Im November 2002 setzte die Sozialministerin Ulla Schmidt eine Kommission zur nachhaltigen Finanzierung der Sozialversicherungssysteme ein – die nach ihrem Vorsitzenden benannte Rürup-Kommission. Der Kommission wurde ein klarer Auftrag gestellt: Ausgehend von der Diagnose, dass „die Systeme der Sozialen Sicherung mittel- und langfristig vor schwierigen Herausforderungen“[1] stünden, da „wir ... uns in einer Zeit raschen Wandels, sowohl in der Arbeitswelt (z.B. Strukturwandel und grundlegende Veränderungen der Erwerbsbiografien) als auch in der Gesellschaft insgesamt“ befänden, solle die Kommission „Vorschläge für eine nachhaltige Finanzierung und Weiterentwicklung der Sozialversicherung“ entwickeln. „Insbesondere muss es darum gehen, die langfristige Finanzierung der sozialstaatlichen Sicherungsziele und die Generationengerechtigkeit zu gewährleisten sowie die Systeme zukunftsfest zu machen.“ Bereits im Arbeitsauftrag der Rürup-Kommission wurde die klare dogmatisch-neoliberale Prämisse formuliert, dass die zukünftige soziale Sicherung nur über die Senkung der Lohnnebenkosten erreicht werden könne: „Um beschäftigungswirksame Impulse zu geben, sollen Wege dargestellt werden, wie die Lohnnebenkosten gesenkt werden können.“[2]
Diese Forderung nach einer Entlastung des „Faktors Arbeit“ korrespondierte kaum überraschend mit der später formulierten Grundannahme der „Agenda 2010“, dass aus einer Senkung der Lohnnebenkosten mehr Beschäftigung erwachse. Dem Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung folgend – „die Lohnnebenkosten haben eine Höhe erreicht, die für die Arbeitnehmer zu einer kaum mehr tragbaren Belastung geworden ist. Und die auf der Arbeitgeberseite als Hindernis wirkt, Beschäftigung zu schaffen“[3] – stellte der Kommissionsvorsitzende von vornherein klar, welchem wirtschaftspolitischem Dogma er anhängt: „Der Bundeskanzler und Wirtschaftsminister Clement haben erkannt, dass Deutschland die Arbeitslosigkeit nur durch eine Senkung der Lohnnebenkosten in den Griff bekommt.“[4] Die Beschäftigungswirkung der Entlastung des „Faktors Arbeit“ erscheint Rürup sogar ausrechenbar: „Drei Prozent weniger Lohnnebenkosten bedeuten über eine Dauer von zwei Jahren 550.000 Arbeitsplätze mehr.“[5]
Die Kommission stand also vor der Aufgabe, Vorschläge zur Reform der sozialen Sicherungssysteme zu unterbreiten – eine „Reform“, bei der es im Kern um die Finanzierung von Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung gehen sollte. Die Finanzierung dieser Systeme ist an die Beschäftigung der Bevölkerung gekoppelt, so dass man eigentlich von einer prominent besetzten Kommission auch kreative Vorschläge zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit hätte erwarten können.
