Seit Beginn der 80er-Jahre des 20. Jahrhunderts ist die Polarisierung zwischen Arm und Reich in der Bundesrepublik wieder zu einem zentralen sozialpolitischen Problem geworden, das sich im Kontext von deutscher und europäischer Vereinigung sowie globalen politischen wie sozioökonomischen Prozessen auf quantitativ und qualitativ erweiterter Ebene entwickelte.
Grundlegend für die Präsentation von Zielen, Handlungsanforderungen und Alternativen einer „Politik gegen die Polarisierung von Armut und Reichtum“ im Kontext des gesellschaftlichen Wandels ist das jeweilige Armuts- bzw. Reichtumskonzept. Ob sie als objektives oder subjektives Phänomen gesehen werden, ob sie als materielle Armut und Reichtum (sog. Ressourcenkonzepte) bestimmt oder multidimensional verstanden werden (sog. Lebenslagenkonzepte), ob man sie unter absoluten oder relativen Maßstäben betrachtet, hängt wesentlich von der jeweiligen politisch-normativen Festlegung ab. Danach richten sich das empirisch ermittelte Ausmaß sowie die Strukturen der Armut und des Reichtums.[1] Entscheidend ist aber auch das jeweilige normative Verständnis von Wohlstand und sozialer Deprivation d.h. deren Wertschätzung, bzw. wieviel Armut und welches Maß an Reichtum als vorteilhaft, akzeptabel oder als nicht mehr hinnehmbar begriffen werden.
Offizielle Armuts- und Reichtumsberichterstattung
Armut
Der vom Bundeskabinett Ende April 2001 verabschiedete Bericht kommt zu dem Ergebnis, dass „das Phänomen sozialer Ausgrenzung auch in einem wohlhabenden Land wie Deutschland anzutreffen ist.“[2] Die Analyse der Erwerbseinkommen „ergab für Westdeutschland eine deutliche Ungleichheit zwischen 1973 und 1998“.[3] Besonders Haushalte im „Niedrigeinkommensbereich“ mussten „einen Einkommensverlust hinnehmen“ (15 Prozent im Westen, 17 Prozent im Osten).[4] Die ungleiche Vermögensverteilung wird folgendermaßen quantifiziert: „Vom Privatvermögen (...) entfielen (...) in Westdeutschland 42% auf die vermögendsten 10% der Haushalte, während nur 4,5% den unteren 50% der Haushalte gehörten.“[5] Die Zahl der Vermögensmillionäre hat sich von 1960 bis heute mehr als verhundertfacht, von 14.000 im Jahre 1960 über 270.000 im Jahre 1973 auf heute rund 1,5 Millionen.[6] Dagegen vervierfachte sich die Zahl der Sozialhilfe empfangenden Menschen in Westdeutschland von 1973 bis 1998 auf 2,5 Millionen (insgesamt sind es etwa 2,88 Millionen).[7] Dafür verantwortlich gemacht werden gestiegene Arbeitslosigkeit und sinkende Erwerbseinkommen. Der Bundesbericht konstatiert, dass das „permanente Erreichen überdurchschnittlicher Einkommenspositionen (...) in der zweiten Hälfte der 90er-Jahre ebenso wieder zugenommen (hat) wie das Risiko eines dauerhaften Abstiegs in unterdurchschnittliche Einkommensklassen.“[8]
Im ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung wird eindrucksvoll dokumentiert, welches Ausmaß die soziale Ungleichheit in Deutschland angenommen hat. Während es einer großen Mehrheit der Bevölkerung immer noch gut oder sogar sehr gut geht, wächst die Anzahl derer, die in relativer Armut, Unsicherheit und Existenzangst leben. Am unteren Ende der Wohlstandsskala befinden sich überdurchschnittlich viele Kinder und Jugendliche. Ein extrem hohes Armutsrisiko tragen junge Menschen, die in „unvollständigen“ und/oder kinderreichen Familien aufwachsen. Ende 1998 bezogen insgesamt 1,1 Millionen Kinder unter 18 Jahren laufende Hilfe zum Lebensunterhalt: „Die Sozialhilfequote von Kindern ist damit fast doppelt so hoch wie im Bevölkerungsdurchschnitt.“[9] Nach dem von der Hans-Böckler-Stiftung, dem DGB und dem Paritätischen Wohlfahrtsverband in Auftrag gegebenen Armutsbericht müssen ca. 2 Millionen Kinder bis zu 15 Jahren, d.h. mehr als 14 Prozent dieser Altersgruppe, als arm gelten.[10]
Hinsichtlich der Lebenslage, Teilnahmedefizite und psychischen Belastungen junger Menschen beobachtet Andreas Klocke eine „Kumulation und Verstetigung von einerseits negativen und andererseits positiven Lebenssituationen“.[11] Er prognostiziert für Europa eine weitere Verschärfung der sozialen Ungleichheit im Kindes- bzw. Jugendalter und spricht von der Möglichkeit zur Ausbildung einer „sozialen Unterschicht“ (underclass) junger Erwachsener, wie man sie bisher nur aus den USA kenne, mit ähnlichen Gefahren ihrer Entfremdung von den konsensualen Normen.[12] Letztere Befürchtung sollte jedoch genau hinsichtlich ihres sozialtechnologischen Impetus überprüft werden. Was bspw. wären denn die „konsensualen Normen“ eines strukturell Desintegration und Entfremdung produzierenden kapitalistischen Gesellschaftssystems, in welches Jugendliche integriert werden sollen? Oder andersherum gefragt: Haben nicht deviante, Gewalt ausübende und kriminelle Jugendliche die herrschenden, nämlich sozialdarwinistischen Konkurrenzprinzipien und „konsensualen Normen“ viel mehr verinnerlicht, als einigen Sozialforschern bewusst ist?
