen neo-liberaler Argumentation gehören auch die Rede von grenzen- und schrankenlosen Absatzmärkten (nur unter Bedingungen des Freihandels, versteht sich) und somit geweckte, m.E. illusionäre Erwartungen von stetigem wirtschaftlichem Wachstum, Visionen von unerschöpflichen Absatzmöglichkeiten, hier insbesondere im Bereich der neuen Kommunikations- und Technologieprodukte.

Natürlich haben die PCs, geschweige das Internet ganze Kontinente und weite Landstriche noch nicht „erreicht“, und nach wie vor faszinieren deren Möglichkeiten Generationen junger Menschen weltweit. Auch hier wieder: nur wenn abstrahiert wird von notwendigen sozialen, kulturellen und qualifikatorischen und vor allem infrastrukturellen Voraussetzungen für die Nutzung neuer Technologien, kann mit großen und schnellen Absatzchancen gerechnet werden.[5]

Der Diskurs vom „Freihandel“, den die mächtigsten Industrienationen, allen voran die USA in der WTO – die „graue Eminenz der Globalisierung“ (Fritz: 2003) – führen, ist eins von vielen illustren Beispielen symbolischer Gewalt gegenüber armen Ländern: vom „freien“ Handel profitieren nur die Mächtigen, die unter dem Etikett „frei“ einen Protektionismus ärmerer Länder zum Schutz von deren Produkten ablehnen. Mit GATS (General Agreement on Trade and Services) sollen nun auch Dienstleistungen den globalen (neoliberalen) Handelsbedingungen unterworfen werden, d.h. auch Trinkwasserversorgung, Gesundheit, Bildung sollen nach dem Prinzip einer sogenannten „Meistbegünstigungsklausel“ auf dem Weltmarkt als käufliche Waren gehandelt werden. „Die Handelspartner müssen gleichbehandelt werden. Handelsvergünstigungen (z.B. Vorzugszölle), die einem WTO-Mitglied gewährt werden, sind auch allen übrigen Mitgliedern einzuräumen“.[6]

Hauptfeind Staat

Die Vision eines (Welt-)Marktes als Feld ohne Grenzen und mit ungeahnten Möglichkeiten scheint nach wie vor eine der stärksten Waffen der neuen Ordnung zu sein. Die Akteure des politischen Feldes huldigen dem Markt wie einer heiligen Instanz. Bereits seit einiger Zeit schon gerät der Staat ins „Visier“ – gefordert wird, sich für den Markt zu öffnen.

In der Zielgeraden der Sparpolitik ist nicht etwa der Staat als öffentliche Ordnungsmacht z.B. mit seinen Ausgaben für „Sicherheit“ Objekt der Begierde, im Gegenteil: Den Sicherheitsbedürfnissen der Bourgeoisie und der von populistischen Medienaufmachern eingeschüchterten Eigenheimbesitzer wird schon immer entsprochen – sondern die sozialen und öffentlichen Infrastrukturaufgaben des Staates. Die Rede von leeren Kassen des Staates, gebetsmühlenartig und ständig wiederholt, zeitigt ihre Effekte: Debattiert wird nur über Kürzungen und Abbau des Sozialstaates und nicht über durchaus mögliche Alternativen, um staatliche Defizite auszugleichen, wie z.B. Vermögens- oder Körperschaftssteuern, Trockenlegung von Steueroasen, in die jährlich ca. 8 Milliarden Euro aus der Bundesrepublik transferiert werden.

Ein verhängnisvoller Effekt der Rede von der vermeintlichen Finanzmisere des Staates ist, dass in Vergessenheit gerät, dass der Staat als „öffentliche Hand“ Aufgaben für die Allgemeinheit hat, die nicht unter die Logik der Ökonomie zu subsumieren sind, für die staatliche Instanzen als republikanische Errungenschaft die Verantwortung zu tragen haben. Ein allgemeines, für alle gleichberechtigtes Bildungswesen kann nur als öffentliche Einrichtung demokratischer Kontrolle unterliegen, ebenso wie ein Gesundheitswesen nur dann humanistisch sein kann, wenn ausschließlich die Gesundheit der Menschen als bestimmendes Prinzip dient und von öffentlichen, einer Kontrolle unterliegenden Instanzen garantiert wird. Wie weit Arbeitsmarktpolitik zum bloß rechnerischen Spielball werden kann, erleben wir zur Zeit. Entweder wird angeprangert, dass vermeintliche „Einschränkungen“ des Marktes freie ökonomische Entscheidungen behindern, wie im Falle nicht flexibler Arbeitsschutzgesetzgebung und (Flächen-)Tarifvertragsregelungen, oder es werden staatliche Ausgaben als inflationär oder contra-konjunkturell gegeißelt, einschließlich solcher für Bildung und Gesundheit.