Aber von Anfang an stand die Arbeit der Kommission unter dem Diktum des Sparens. Von vornherein wurde im Auftrag an die Kommission das Beispiel der kapitalgedeckten Rentensysteme als positiv herausgehoben: „In der Gesetzlichen Rentenversicherung wird es darum gehen, den eingeschlagenen Weg des Ausbaus der kapitalgedeckten Ergänzungssysteme weiterzuführen, ihre Wirkungen zu überprüfen und an der Orientierung der Ausgaben an den Einnahmen festzuhalten. Vorschläge zur Verbreiterung der Finanzierungsbasis sind zu überprüfen.“[6] Auch in der Gesetzlichen Krankenversicherung wird die Ausgabendynamik beschworen: in ihr gehe es darum, „im Hinblick auf die durch die Bevölkerungsentwicklung und den medizinisch-technischen Fortschritt bewirkte Ausgabendynamik die Finanzierung langfristig zu sichern.“[7] Viele Strukturen in der Sozialversicherung seien historisch gewachsen, daher „ist auch zu prüfen, ob bei der Organisation der Sozialversicherung mittel- und langfristig Reformbedarf besteht.“[8]
Hatte sich die SPD vor den knapp gewonnenen Bundestagswahlen im Herbst 2002 noch rechtzeitig für eine Stärkung ihrer sozialpolitischen Ausrichtung entschieden und sich deutlich für das Solidarprinzip und gegen eine Aufspaltung des Leistungskataloges der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) in so genannte Grundleistungen und individuell privat finanzierte Wahlleistungen ausgesprochen[9], wurde bereits in den Koalitionsverhandlungen klar, dass die rot-grüne Regierung zu tiefgreifenden „Reformen“ der Sozialsysteme entschlossen ist.[10] Pünktlich zu den Koalitionsverhandlungen schreckte medial wirksam wiederum das Horrorszenario vermeintlich explodierender Gesundheitsausgaben und dramatisch steigender Beitragssätze der paritätisch finanzierten Gesetzlichen Krankenversicherung. Die Senkung der Beitragssätze in der GKV erhielt eine hohe Priorität – und rasch wurde eine Grundtendenz von Rot-Grün deutlich, dass zum einen die Dominanz des Kostensenkungsziels die eigentlich notwendige Diskussion über sozialstaatliche Ziele und qualitative Reformschritte bei Gesundheit, Rente und Arbeitsmarkt völlig an den Rand drängt und dass zum anderen der Abbau von Sozialleistungen als einzig mögliches Instrument angesehen wird, die Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrise zu überwinden.
Was die Hartz-Kommission für den Arbeitsmarkt war, sollte für Fragen des Umbaus der Finanzierung des Gesundheitssystems die Rürup-Kommission werden. Als einzige Möglichkeit, die Kassenbeiträge von den derzeitigen 14,4 Prozent auf die vom Kanzleramt ausgerufene Zielvorgabe von unter 13 Prozent zu senken und die Lohnnebenkosten auf unter 40 Prozent zu drücken, sah die Regierung die Gesundheitsreform, sprich Sparmaßnahmen im Gesundheitswesen. Parallel zu den vom Sozialministerium auszuarbeitenden Reformvorhaben sollte die Kommission ihre Vorschläge erarbeiten, ursprünglich gar die Ergebnisse der Gesundheitsreform in ihrem Bericht berücksichtigen und diesen im Herbst 2003 der Bundesregierung vorlegen, damit jene dann „hieraus Schlussfolgerungen für weitere Reformschritte in den Sicherungssystemen ziehen“ könne.[11] Es kam im Verlauf dieses Jahres aber ganz anders: Das Konzept einer Politikplanung, in dem die Lösung gewichtiger politischer Weichenstellungen an eine Art „Rat der Weisen“ delegiert wird, um einer kontroversen gesellschaftspolitischen Auseinandersetzung aus dem Wege zu gehen, ging so nicht auf.[12] Schon bei der Einsetzung der Reformkommission durch die Bundessozialministerin Ulla Schmidt war Skepsis angebracht. Abgesehen von der Fragwürdigkeit demokratisch nicht legitimierter, sondern eben berufener Kommissionsmitglieder lohnt ein Blick auf die Mitglieder der Kommission und ihre Funktionen: Unter der Leitung des Professors für Volkswirtschaft und Multidoktors Bert Rürup, Finanzwissenschaftler und bereits Mitglied und Vorsitzender verschiedener Sachverständigengremien, sollte die Kommissionsarbeit durch den Staatssekretär im Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung, Heinrich Tiemann koordiniert werden. Tiemann, ein enger Vertrauter des Bundeskanzlers, organisierte bereits die verschiedenen Runden des „Bündnis für Arbeit“ und war gemeinsam mit Ulla Schmidt führend an der politischen Durchsetzung der „Riester-Rente“ beteiligt. Ihm wurde nachgesagt, dass er im Ministerium dafür zu sorgen habe, dass die Ministerin Schmidt bei den anstehenden Reformen die Wünsche des Kanzleramtes durchsetze.