Reichtum
Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung soll – wie schon der Titel zeigt – nicht nur über Armut, sondern auch über Reichtum informieren. Der Volkswirtschaftler Karl Georg Zinn hält jedoch die Informationen über Reichtum für recht beschränkt. Zwar werde im Bericht auch darauf verwiesen, doch „es fragt sich, ob die Auslassung des Produktivkapitals in der Beschreibung der Vermögensverteilung, die aus technischen Gründen nicht erfassten sehr hohen Einkommen und Vermögen sowie die Ausblendung des Problems der Steuerhinterziehung nicht bedeuten, dass durch die damit bedingte Unterschätzung der Reichtumskonzentration nicht einer verharmlosenden Betrachtung Vorschub geleistet wird. Jedenfalls lässt der Bericht nirgends erkennen, dass zwischen Reichtum und Armut ein dialektischer Zusammenhang besteht, Reichtumskumulation auf verschiedenen Wegen Armut quasi produziert – nicht zuletzt auch auf dem Weg der ideologischen Legitimierung sozialer Ungerechtigkeit.“[13]
Auf diese Weise wird deutlich, dass die herrschende Geheimhaltung des real existierenden Reichtums Teil seiner Entstehungs- und Entfaltungsbedingungen ist. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch der Armuts- und Reichtumsforscher Ernst-Ulrich Huster: „Es drängt sich der Verdacht auf, dass Unkenntnis über hohe Einkommen vielleicht sogar eine ihrer Grundvoraussetzungen darstellt.“[14]
Auch der Ökonom Dierk Hierschel findet die Ergebnisse des Armuts- und Reichtumsberichts der Bundesregierung – angesichts der Wirtschafts- und Sozialpolitik der letzten Jahre – wenig überraschend: „Denn, dass es sich beim Kapitalismus um ein Gesellschaftssystem handelt, welches aus sich heraus Ungleichheit produziert, ist ein für Westeuropa seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts belegbarer empirischer Sachverhalt. Dass sozialstaatliche Regulierung Ungleichheit reduziert, dokumentiert die Geschichte der Wohlfahrtsstaaten. Wenn in einer Phase des Abbaus der sozialen Sicherungen Ungleichheit zunimmt, ist dies nur die logische Konsequenz.“[15]
Indessen vermeldet der Reichtumsbericht „World Wealth Report 2003“ der privaten US-Bank Merrill Lynch und der Unternehmensberatung Cap Gemini Ernst & Young, dass trotz Börsenkrise und Konjunkturflaute die Zahl der Millionäre in Deutschland weiter gestiegen ist. Demnach verfügten Ende des Jahres 2002 755.000 Privatpersonen in der Bundesrepublik über ein Finanzvermögen von mehr als einer Million Dollar (ca. 950.000 Euro). Ende 2001 lag die Zahl der Millionäre in Deutschland – ohne Immobilienvermögen – bei 730.000 Personen.[16]
Leistungsgesellschaft? Klassengesellschaft?
Der Elitenforscher Michael Hartmann kommt derweil zu dem Ergebnis, dass wir nur scheinbar in einer chancengleichen Leistungsgesellschaft leben, in welcher jeder und jede – unabhängig von der Herkunft – durch die eigene Leistung Karriere machen und zur Elite gehören kann. So seien beispielsweise Arbeiterkinder, selbst wenn sie es mit Mühe und Anstrengung zum Doktortitel gebracht haben, weiterhin besonders benachteiligt. „In den 400 Spitzenunternehmen hat gerade einmal jeder 200ste von ihnen eine Topposition erreicht. In den anderen großen Firmen war es insgesamt auch nur jeder siebzehnte. Während der letzten vier Jahrzehnte hat sich dieser Unterschied nicht etwa verringert, wie man angesichts der Bildungsexpansion und der von früheren SPD-Regierungen verkündeten Formel von der Chancengleichheit hätte annehmen können, sondern vertieft. Die Aussichten auf eine Topposition sind für die Sprösslinge des gehobenen Bürgertums bis auf das Zweieinhalbfache gestiegen, für die des Großbürgertums sogar bis auf das Fünffache.“[17] Demnach hat die vorgebliche soziale Öffnung des deutschen Bildungswesens bislang nicht zur sozialen Öffnung der Eliten geführt, sondern vielmehr zur Stabilisierung der herrschenden Klasse, was Hartmann folgendermaßen erklärt. „Die erheblich besseren Karriereaussichten für Bürgerkinder (...) resultieren im Kern aus der Tatsache, dass die Personen, die an der Spitze der Unternehmen stehen und damit über die Besetzung der Toppositionen entscheiden, für diese Positionen jemanden suchen, der ihnen im Habitus gleicht oder zumindest ähnelt: Bürgerkinder suchen Bürgerkinder.“[18]
Insofern plädiert der Historiker Paul Nolte – mit Blick auf die bundesrepublikanische Gesellschaft – richtiger Weise für eine Reformulierung des Klassenbegriffs. Zwar seien Begriffe wie moderne Zivil- oder Wissensgesellschaft wesentlich beliebter, doch auch deren Polarisierung in ‚User‘ und Nicht-Partizipierende (an Internet, neuen Medien etc.) werde immer deutlicher. Daher fordert Nolte einen klareren Blick: „Was hier als neue Spaltung der deutschen Gesellschaft entlang der ‚Internet-Linie‘ verkauft wird, ist alles andere als neu. Es ist vielmehr ein getreues Abbild der alten Klassengesellschaft, die wir verdrängt haben, ohne ihre Realität beseitigen zu können. Die Internet-Linie trennt in altbekannter Manier diejenigen, die in ungesicherten, schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen leben, die viel fernsehen und wenig Bücher lesen, von den anderen, die von der ökonomischen Entwicklung profitieren, vielleicht selbständig sind, in jedem Fall gut verdienen und an der Bildungs- und Informationsflut partizipieren. Sagen wir es deutlich: Bildung und Besitz sind immer noch die Grundlage dieser neu-alten Klassengesellschaft.“ Jedoch werde dies in Politik, Medien und Wissenschaft weitgehend totgeschwiegen: „Unter linken und liberalen Intellektuellen ist Gesellschaftskritik, überhaupt das Denken in Kategorien der ‚Gesellschaft‘, passé und gilt als altmodisch; man wendet sich der ‚Kultur‘ zu, der Welt der Symbole und Imaginationen, nicht mehr der harschen materiellen Realität.“ Der Hinweis auf den allgemein angehobenen Lebensstandard, der so genannte soziale „Fahrstuhleffekt“ (Ulrich Beck) mache vergessen, „dass die Abstände wuchsen und sich neue, subtile Mechanismen der sozialen Differenzierung herausbildeten.“ Anhand des Aufstiegs der privaten Fernsehsender seit den 1980er-Jahren lasse sich die Klassendifferenzierung beispielsweise auch hinsichtlich der Fernsehkonsument(inn)en feststellen: „Mit RTL und Sat.1 ist ein spezielles Unterschichtfernsehen entstanden, und deshalb war es nur konsequent, dass sich am anderen Ende der sozialen Skala Sender wie 3Sat oder Arte etablierten.“[19]