Führende Wirtschaftsfachleute, Finanzmarkt- und Bankpolitiker scheinen den Staat als ihren Hauptfeind auserkoren zu haben, entsprechend rigoros ist ihre Kritik an staatlicher Politik, ja sogar an der gegenwärtigen gesellschaftlichen Verfasstheit, die insbesondere die Gesetzes- und Entscheidungshoheit des Staates sanktioniert. Der einen „wirtschaftlichen Aufschwung“ bremsende Hysteresis-Effekt sei staatlichen Institutionen geschuldet: sie seien inflexibel und lähmend. Ein wirkungsvolles Geschütz, das in diesem Kontext aufgefahren wird, ist das in seiner symbolischen Macht wirkungsvolle Gegensatzpaar: „autoritär/totalitär“ versus „demokratisch“ (vgl. Bourdieu/Wacquant 2001). Selbstredend ist es der Staat, der „totalitär“ oder „autoritär“ ist, denn er maßt sich an, per Gesetz, über alle Bürger zu bestimmen und Zwang auszuüben.[7] „Unerträglich“ ist staatlicher Steuerzwang, dem man sich als Geldvermögenbesitzer selbstredend nicht beugen muss. „Man macht aus Wirtschaftsliberalismus die notwendige und hinreichende Bedingungen für politische Freiheit und setzt dadurch Staatsinterventionismus mit ‚Totalitarismus‘ gleich.“ (Bourdieu 1997, S. 209)

Der Markt dagegen ist „demokratisch“: „Das Wunderbare an der Marktgerechtigkeit ist, dass hier nicht die Willkür einzelner Menschen, sondern ein anonymer Auslese- und Abstimmungsprozess über die Stellung in der Gesellschaft entscheidet.“ (Habermann 2002) Auch dieses Credo des Neo-Liberalismus ist ein Beispiel dafür, wie man von sehr wohl existierenden unterschiedlichen wirtschaftlichen und kulturellen Zugangsvoraussetzungen abstrahiert. Für einen Einsatz im „Spiel“ des ökonomischen Feldes ist nach wie vor Besitz von Kapital von Nöten, wobei auch akkumuliertes symbolisches Kapital (erworben durch Eliteerziehung und -bildung, Ansehen auf Grund familiärer Herkunft und Reichtum) eine nicht unwichtige Rolle für einen ökonomischen Erfolg spielt.

Die „Verkennung“ (Bourdieu) der Machtstrukturen im ökonomischen Feld, die letztlich auch die Marktgesetze bestimmen, ist m.E. weit über den Kreis der unmittelbar beteiligten Akteure hinaus verbreitet; dies ist ein wesentlicher Grund für eine nach wie vor durchaus stabile Akzeptanz des Kapitalismus.

Ökonomisierung des politischen Feldes – Beispiel staatliche Sparpolitik

Ein folgenreiches Charakteristikum unserer gegenwärtigen Epoche ist, dass Repräsentanten des Neo-Liberalismus im politischen Feld Einfluss haben und ein Prozess in Gang gesetzt wird, der die Souveränität des Staates zerstören und die politische Logik einer die Allgemeinheit vertretenden Instanz außer Kraft zu setzen droht. Zunehmend gelingt es, die Logik der Ökonomie zur unangefochtenen Maxime auch für politisches Handeln durchzusetzen, indem die politischen Akteure diese durchweg bereitwillig akzeptieren.