[13] Für die Kapitalseite wurden in die Kommission sozialpolitische Hardliner berufen: Zwei renommierte Arbeitgeber aus der Unternehmensberatungsbranche: zum einen Prof. Dr. Roland Berger, „Chairman and Global Managing Partner“ der Roland Berger Strategy Consultants, sowie die „Bundesvorsitzende der Wirtschaftsjunioren Deutschland“ und Geschäftsführende Gesellschafterin der Beratungsgesellschaft Döttling&Partner, Dominique Döttling. Das Finanzkapital der Deutschen Bank und die private Versicherungswirtschaft repräsentierend wurde der Vorstandsvorsitzende des privaten Versicherungskonzerns AXA, Dr. Claus-Michael Dill berufen. Für die Automobilproduzenten saß ein Vorstandsmitglied von Daimler-Chrysler, Günther Fleig in der Kommission. Für die innerhalb der Gesundheitspolitik immens mächtige und durchsetzungsfähige deutsche Chemieindustrie fand der Vorstandsangehörige der BASF Eggert Voscherau, zugleich Präsident der Europäischen Chemieindustrie (Cefic) in der Rürup-Kommission Platz. Ein Spitzenfunktionär der Bundesvereinigung der deutschen Arbeitsgeberverbände (BDA), Jürgen Husmann, Mitglied in der Hauptgeschäftsführung der BDA, repräsentierte die Gesamtinteressen des Kapitals der Bundesrepublik. Ihre grundsätzlichen Positionen waren bekannt: Das Motto der BDA in der Gesundheitspolitik lautet „Zukunftssicheres Gesundheitswesen durch weniger staatliche Bevormundung und mehr private Eigenverantwortung!“[14] Traditionell plädiert die BDA für die Auszahlung des Arbeitgeberanteils an den Krankenversicherungsbeiträgen an die Arbeitnehmer, die sich vermittels mehr „Wahlfreiheit“ sodann auf dem erweiterten Krankenkassenmarkt individuellen Versicherungsschutz kaufen sollen. Zur Lockerung der Krankenkassenfinanzierung vom Beschäftigungsverhältnis wünscht die BDA eine gesetzliche Festschreibung des Höchstbeitrags für die Arbeitgeber auf sechs Prozent: „Ein zu langsamer Übergang auf ein modernes Mischsystem aus staatlicher und privater Vorsorge wäre Gift für Arbeitnehmer und Betriebe und damit vor allem für den Arbeitsmarkt.“[15]
Mit diesen generellen Positionen und den direkten Vertretern des Kapitals waren die zwei Vertreter der Gewerkschaften konfrontiert: Für den DGB dessen stellvertretende Vorsitzende Ursula Engelen-Kefer sowie der Vorsitzende der IG Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU), Klaus Wiesehügel.[16] Beide arbeiteten aus einer Minderheitenposition heraus „konstruktiv, aber auch kritisch mit“[17] – von vornherein den generellen Ansatz der Kommissionsmehrheit ablehnend, über einseitige Leistungskürzungen bei den Versicherten Finanzierungsfragen zu begegnen.
Aus den Reihen der universitären Wissenschaft kamen neun Kommissionsmiglieder; sechs von ihnen Professoren der Wirtschafts- und Finanzwissenschaften. Unter der Leitung des sozialdemokratischen Volkswirtschaftlers Rürup arbeiteten Prof. Gert Wagner, der neben seinem Lehrstuhl auch für das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung tätig ist, sowie Prof. Karl W. Lauterbach, der Direktor des Kölner Instituts für Gesundheitsökonomie, Medizin und Gesellschaft und gleichzeitig der wichtigste gesundheitspolitische Berater der Sozialministerin. Lauterbach auf der einen und Rürup/Wagner auf der anderen Seite entwickelten sich während der Arbeit der Kommission zu den wohl markantesten Kontrahenten in Fragen der zukünftigen Reformmaßnahmen: Während Lauterbach letztlich für eine Stärkung der solidarischen Gesundheitspolitik und eine Bürgerversicherung eintritt (sich jedoch gleichzeitig auch bestimmten Wettbewerbskonzepten