Während aber das Bundeskabinett in seinem ersten Armuts- und Reichtumsbericht die Superreichen ausdrücklich gegen Dämonisierungen und „Neiddiskussionen“ in Schutz nimmt,[20] hat es keinerlei Skrupel, wenn sich solche Kampagnen gegen Erwerbslose und Sozialhilfebezieher/innen richten. Vielmehr scheint auch die rot-grüne Regierungskoalition erfreut darüber zu sein, dass hoch bezahlte Journalist(inn)en die Opfer ihrer verfehlten Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zu Sündenböcken machen. Anders lassen sich die diversen – ex- und impliziten – „Sozialschmarotzer“- und „Faulenzer“-Kampagnen eigentlich nicht erklären.[21]
Der Sozialwissenschaftler Dieter Eißel kann indes nachweisen, dass auch unter rot-grün die Verteilung immer ungleicher wird und mithin der öffentlichen Armut ein gestiegener privater Reichtum gegenüber steht. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung dient ihm dabei als Ausgangspunkt seiner anschließenden Kritik des neoliberalen Paradigmas, welches mehr Ungleichheit als Bedingung für mehr Wohlstand für alle ansieht. Dagegen zeigt Eißel die Schattenseiten einer ungleichen Verteilung auf und geht auf die spezifischen Formen von Armut ein. Über die Kritik hinaus skizziert er praktikable Möglichkeiten einer gerechteren Verteilung des Wohlstandes und stellt dar, dass dies, entgegen der herrschenden Meinung, sogar ökonomisch sinnvoller wäre. „So hat die Steuerpolitik der Bundesregierung die Kommunen in eine sehr prekäre Haushaltslage gebracht. Unter dem Strich ist die steuerstaatliche Umverteilung also in mehrfacher Hinsicht problematisch. Die Steuerreformvorhaben der letzten Jahre waren bisher einseitig auf die Belange der Wirtschaft ausgerichtet, und haben dadurch den Finanzierungsbedarf für notwendige öffentliche Investitionen ebenso vernachlässigt, wie eine gerechtere und konjunkturpolitisch effizientere Umverteilung von oben nach unten.“[22]
Doch der Mainstream bundesdeutscher Armuts- und Reichtumsforschung, aber auch Politik und Medien, beschränken sich weitgehend auf die – meist individualisierende bzw. biografisierende – bloße Beschreibung von Armut. Und wenn sie sich tatsächlich mal mit Reichtum beschäftigen, achten sie meist tunlichst darauf, keine Kausalbeziehungen herzustellen. So scheint sogar für manche Armuts- und Sozialforscher die Beschäftigung mit Reichtum verpönt zu sein, z.B. weil dies suggerieren würde, dass Armut und Reichtum zwei Seiten einer Medaille seien.[23]
Ursachen von Armuts- und Reichtumsstrukturen
Im Armuts- und Reichtumsbericht behauptet oder suggeriert die Bundesregierung, es gebe keinen ursächlichen Zusammenhang zwischen Armut und Reichtum. Die statistischen Daten zu Armut einerseits und Reichtum andererseits stehen beziehungslos nebeneinander. Maßnahmen schlägt die Bundesregierung nur hinsichtlich der Armut vor (Förderung des Immobilienerwerbs, Kindergelderhöhung, Schuldnerberatung u. ä.), nicht aber hinsichtlich des Reichtums (wie etwa die Wiedereinführung der Vermögensteuer etc.). Da Reichtum „wichtige positive gesellschaftliche Funktionen im ökonomischen, sozialen und kulturellen Bereich“ habe, nimmt die Bundesregierung den Reichtum von jeder möglichen Maßnahme aus und fordert, den „in Deutschland vorhandenen Wohlstand und Reichtum nicht zu dämonisieren und Neiddiskussionen keinen Vorschub zu leisten.“[24]
Auf diese Leerstelle im Bundesbericht aufmerksam machend, stellt Werner Rügemer einige interessante Fragen über die Entstehung und Funktion von Reichtum sowie seinem „legitimen und illegitimen Gebrauch“. „Wie wird Reichtum erworben, welche Rolle spielen dabei Macht und Machtmißbrauch, wie hoch ist die geforderte Profitrate, und wie wird sie durchgesetzt? Wo beruhen Reichtum und Gewinn nicht auf individueller Leistung, betriebswirtschaftlicher Rationalität und auf Marktmechanismen, sondern auf Selbstbedienung der Vorstände und Insider, auf Kartellbildung, Steuerflucht und Steuerhinterziehung, schließlich auch auf Korruption? Wie werden Reichtum und insbesondere Betriebsvermögen verwandt, wo führen sie zur Schädigung der Gemeinschaft, indem Arbeitsplätze zerstört, Menschenrechte verletzt, Politiker bzw. politische Parteien gekauft und die Umwelt vergiftet wird? Inwiefern und unter welchen Bedingungen führt gesetzwidriger, machtgestützter und monopolistischer Erwerb von Reichtum und Produktivvermögen zur Armut und Arbeitslosigkeit Dritter?“ [25] Doch laut Rügemer fürchtet sich die Bundesregierung offensichtlich vor solchen Fragen, wenn sie stattdessen verlautbaren lässt: „Die Ungleichheit der Einkommen ergibt sich aus dem Marktprozess.“[26]