Die Mechanismen, mit denen wirkungsvolle Effekte – wie z.B. eine mächtigere Bedeutungsverschiebung zwischen politischem und ökonomischem Feld als je zuvor – erzielt werden können, sind einfach, aber sie sind schwer zu durchschauen. Kraft ihrer symbolischen Autorität sind Vertreter der Wirtschaft und deren Funktionäre in kapitalistischen Gesellschaften unangefochten, ohne öffentlich „hörbaren“ Widerspruch wird deren Autorität kaum angezweifelt, so dass eine Entmachtung von Parlament und staatlicher Politik mehr oder weniger unwidersprochen, eher mit Selbstverständlichkeit akzeptiert, mehrheitlich von der Bevölkerung hingenommen wird. Zu Autoritäten „geweiht“ werden sie von den Medien. Führende Journalisten ihrerseits wähnen sie „eingeweiht“, wenn sie z.B. zu Pressekonferenzen oder Diners berühmter finanzkräftiger think tanks[8] geladen werden. Dort werden ihnen die Konzepte und Strategien präsentiert.

Ein offizielles Amt, wie z.B. der Vorsitz einer führenden Bank, stattet dessen Inhaber nicht nur mit Weisungsbefugnissen hinsichtlich der Geschäfte der jeweiligen Institution aus, sondern insbesondere dies autorisiert ihn auch als öffentliche Person. Weil er als solche anerkannt wird, ist das, was er spricht, allein durch die Mystifikation der „Weihe“ durch das Amt wirkungsvoll.[9] Die „Weihe“ eines Amtes gründet auf dem „Glauben“, der dem Amt und seinem Inhaber geschenkt wird, ähnlich wie die Autorität kirchlicher Würdenträger in früheren Zeiten sich aus ihrem Verhältnis zu den Gläubigen ergab, bzw. umgekehrt. „Die symbolische Wirkung der Wörter kommt immer nur in dem Maße zustande, wie derjenige, der ihr unterliegt, denjenigen, der sie ausübt, als den zur Ausübung Berechtigten anerkennt..., wie er sich selbst in der Unterwerfung als denjenigen vergisst und nicht wiedererkennt, der durch seine Anerkennung dazu beiträgt, dieser Wirkung eine Grundlage zu geben.“ (Bourdieu 1990, S. 83, Herv. J.K.)

„Autoritäten“ des ökonomischen Feldes, Sprecher von feldbeherrschenden Konzernen, wichtigen Verbänden, globalen Organisation wie z.B. IWF und WTO oder auch Zentralbanken (man denke nur an selbstherrliche Verlautbarungen von Mr. Greenspan, Vorsitzender der Fed) kommen stets wirkungsvoll in den Medien zu Wort.

Alle führenden Politiker (ob „grün/rot“ oder „schwarz“) unterwerfen sich Autoritäten der Ökonomie und ihrer Gremien bedingungslos, mehr noch, sie erhärten ihre Autorität noch dadurch, indem sie sie zu unanfechtbaren Kronzeugen einer Interpretation ökonomischer Entwicklung stilisieren – in dem Maße, dass jegliche öffentliche Diskussion über Alternativen zum neo-liberalen Diskurs aufs Schärfste gegeißelt wird. Kein führender und von den Medien präsentierter Politiker in der heutigen Bundesrepublik nimmt öffentlich eine politische Gegenposition zu Prinzipien neo-liberaler ökonomischer Vorstellungen ein. Im Gegenteil, es scheint, als könnte nur Minister oder herausragender Parlamentarier sein oder werden, wer bereits neo-liberale Prinzipien im Habitus (Bourdieu) inkorporiert hat und sie als politischer Akteur bereitwillig umzusetzen gewillt ist. So werden neue kollektive Strukturen im öffentlichen Raum geschaffen, Normen etabliert, die im ökonomischen Feld bestimmend sind und die schließlich mit sozialstaatlichen Prinzipien unvereinbar sind.

Geben wir uns keiner Illusion hin. Die neuen sozialen Strukturen, die gegenwärtig installiert werden, sind nicht ohne weiteres reversibel. Unsere sozialstaatlichen Institutionen, unser Bildungswesen, das Gesundheitswesen, die sozialen öffentlichen Dienstleistungen, alles das, was „öffentlich-rechtlicher“, staatlicher Aufsicht unterliegt, ist historisch gewachsen, Resultat langer politischer Auseinandersetzungen, von demokratischen Bewegungen den Herrschenden abgerungen.