In seiner grundsätzlichen Kritik vorherrschender Armuts- und Reichtumsbetrachtungen, verweist Werner Rügemer auf die unterbelichtete empirische Analyse von Umfang, Entstehung und Wirkungen von Armut und Reichtum sowie ihres Zusammenhangs. Dagegen unterstreicht er, dass arm und reich ein dialektisches Verhältnis eingehen, das vom Reichtum her übergriffen und daher bestimmt wird und das wesentlich Ausdruck des Verhältnisses von Lohnarbeit und Kapital ist. „Warum werden nun dennoch hier weiter die Begriffspaare ‚arm-reich’ und ‚Armut-Reichtum’ verwandt, wo es doch im Kern um das dialektische Verhältnis von Arbeit und Kapital geht? Die Verwendung ist nicht nur sinnvoll, sondern notwendig. Denn die meisten Armen, sogar heute, angesichts des globalen Siegeszuges ‚des’ Kapitalismus, sind nicht arm wegen eines unmittelbaren Lohnarbeitsverhältnisses oder einer nachfolgenden Arbeitslosigkeit, sondern nur infolge einer Fernwirkung ‚des’ Kapitalismus. Das können Spätfolgen des ehemaligen Kolonialstatus sein, das können die Abhängigkeit von Weltmarktpreisen, die Ausplünderung eines Landes durch einige Konzerne, durch Teile der eigenen ausgehaltenen Elite, das kann die von der Weltbank regulierte Staatsverschuldung eines Landes sein. Viele Arme sind arm, weil sie es unmittelbar mit feudalherrenartigen Grundbesitzern zu tun haben. Desgleichen sind viele Reiche nicht reich oder nicht nur reich, weil sie zu den dominierenden Kapitalisten gehören, sondern weil sie alte Reichtümer und Privilegien aus früheren Epochen besitzen oder repräsentieren. Dass das Verhältnis ‚arm-reich’ weiter besteht und sich gegenwärtig sogar ausweitet, ist zwar im Kern dem Gegensatz von arm und reich in seiner modernsten kapitalistischen Form geschuldet, aber nicht in jeder Einzelheit und für jede Person direkt von ihm verursacht. Die Ergebnisse und Folgen eines 4.000-jährigen arm-reich-Verhältnisses sind in der gegenwärtigen Menschheit angehäuft und lasten als ein scheinbar normal gewordener Alptraum auf uns.“[27]
Schließlich ist darauf zu verweisen, dass, wie es Karl Marx formuliert hat, Armut und Reichtum als „Pol und Gegenpol der kapitalistischen Produktion“ eines in sich widersprüchlichen Ganzen bestehen.[28] „Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, d.h. auf Seiten der Klasse, die ihr eigenes Produkt als Kapital produziert.“[29] Deshalb müsste auch marxistische Politik über bloße Umverteilungsforderungen hinauskommen zu sozialer Emanzipation jenseits des Klassenverhältnisses. Man muss nicht der übertriebenen und historisch falschen Ansicht von Franz Schandl sein, dass Umverteilung schlichtweg unmöglich sei. Für ihn ist „eine einfache Division der Güter oder der Arbeitsplätze, wie sie die Umverteilung vorschlägt, (...) auf der Basis kapitalistischer Verhältnisse gar nicht machbar, denn es ist schließlich stets so, dass die ‚Verteilungsverhältnisse wesentlich identisch mit diesen Produktionsverhältnissen, eine Kehrseite derselben sind.’ (Marx). Jene können von diesen nicht abheben. Die Umverteilung ist eine Unverteilung. Sie ist nicht möglich.“ [30] Dennoch sollte Marxens Kritik des Gothaer Programm der deutschen Sozialdemokratie, in der er ihr vorwarf „den Sozialismus hauptsächlich als um die Distribution sich drehend darzustellen“, gerade auch in der heutigen Zeit als unverändert aktuell angesehen werden.[31]
Sozialstaatsumbau und die Armuts- wie Reichtumsfolgen
Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung begreift vor allem die rot-grüne Renten- und Steuerpolitik als herausragende Maßnahmen gegen Armut.[32] Bei genauerer Betrachtung entpuppen sich jedoch gerade die Riester’sche Renten- und die Eichel’sche Steuerreform als kollosale Umverteilungsprojekte von unten nach oben. Denn während die Strukturprinzipen der umgestalteten Altersversicherung – Teilprivatisierung sozialen Risikos und Arbeitgeberentlastung – eine wieder zunehmende „Seniorisierung“ der Armut forcieren, hat die rot-grüne Steuerreform den Staat, die Länder und Kommunen systematisch verarmen lassen und die Spitzeneinkommen sowie Gewinne und Vermögen radikal entlastet.[33]
Als aktuell verbreitetste und brisanteste Armutsform in der Bundesrepublik sollte Kinderarmut nicht den Blick dafür verstellen, dass es sich bei dem Phänomen um ein gesellschaftspolitisches Grundproblem handelt, von dem auch andere, wenn nicht sämtliche Altersgruppen betroffen sind. Künftig dürfte sich die Struktur der Armutspopulation aufgrund der Zunahme diskontinuierlicher Erwerbsverläufe, der Kürzungen im Sozialbereich (Wegfall der originären Arbeitslosenhilfe; Verringerung der Beiträge zur Rentenversicherung, welche die Bundesanstalt für Arbeit bei Erwerbslosigkeit entrichtet; Senkung des Rentenniveaus und Teilprivatisierung der Altersvorsorge), aber auch von Scheidungen und der Anzahl unzureichend gesicherter Frauen wieder in Richtung der Senior(inn)en verschieben. Berücksichtigt man die Entwicklungstendenzen im Bereich des Arbeitsmarktes und der Sozialpolitik, sind „vermehrt Abstiege aus gesicherten Zonen in prekäre Einkommenslagen“ zu befürchten.[34]
Indessen weisen die steigenden Zuzahlungen im Gesundheitswesen, die Streichung des Krankengeldes, die weitere Privatisierung der Altersversicherung, der Umbau der Bundesanstalt für Arbeit und Kürzungen beim Arbeitslosengeld, der Arbeitslosenhilfe sowie die Einschränkungen des Kündigungsschutzes, der Tarifautonomie und die Kürzungen im Gesundheitswesen auf eine neue Qualität von Sozialabbau und Deregulierung hin. Nach der (teil)privatisierten Vorsorge für das Alters-, Erwerbsminderungs- und Todesfallrisiko, drohen nun ähnliche Konzepte bei der Krankenversicherung (durch den Zwang, für das Krankengeld eine Privatversicherung abzuschließen und durch die Ausweitung der Eigenbeiträge bei den Krankenkosten). Sollten die Pläne des Bundeskanzlers („Agenda 2010“) umgesetzt werden, stünde die Arbeitslosenversicherung sogar vor einem Fundamentalumbau, der die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und eine kürzere Bezugsdauer beim Arbeitslosengeld beinhaltete. In die gleiche Richtung gehen Schröders Vorschläge zur Gesundheitspolitik, zur arbeitsrechtlichen Deregulierung beim Kündigungsschutz und beim Tarifvertragsgesetz. Neben einem weiteren Rückgang der Binnennachfrage durch den Einbruch der Kaufkraft bei denen, die fast ihr gesamtes Einkommen für ihren Lebensunterhalt aufbringen müssen, haben die genannten Maßnahmen gravierende Folgen.
Die Forderungen der „Agenda 2010“ und die Konzepte von Hartz basieren auf dem einheitlichen Grundmuster wohlfahrtsstaatlicher Restrukturierung vom Welfare- zum Workfare-Regime und damit verknüpfter Aktivierungsstrategien, welches Achim Trube und Norbert Wohlfahrt folgendermaßen beschreiben: „Schritt für Schritt werden die sozialpolitischen Instrumente der Betreuung und Versorgung arbeitsmarktpolitischen Kriterien untergeordnet, die sich fast ausschließlich an einer Integration der ‚Betreuten’ in den ersten Arbeitsmarkt zu messen haben. Parallel dazu findet ein Ausbau Druck ausübender, Aufsicht führender und kontrollierender sozialstaatlicher Funktionen statt, die eine aktive ‚Anpassung’ der vom Arbeitsmarkt Ausgegrenzten an eben diesen befördern sollen.“[35] Begleitet wird der institutionelle Wandel der Sozialpolitik von einer individualisierenden Deutung der Ursachen sozialer Ausgrenzung. „Diese wird als Folge ungenügender Flexibilität und Anpassungsfähigkeit angesehen, während zugleich die dauerhafte Ausgrenzung zum positiven Einrichten in der sozialstaatlich konstruierten ‚Hängematte’ uminterpretiert wird, was bei Nichtanpassung an aktivierende Maßnahmen in zunehmendem Maße staatlichen Zwang und Repression rechtfertigen soll.“[36]
Hans-Jürgen Bieling beobachtet dementsprechend auf europäischer Ebene die Herausbildung neuer wettbewerbsorientierter und unter Einschluss der Sozialpartner stattfindender Kooperationsformen (sog. Wettbewerbskorporatismus). Besonders sozialdemokratische Regierungen bemühen sich angesichts anhaltender Arbeitsmarktkrisen, sozialpolitischer Reformerfordernisse sowie wirtschafts- und währungsunionsspezifischer Notwendigkeiten (EU-Stabilitätspakt und Konvergenzkriterien) um solche Institutionalisierungen. „Fast überall geht es dabei um die Verknüpfung von Lohnzurückhaltung, Arbeitsmarktflexibilisierung, die Reform der sozialen Sicherungssysteme und die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. (...) Ungeachtet der länderspezifischen Ausprägungen fügen sich die korporatistischen Arrangements sehr gut in die neue sozialdemokratische Modernisierungskonzeption einer ‚pragmatischen Flexibilisierung’ bzw. ‚kooperativen Deregulierung’.“[37]
Insofern macht sich laut Christian Brütt anhand der neueren Sozialhilfekonzepte „ein qualitativer Wandel sozialstaatlicher Regulation“ bemerkbar, welcher „mehr ist als eine leichte Verschiebung im Kommodifizierungs-Dekommodifizierungs-Mix.“[38] Mit Hilfe der Änderungen im Sozialhilfe-System (BSHG) werden, so Brütt, das sozialstaatliche Verhältnis von Lohnarbeit und Existenzsicherung verschoben und Voraussetzungen und Förderungen von Niedriglohnsektoren geschaffen. „Der sozialdemokratische ‚Neoliberalismus plus’ verbindet stärker als der von Konservativen propagierte Familien-Homo-Oeconomicus die idealtypischen Rollen des Wirtschafts- und des Staatsbürgers. Der Wirtschaftsbürger wird entweder als Unternehmer bzw. Entrepreneur oder als Arbeitskraftunternehmer funktional, der Staatsbürger vor allem über Pflichten sozial integriert.“[39]
Bekämpfung der Armen statt der Armut?
Die Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik scheint heute darin zu bestehen, dass Parteien und Politiker darum konkurrieren, wer die als Schädlinge der Nation identifizierten Personen („Sozialschmarotzer“, „Drückeberger“, „Faulenzer“) am härtesten anpackt. Im öffentlichen Diskurs über sozialstaatliche Verarmung überbieten sich die politischen Repräsentanten im Erfinden von Zumutungen an die von der Wirtschaft Ausrangierten und „Überflüssigen“, damit das Elend aus der Welt geschaffen wird – jedenfalls aus der Welt, die den Staat etwas kostet. Ignoriert wird dabei, dass Armut nicht beseitigt wird, indem man die Ansprüche auf staatliche Fürsorge beseitigt und dass durch Zwang keine Perspektiven für die Betroffenen geschaffen werden. „Nicht die Passivität der Opfer der Arbeitsmarktkrise und der gesellschaftlichen Ausgrenzung haben die Legitimationsprobleme (des Sozialstaats, M.K.) zu vertreten, sondern die fehlende bzw. unzureichende Flankierung der Prozesse wirtschaftsstrukturellen Wandels, die angesichts der Globalisierung nachhaltig und dauerhaft erforderlich gewesen wäre und dies auch nach wie vor noch ist.“[40]
Der Bremer Sozialpolitikwissenschaftler Rudolph Bauer prognostiziert alleine für die Gesetze in Folge der Hartz-Vorschläge negative Auswirkungen der Einschnitte (nicht nur) für arbeitslose Jugendliche: „Die innergesellschaftlichen Verarmungstendenzen verschärfen sich – und das mit heute noch nicht absehbaren Folgewirkungen für die psychische, mentale und soziale Entwicklung der davon betroffenen Kinder und Jugendlichen.“[41] Wenn nur noch diejenigen Sozialhilfe (künftig „Sozialgeld“) erhalten, die als nicht erwerbsfähig klassifiziert werden, befürchtet Bauer, dass auf dem Wege über die Definition (und amtliche Feststellung) der Erwerbsfähigkeit bzw. des Grades der Nichterwerbsfähigkeit eine neue ‚Drehtür’ zwischen den Systemen des Arbeitslosen- und des Sozialgeldes eingebaut wird. „Es besteht die Gefahr, dass davon auch bestimmte Gruppen von benachteiligten Jugendlichen betroffen sind und ins gesellschaftliche Abseits gestellt werden.“[42]
Es liegt auf der Hand, dass die verschiedenen Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Sozial- und Gesundheitskürzungen in Folge von Hartz, Rürup und „Agenda 2010“ auch und besonders für junge Menschen gravierende Folgen bis zur Armutsgefährdung haben. Für die Sozial- und Gesundheitsberichterstattung in der Bundesrepublik kann bereits jetzt – bei allen methodischen und empirischen Schwierigkeiten – als gesichert gelten, dass materielle bzw. soziale Armut immer auch negative Auswirkungen auf die Gesundheit hat. Personen, die in sozial benachteiligten Verhältnissen leben, sind gleich in mehrfacher Hinsicht gefährdet. So ist eine deutlich höhere postnatale Säuglingssterblichkeit als in den oberen sozialen Schichten zu verzeichnen, eine deutlich höhere Zahl jener Kinder, die mit einem Gewicht von weniger als 2.500 Gramm geboren werden, eine zweimal höhere Mortalitätsrate durch Unfälle als bei Kindern aus privilegierteren Schichten, ein sehr viel häufigeres Auftreten akuter Erkrankungen und eine höhere Anfälligkeit für chronische Erkrankungen.[43] Weitere Privatisierungen im Gesundheitsbereich könnten hier katastrophale Wirkungen hervorrufen.