Der zur Geißel aller staatlichen Haushaltspolitik in allen europäischen Mitgliedsländern und solchen, die es werden wollen, avancierte sogenannte Stabilitätspakt – einst von der Regierung des CDU-Kanzlers Kohl den EU-Ländern aufgezwungen – dessen Sinnfälligkeit längst, wenn auch nur leise angezweifelt wird, beherrscht die staatlichen Ausgaben und Subventionen für öffentliche Einrichtungen. Als vermeintliche Anti-Inflationspolitik längst zum Selbstzweck und für deren einstige Befürworter zum Bumerang geraten, erhält der Pakt Priorität vor „nachhaltiger“, Entwicklung von öffentlichen Einrichtungen, insbesondere einem dringend demokratisch und nicht privat zu reformierenden Bildungssystem.

Wenn Ausgaben für Rüstung und Militär (einschließlich der zwangsläufigen Korruption), Polizeiapparat und Gefängnisse nicht angetastet, sondern im Gegenteil aufgestockt und ausgebaut werden, und wenn eine progressive Besteuerung nach wie vor tabu bleibt, können beim status quo nur Ausgaben für Sozial- und Dienstleistungen, Bildung und Ausbildung gekürzt werden. Der Staat kappt seine „linke Hand“ und kräftigt seine „rechte“, wie Bourdieu (1998b) in „Gegenfeuer“ treffend formuliert.

Das Problem der Akzeptanz

Diskussionen über Sparen, die in allen Bereichen des öffentlichen Raums – von Krankenhäusern bis Hochschulen und Kultur – geführt werden, verlaufen überall nach einem ähnlichen Muster und zeigen, wie sehr eine vermeintliche ökonomische Rentabilität – de facto abgeleitet von Zinserwartungen der Shareholder – inzwischen bereits zum einzigen Kriterium auch in fast allen nicht ökonomischen Feldern geworden ist. Mehr und mehr schicken sich staatliche Institutionen an, öffentliche Dienstleistungen an Prinzipien privater Wirtschaftsunternehmen auszurichten, oder sie ohnehin per „outsourcing“ zu privatisieren und zu kommodifizieren. „Man identifiziert ‚Modernisierung’ mit Überführung der rentabelsten öffentlichen Dienstleistungen in den Privatsektor sowie mit der Auflösung oder Disziplinierung des untergeordneten Personals im öffentlichen Dienst, das für alle Ineffizienz und alle „Erstarrungen“ verantwortlich gemacht wird.“[10]

Mit symbolischer Gewalt wird ein „pensée unique“ (Bourdieu), ein Einheitsdenken im „öffentlichen Dienst“ erzwungen, orientiert an wirtschaftlicher Rentabilität als ein Wert an sich. Öffentliche Sparpolitik kann am Alltagsverstand der Menschen anknüpfen, denen Sparsamkeit nach wie vor als Tugend erscheint und dies allemal bei öffentlichen Ausgaben, die für „andere“ verwaltet werden, und so kann sich ihnen nur der Gegensatz Verschwendung als untugendhaft aufdrängen und keine mögliche Alternative. Denn eine Staatsverschuldung im Interesse einer „Nachhaltigkeit“ für spätere Generationen, z.B. ihnen ein gut ausgebautes und organisiertes Bildungssystem zu hinterlassen (vgl. Krätke 1999)[11], oder notwendige öffentliche Fürsorge, die mehr ist, als Leiden unsichtbar zu machen, wäre als staatliche Politik zu rechtfertigen.

Wenn keine öffentliche politische Auseinandersetzung über die Aufgaben des Staates und seiner Institutionen geführt wird und darüber, ob der in allen Bereichen oktroyierte Sparzwang zu akzeptieren ist, orientiert sich der Alltagsverstand der Menschen an unmittelbaren Erfahrungen, die sie hier und heute machen. Diese Erfahrungen sind größtenteils belastend und negativ. Sie kämpfen mit bürokratischen Hindernissen, sie sind mit Recht ungläubig gegenüber intransparenter Subventionspolitik und unzufrieden mit mangelnder öffentlicher Versorgung. Lehrer und Kinder klagen über zu volle Klassen und zu wenig Lehrer. Insofern tun sich ihnen nicht ohne weiteres Vorstellungen über ein Zukunftsszenario auf mit noch verheerenderen Folgen. Die ständige Rede von Reformen verstehen sie als Veränderung zum Besseren und nicht als Privatisierung von Dienstleistungen, die dann nur Vermögende kaufen können. Die Menschen wollen einen reformierten öffentlichen Bereich, aber nicht in neo-liberalem Sinn.