Entsprechend beobachtet auch der Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider eine deutliche Beendigung sozialer Verantwortung des Staates und einen Exklusionsansatz durch die Agenda 2010. „Unverschleiert offenbart des Kanzlers Agenda, was sich tatsächlich hinter diesem Politeuphemismus verbirgt: ein Vormarsch freier Marktwirtschaft neoliberalen Zuschnitts, ein Konzept, das von vorne herein auf Ausgrenzung ausgelegt ist.“[44]
Deshalb ist gegen die Vorschläge der Hartz- und Rürup-Kommission sowie der Kanzlerschen „Agenda 2010“ als Sozialabbaumaßnahmen Protest und Widerstand (weiter) zu organisieren. Dies gilt auch für die neuerlichen Kürzungspläne bei Weiterbildungen und berufsvorbereitenden Bildungsmaßnahmen durch die Bundesanstalt für Arbeit, deren Folgen für die sie besuchenden etwa 125.000 jungen Männer und Frauen bislang gar nicht abzusehen sind.
Reformistische Alternativen
Umso mehr besteht dringender Bedarf, alternative Vorschläge zur Bewältigung der Massenerwerbslosigkeit aufzugreifen und zu unterstützen, wie sie immer wieder – aber bislang ohne Chance auf mediale und öffentliche Wahrnehmung – vorgetragen werden. So ist in diesem Zusammenhang beispielweise auf den Aufruf „1 Million Arbeitsplätze durch öffentliche Daseinsvorsorge, Zukunftsinvestitionen, Arbeitszeitverkürzung und Umverteilung“ (www.politikwechsel.org), die „Initiative für eine sozialstaatliche Arbeitsmarktpolitik“ (www.aktive-arbeitsmarktpolitik.de), das Memorandum 2003 (www.linksnet.de), den Aufruf von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern „Sozialstaat reformieren statt abbauen – Arbeitslosigkeit bekämpfen statt Arbeitslose bestrafen“ sowie die Attac-Broschüre „‚Agenda 2010’ verhindern – soziale Alternativen anbieten!“ zu verweisen.
Den neoliberalen Konzepten eines „beschäftigungsorientierten“ Umbaus des Sozialstaates ist eine bedarfsorientierte Strategie der Armutsbekämpfung entgegenzustellen.[45] Erstere zielen darauf ab, die Integration von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt zu optimieren. Als einziger Ausweg aus der Massenarbeitslosigkeit gilt die Beschäftigung von Geringqualifizierten im Bereich haushalts- und personenbezogener Dienste. Arbeitgeber hätten geringere Lohnkosten, während die öffentlichen Haushalte durch ein so genanntes Bürgergeld enorm belastet würden. Da es zu wenig Arbeitsplätze gibt, hätte der so genannte Kombilohn vor allem ein Sinken des Lohnniveaus und ein Steigen der Erwerbslosigkeit zur Folge. Zudem ist zu befürchten, dass bei Einführung eines solchen Systems die arbeitslosigkeitsbedingte Armut nicht abnähme, sondern einfach in eine Armut trotz Erwerbstätigkeit umgewandelt würde.
Eine integrierte bedarfsorientierte Strategie der Armutsbekämpfung bezieht sich nicht nur auf den Arbeitsmarkt, sondern auf sämtliche Aspekte der Armut. Allgemeine Lebensrisiken werden, noch bevor es zur Inanspruchnahme von Sozialhilfe kommt, von vorgelagerten Auffangnetzen gemindert (z.B. durch die Verbesserung des Wohngeldes, des Familienlastenausgleichs etc.). Damit die noch verbleibenden Sozialhilfeempfänger/innen nicht stigmatisiert werden, soll es eine Grundsicherung für alle bedürftigen Gruppen mit gleichem Leistungsniveau und ähnlichen -bedingungen geben. Das Einkommen eines Haushaltes mit Kind würde z.B. so weit aufgestockt, dass dessen Versorgung gesichert wäre. Sozialhilfeempfänger/innen bekämen, wie trotz finanzieller Schwierigkeiten in einigen Kommunen schon praktiziert, einen Rechtsanspruch auf Weiterbildungsmaßnahmen.[46]
In die richtige Richtung weisen dabei ebenfalls die von Brigitte Stolz-Willig vorgeschlagenen Reformmaßnahmen, welche der Exklusion prekär Beschäftigter und Familienarbeit leistender Personen aus dem Schutz des sozialen Sicherungssystems begegnen sollen:
- „Stärkung der Finanzierungsbasis des sozialen Sicherungssystems, indem hohe Einkommen und (Kapital-)Vermögen in die Beitragspflicht einbezogen werden;
- Stärkung der Versicherungsbiografien über Einbezug aller Formen der Erwerbstätigkeit und perspektivisch die Einführung einer Mindestbeitragspflicht für alle Personen im erwerbsfähigen Alter;
- Einbezug gesellschaftlich erwünschter und regulierter Phasen der Nichterwerbstätigkeit (Erziehung, Pflege, Qualifizierung) in den Risikoausgleich;
- Einbau einer bedarfsorientierten Mindestsicherung in die Arbeitslosenversicherung.“[47]
Fazit
Die Polarisierung von Armut und Reichtum, insbesondere die soziale Benachteiligung von jungen Menschen, ist ein nicht durch die neoliberale Modernisierung hervorgerufenes, aber zumindest dadurch spürbar verstärktes Phänomen, weshalb diese Armutsform zu Recht als „Kainsmal der Globalisierung“ (H. Gerhard Beisenherz) bezeichnet wird. Sie kann nicht durch isolierte Maßnahmen, wie etwa höhere Transferleistungen an Eltern, beseitigt werden, sondern nur mittels einer integralen Beschäftigungs-, Familien- und Sozialpolitik. Nötig ist deshalb ein Paradigmawechsel vom „schlanken“ zu einem aktiven, interventionsfähigen und -bereiten Wohlfahrtsstaat sowie ein Konsens zur Umverteilung von Arbeit, Einkommen und Vermögen. Eine reiche Industrienation, die den (verfassungsrechtlich abgesicherten) Anspruch erhebt, dafür zu sorgen, dass (junge) Menschen – gleich welcher Herkunft – ohne materielle Not und Entbehrungen leben können, muss entsprechend handeln.
Solange jedoch die öffentliche Meinungsführerschaft des Marktradikalismus, d.h. die Hegemonie des Neoliberalismus, anhält und sein Druck auf das System der sozialen Sicherung nicht abnimmt, wird es selbst in hoch entwickelten Wohlfahrtsstaaten weiterhin (Kinder-)Armut und extremen Reichtum geben. In einer kapitalistischen Hochleistungs- und Konkurrenzgesellschaft, die sich mehr für Börsenkurse als für Straßenkinder interessiert, gilt (Kinder-) Armut als Randerscheinung und die Entstehung, Strukturen sowie Wirkungen des real existierenden Reichtums bleiben unterbelichtet. Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Familien- und Sozialpolitik können das Problem zwar lindern helfen, aber nicht verhindern, dass die Kluft zwischen Arm und Reich fortbesteht und den inneren Frieden gefährdet. Nur wenn Strukturreformen und entschlossene Schritte der Umverteilung von oben nach unten erfolgen, wird sich das weder individuell verschuldete noch schicksalhaft vorgezeichnete, sondern gesamtgesellschaftlich bedingte Phänomen verringern lassen.
Allerdings sollten bei allen alternativen (Reform-)Überlegungen Joachim Hirschs Bedenken hinsichtlich der Konzeptionen, Modelle und Appelle gegenüber dem Sozialstaat berücksichtigt werden. „Auch die Einführung einer lohnarbeitsunabhängigen Grundsicherung würde, wenn dahinter nicht eine starke gesellschaftsverändernde politisch-soziale Bewegung steht, mit einiger Notwendigkeit zu einem Bestandteil neoliberaler Modernisierungsstrategien verkommen. Emanzipatorische Veränderungen sind an politisch-soziale Kämpfe mit den damit verbundenen Lernprozessen gebunden. Angesichts gesellschaftlicher Verhältnisse, die darauf angelegt sind, die Menschen zu bloßen Konsum- und Leistungsmarionetten oder zu degradierten Marginalisierten zu machen, stellt sich die Frage nach den AkteurInnen einer solchen Entwicklung besonders drängend.“[48]
[1] Vgl. zu verschiedenen Armuts- und Reichtumsdefinitionen und theoretischen Konzepten beispielsweise: Gunter E. Zimmermann, Armut, in: Bernhard Schäfers/Wolfgang Zapf (Hrsg.), Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, Bonn 1998, S. 34ff.; Uwe Hochmuth/Günter Klee/Jürgen Volkert, Armut in der sozialen Marktwirtschaft: Möglichkeiten und Probleme ihrer Überwindung aus ordnungspolitischer Sicht, Tübingen/Basel 1995, S. 7ff.; Ernst-Ulrich Huster, Enttabuisierung der sozialen Distanz: Reichtum in Deutschland, in: ders. (Hrsg.), Reichtum in Deutschland. Die Gewinner der sozialen Polarisierung, Frankfurt am Main/New York 1997, S. 11ff.
[2] Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.), Lebenslagen in Deutschland. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Bonn 2001, S. XXXV
[3] Ebd., S. 22
[4] Ebd., S. 34
[5] Ebd., S. 67
[6] Vgl. ebd., S. 65
[7] Vgl. ebd., S. 75
[8] Vgl. ebd., S. 32. Zur weiteren Vertiefung vgl. Hans-Günter Bell/Daniel Kreutz/Alexander Recht, Lebenslagen in Deutschland. Armut, Reichtum und die Zukunft des Sozialstaates, in: Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung 47 (2001), S. 122-134
[9] Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.), Lebenslagen in Deutschland, a.a.O., S. 78
[10] Vgl. Walter Hanesch/Peter Krause/Gerhard Bäcker u.a., Armut und Ungleichheit in Deutschland. Der neue Armutsbericht der Hans-Böckler-Stiftung, des DGB und des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Reinbek bei Hamburg 2000, S. 81 ff.
[11] Andreas Klocke, Die Bedeutung von Armut im Kindes- und Jugendalter – Ein europäischer Vergleich, in: Andreas Klocke/Klaus Hurrelmann (Hrsg.), Kinder und Jugendliche in Armut. Umfang, Auswirkungen und Konsequenzen, 2. Aufl. Wiesbaden 2001, S. 287f.