Zu erklären ist eine zu beobachtende Paradoxie, dass die „Ökonomisierung“ des politischen Feldes, der Abbau des Sozialstaates, oder mit Bourdieu: die „Zerstörung kollektiver Strukturen“ in unserem Land weit verbreitete Akzeptanz findet und kaum Protest hervorruft, auch bei denen, die „ausgegrenzt“ sind bzw. werden. Dies ist m.E. als Indiz einer gelungenen Umdeutung der Symbolik zu betrachten. Der unerbittliche Maßstab „ökonomischer Effektivität“, auch dort, wo andere Maßstäbe angebracht wären, reicht offensichtlich manchmal bis an die Grenze der eigenen Existenz. Wenn kein wirksamer Gegendiskurs öffentlich geführt wird, kann ein Symbol wie wirtschaftliches Wachstum um jeden Preis als Non plus ultra gesellschaftlicher und individueller Prosperität – die zentrale Chiffre der neo-liberalen Neuen Ökonomie – verbreitet Effekte zeitigen. Mehr oder weniger alle Gruppen der Gesellschaft sehen, wenn auch aus unterschiedlicher Motivation, in der kapitalistischen Ökonomie und nicht länger in deren politischer, am „Interesse des Gemeinwohls“ orientierter „Lenkung“ den einzigen Hoffnungsträger.

Mit symbolischer Gewalt zwingt der Diskurs dem politischen Feld ein Denken auf, welches den „Anspruch auf Allgemeingültigkeit (eines) für absolut gehaltenen Gesetzes der Logik“ (Bourdieu 2001a: 147) der Neuen Ökonomie erhebt. Ein Gesetz des ökonomischen Feldes, inzwischen inkorporiert im Habitus nicht nur der politischen Führungseliten, sondern offensichtlich auch breiter Bevölkerungsschichten, wird, wenn es sich durchsetzt, soziale Strukturen durch Handeln der Akteure verändern. Öffentliche soziale Strukturen und Institutionen sind kollektiv, der Allgemeinheit zu Nutze, sie werden irreversibel verloren sein. „Der öffentliche Dienst, das öffentliche Transportwesen, die öffentlichen Krankenhäuser, die öffentlichen Schulen usw., all das ist eine außerordentliche Kulturleistung, die schwer aufzubauen war. Um die Idee der ‚Öffentlichkeit‘ im Gegensatz zu ‚Privatheit‘ zu entwickeln, waren Generationen von Philosophen und Juristen notwendig. All das wird liquidiert ...“ (Bourdieu 2001b: 40).

Literatur

Castel, Robert (2000): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz

Bourdieu, Pierre (1990): Was heißt Sprechen? Die Ökonomie des sprachlichen Tausches, Wien

Bourdieu, Pierre (1992): Rede und Antwort, Frankfurt/M.

Bourdieu, Pierre (1997): Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnose alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz

Bourdieu, Pierre (1998a): Der Einzige und sein Eigenheim, Hamburg

Bourdieu, Pierre (1998b): Gegenfeuer, Konstanz

Bourdieu, Pierre (2001a): Meditation. Zur Kritik der scholastischen Vernunft, Frankfurt/M.

Bourdieu, Pierre (2001b): Das politische Feld. Zur Kritik der politischen Vernunft, Konstanz

Bourdieu, Pierre/Loïc Wacquant (2001): Neoliberal Newspeak: Notes on the New Planetary Vulgate. In: Radical Philosophy, 108 January 2001

Einemann, Edgar (Hg.) (2001): Silicon Valley. Materialien, Hinweise, Eindrücke. CD-ROM

Fritz, Thomas (2003): Die letzte Grenze. GATS. Die Dienstleistungsverhandlungen in der WTO. In: Weed, Berlin, Februar 2003

Habermann, Gerd (2002): Ökonomie des Neides im Wohlfahrtsstaat. Zermürbende Wirkung auf die unternehmerische Elite. In: NZZ vom 2./3.3. 2002