[12] Vgl. ebd., S. 287
[13] Karl Georg Zinn, Gediegene Daten – problematische Rezepte. Zum „ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung“, in: Richard Detje/Dierk Hierschel/Karl Georg Zinn, Reichtum & Armut. Supplement der Zeitschrift Sozialismus 6/2001, S. 24
[14] Ernst-Ulrich Huster, Soziale Polarisierung – Wieviel Abstand zwischen Arm und Reich verträgt die Gesellschaft?, in: Herbert Schui/Eckart Spoo (Hrsg.), Geld ist genug da. Reichtum in Deutschland, Heilbronn 1996, S. 17
[15] Dierk Hirschel, Über die Schwierigkeiten des politischen Umgangs mit Reichtum, in: Richard Detje/Dierck Hierschel/Karl Georg Zinn, Reichtum & Armut. Supplement der Zeitschrift Sozialismus 6/2001, S. 31
[16] Vgl. Merrill Lynch/Cap Gemini Ernst & Young, World Wealth Report 2003, o.O. 2003
[17] Michael Hartmann, Bürgerkind sucht Bürgerkind. Nicht Leistung allein bestimmt beruflichen Erfolg, sondern viel wichtiger ist die soziale Herkunft, in: Die Welt v. 14.4.2002
[18] Ebd. sowie Michael Hartmann, Der Mythos von den Leistungseliten. Spitzenkarrieren und soziale Herkunft in Wirtschaft, Politik, Justiz und Wissenschaft, Frankfurt am Main 2002
[19] Paul Nolte, Unsere Klassengesellschaft. Wie könnten die Deutschen angemessen über ihr Gemeinwesen sprechen? Ein unzeitgemäßer Vorschlag, in: Die Zeit v. 5.1.2001; vgl. vertiefend hierzu: Joachim Bischoff/Sebastian Herkommer/Hasko Hüning, Unsere Klassengesellschaft. Verdeckte und offene Strukturen sozialer Ungleichheit, Hamburg 2002
[20] Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.), Lebenslagen in Deutschland. Der erste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Bonn, April 2001, S. 3
[21] Vgl. Frank Oschmiansky/Silke Kull/Günther Schmid, Faule Arbeitslose?, Politische Konjunkturen einer Debatte. WZB-Discussion paper FS I 01-206, Berlin 2001
[22] Dieter Eißel, Einkommens- und Vermögensverteilung. Argumente gegen eine wachsende Schieflage, in: Kai Eicker-Wolf/Holger Kindler/Ingo Schäfer/Melanie Wehrheim/Dorothee Wolf (Hrsg.), „Deutschland auf den Weg gebracht.“ Rot-grüne Wirtschafts- und Sozialpolitik zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Marburg 2002, S. 116
[23] So die Aussagen einiger Armutsforscher anlässlich des vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung veranstalteten 1. Wissenschaftlichen Kolloquiums „Lebenslagen, Indikatoren, Evaluation – Weiterentwicklung der Armuts- und Reichtumsberichterstattung“ am 30./31. Oktober 2002 im Wissenschaftszentrum Bonn (eigene Aufzeichnungen).
[24] Siehe Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.), Lebenslagen in Deutschland, a.a.O., S. 3
[25] Werner Rügemer, Heile Welten. Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 7/2001, S. 863-871, hier: S. 870
[26] Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.), Lebenslagen in Deutschland, a.a.O., S. XVI
[27] Werner Rügemer, arm und reich, Bielefeld 2002, S. 31
[28] Siehe Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 23, Berlin 1976, S. 725
[29] Ebd., S. 675
[30] Franz Schandl, Umverteilung oder soziale Emanzipation? Bruchstücke zur Neuorientierung der Sozialkritik, in: junge welt v. 6.1.2003
[31] Vgl. Michael D. Yates, Naming the system. Inequality and Work in the Global Economy, New York 2003
[32] Vgl. Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung (Hrsg.), Lebenslagen in Deutschland, a.a.O., S. XVf.
[33] Vgl. Dieter Eißel, Einkommens- und Vermögensverteilung, a.a.O., S. 87ff. sowie Bund, Ländern und Gemeinden brechen die Steuereinnahmen weg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung v. 8.8.2002
[34] Siehe Werner Hübinger, Prekärer Wohlstand. Spaltet eine Wohlstandsschwelle die Gesellschaft?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 18/1999, S. 19
[35] Achim Trube/Norbert Wohlfahrt, „Der aktivierende Sozialstaat“ – Sozialpolitik zwischen Individualisierung und einer neuen politischen Ökonomie der inneren Sicherheit, in: WSI Mitteilungen 1/2001, S. 29
[36] Ebd.
[37] Hans-Jürgen Bieling, Transnationale Vergesellschaftung und die „neue Sozialdemokratie“, in: Mario Candeias/Frank Deppe (Hrsg.), Ein neuer Kapitalismus?, Akkumulationsregime – Shareholder Society – Neoliberalismus und Neue Sozialdemokratie, Hamburg 2001, S. 232; zur sprachlichen Demagogie gegenwärtiger Sozialabbaumaßnahmen vgl. Stefan Frank, Instrumente der Erkenntnis, in: Konkret 7/2003, S. 13f.
[38] Siehe Christian Brütt, „Neoliberalismus plus“. Re-Kommodifizierung im aktivierenden Sozialstaat, in: Mario Candeias/Frank Deppe (Hrsg.), Ein neuer Kapitalismus?, a.a.O., S. 265-283, hier: S. 268
[39] Ebd., S. 277
[40] Achim Trube/Norbert Wohlfahrt, „Der aktivierende Sozialstaat“, a.a.O., S. 33
[41] Rudolph Bauer, Gravierende Einschnitte für arbeitslose Jugendliche. Hartz und die Folgen für die Jugendhilfe – Zu den jugendpolitischen Auswirkungen der Kommissionsvorschläge, in: FR v. 7.3.2003
[42] Ebd.
[43] Vgl. Birgit Fischer, Statt eines Vorwortes: Mit einer sozial tief gespaltenen Gesellschaft ins 3. Jahrtausend?!, a.a.O., S. 16; Andreas Mielck, Armut und Gesundheit: Ergebnisse der sozial-epidemiologischen Forschung in Deutschland, in: Andreas Klocke/Klaus Hurrelmann (Hrsg.), Kinder und Jugendliche in Armut. Umfang, Auswirkungen und Konsequenzen, Opladen/Wiesbaden 1998, S. 225 ff.; Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit (Hrsg.), 7. Kinder- und Jugendbericht der Landesregierung NRW, Düsseldorf 1999, S. 115 f.
[44] FR v. 26.5.2003
[45] Vgl. Walter Hanesch/Peter Krause/Gerhard Bäcker u.a., Armut und Ungleichheit in Deutschland, a.a.O., S. 559ff.
[46] Vgl. Walter Hanesch/Peter Krause/Gerhard Bäcker u.a., Armut und Ungleichheit in Deutschland, a.a.O., S. 568ff.
[47] Brigitte Stolz-Willig, Generationen- und Geschlechtergerechtigkeit oder: Familienarbeit neu bewerten – aber wie?, in: Christoph Butterwegge/Michael Klundt (Hrsg.), Kinderarmut und Generationengerechtigkeit. Familien- und Sozialpolitik im demografischen Wandel, 2. Aufl. Opladen 2003, S. 223
[48] Joachim Hirsch, Die Zukunft der Arbeitsgesellschaft, in: Erna Appelt/Alexandra Weiss (Hrsg.), Globalisierung und der Angriff auf die europäischen Wohlfahrtsstaaten, Hamburg 2001, S. 149-166, hier: S. 165. Zur weiteren Debatte über Grundsicherungsmodelle vgl. Hans-Peter Krebs/Harald Rein (Hrsg.), Existenzgeld. Kontroversen und Positionen, Münster 2000