Hayek, F.A., von (1969): Freiburger Studien. Gesammelte Aufsätze, Tübingen

Krätke, Michael (1999): Neoklassik als Weltreligion? In: Kritische Interventionen 3

[1] Zur Genese der Umdeutungsmacht des Neo-Liberalismus s. auch: Johanna Klages (2002), Der Diskurs New Economy – eine Genealogie. In: Johanna Klages/Siegfried Timpf (Hrsg.), Facetten der Cyberwelt. Subjektivität, Eliten, Netzwerke, Arbeit, Ökonomie, Hamburg 2002, S. 9-28. (Vgl. auch die Besprechung dieses Buches in diesem Band; Anm. d.Red.)

[2] Überzogene Erwartungen auf den Aktienmärkten, d.h. Forderungen nach massiven Gewinnsteigerungen – eine der möglichen Ursachen für den Korruptionsskandal bei Enron. Vgl. NZZ v. 9./10.2.2002.

[3] Die Genese der Informationstechnologie im Silicon Valley zeigt den „Ausnahmefall“ eindrucksvoll: sowohl waren die historischen Bedingungen besondere, als auch eine Konzentration wissenschaftlich-technischer Qualifikationen außergewöhnlich und schließlich fanden sich Kapitalgeber, die letztlich bis ins Pentagon reichten. Vgl. Edgar Einemann 2001.

[4] Von Mitgliedern der Chicagoer Schule und insbesondere Milton Friedman (Capitalism and Freedom, 1962) wird Markt mit Freiheit gleichgesetzt, womit „die ökonomische Freiheit zur Bedingung der politischen Freiheit erhoben“ wird. (Bourdieu 1998: 168)

[5] Ein Politiker nach dem anderen, ob Schröder oder Bush z.B. bereisen Länder mit zukunftsträchtigen Absatzmärkten, immer begleitet von einem Tross gewichtiger Wirtschaftsfunktionäre.

[6] Fritz Thomas, Die letzte Grenze GATS. Die Dienstleistungsverhandlungen in der WTO, in: Weed, Berlin, Februar 2003.

[7] Unter der Überschrift „Frankreich nach Jahren des Paternalismus“ schreibt die NZZ vom 16./17.2.2002 in ihrem Wirtschaftsteil: „Frankreich präsentiert sich nach zwei mehrheitlich sozialistisch geprägten Jahrzehnten als zentralistischer und bürokratischer Wohlfahrtsstaat, in dem eine Oberschicht in paternalistischer Manier für das zwangsläufig unscharfe ‚Gemeinwohl’ der Bürger sorgt. Verwurzelt ist die fehlende Eigenverantwortung in der französischen Mentalität.“

[8] Der prominenteste und älteste think tank ist die „Société du Mont-Pelerin“, mit Mitgliedern aus allen wichtigen Industrieländern; einer ihrer nicht weniger wichtigen, weit verzweigten Ableger ist das anglo-amerikanische „Institut of Economic Affaires“. Ihre Sternstunde war die ‚Krise des Keynesianismus’.Die Strategien und Konzepte des Neo-Liberalismus lagen in den Schubladen bereit. Vgl. Keith Dixon, Die Evangelisten des Marktes, Konstanz 2002.

[9] Vgl. in der FR. vom 15. November 2002 folgende Verlautbarung der EZB: „Neue Arbeitsplätze entstehen, wenn die Wirtschaft brummt ...; dass zuletzt geringere Wachstumsraten als früher ausreichten ... (könnte) nach Meinung der EZB mit Arbeitsmarktreformen zu tun haben. Doch sie gehen den Notenbankern nicht weit genug. ... Besonders wichtig sei es, die ‚Anreizkompatibilität‘ der Steuer- und Sozialleistungssysteme zu erhöhen..., staatliche Hilfen einzuschränken, um damit den Abstand zu den Arbeitseinkommen zu vergrößern.“

[10] Pierre Bourdieu, Die Abdankung des Staates, in: ders. et al., Das Elend der Welt. Zeugnisse und Diagnosen alltäglichen Leidens an der Gesellschaft, Konstanz 1997, S. 209.

[11] Bereits heute wird prognostiziert, dass in Zukunft Fachkräfte fehlen werden.