und Kürzungsmaßnahmen keineswegs verschließt), präferieren sowohl Rürup als auch Wagner mehr Wettbewerb und Privatisierung im Gesundheitssystem und so generell einen konsequenten Abbau des Sozialstaates. Wagner gehörte bereits während der Koalitionsverhandlungen einer Gruppe von Wissenschaftlern aus dem Ausschuss für Gesundheitsökonomie des Vereins für Socialpolitik an, die in einem Aufruf für „mehr wettbewerbliche Freiräume im Gesundheitswesen statt Fortsetzung von kurzatmigem Dirigismus“[18] eintrat. In diesem Aufruf wurde getreu dem Leitdogma neoliberaler Gesundheitsökonomie behauptet, jegliche staatlich-administrative Lenkung des „Wirtschaftssektors Gesundheitswesen“ sei zum Scheitern verurteilt; stattdessen plädierten die Unterzeichner für das „Gebot der politischen Vernunft, konsequent auf die wettbewerblichen Reformoptionen zu setzen (...)“.[19] Den einzelwirtschaftlichen Akteuren – insbesondere den Krankenkassen und Leistungsanbietern – müssten konsequent wettbewerbliche Handlungsfreiräume eingeräumt werden. Zudem plädierten die Unterzeichner – wie später Wagner ebenfalls aus der Rürup-Kommission heraus – frühzeitig und konsequent für eine Abkoppelung der Beiträge für die Gesetzliche Krankenversicherung von den Arbeitseinkommen, da die derzeitige paritätische Finanzierung „beschäftigungspolitisch hochgradig kontraproduktiv“ wirke.[20] In dieselbe Richtung einer Entlastung der Arbeitgeber und einer höheren Belastung der Arbeitnehmer durch die Privatisierung von Gesundheitsrisiken konkretisierte das Kommissionsmitglied Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen, als Finanzwissenschaftler für die Rentenpläne der Regierung beratend tätig, diese Forderungen: Eine „nachhaltige Reform“ müsse sich auf die „Eigenverantwortung“ der Bürger stützen. Aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen könnten z.B. die Kosten für Zahnbehandlung und Zahnersatz gestrichen werden. Selbstbeteiligungen in Höhe von 900 € pro Jahr und Bürger sorgten nach dieser liberalen Marktlogik für Einsparungen und Rationierung.[21]
Diese im Januar erfolgten Vorstöße aus der Kommission heraus eröffneten die diskursive Kampfzone für immer neue „Versuchsballons“: Zwar rügte der Kommissionsvorsitzende die Vorschläge aus dem Gremium als „sehr misslich“, denn man wolle lediglich intern diskutieren – so würde der Eindruck erweckt, die Kommission verfolge bestimmte Pläne.[22] Jedoch betonte das Gesundheitsministerium sogleich, dass es für die Kommission keinerlei Denkverbote gebe, die sozialpolitischen Entscheidungen aber „immer noch von der Politik“ getroffen würden.[23] Raffelhüschens marktradikale Vorschläge wurden selbstverständlich sofort „von der Politik“ aufgegriffen und interessengruppenspezifisch positiv kommentiert: Die Arbeitgeberverbände und die FDP begrüßten Selbstbeteiligungen und Leistungsstreichungen, stehen sie doch seit Jahren in ihren jeweiligen gesundheitspolitischen Forderungsprogrammen.
Ähnlich wie im Verlauf der Arbeit der Hartz-Kommission drangen nunmehr in der ersten Hälfte des Jahres 2003 immer wieder neue Vorschläge von Experten zur Kostensenkung an die Öffentlichkeit – man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass genau jene permanente punktuelle Besetzung der Öffentlichkeit politikstrategisch durchaus erwünscht war. Wenn auch nicht systematisch, erfolgte sie doch auf eine Weise, die den Eindruck erhärtete, dass die Regierungskoalition keine eigenständige sozialpolitische Konzeption jenseits des „there is no alternative“ verfolgte. Mit jedem neu lancierten radikalen Kürzungsvorschlag von Experten konnte ausgelotet werden, wo die öffentliche Schmerzgrenze für die weitere Reduzierung der sozialen Leistungen des Staates verläuft. Ein Teil der Kommissionsmitglieder erhielt über die mediale Inszenierung von Talkshows und Streitgesprächen einen grandios erhöhten Einfluß auf die öffentliche Meinungsbildung, und jeder sozialpolitische Sparvorschlag wurde sofort von den bestens gerüsteten mächtigen Interessen- und Lobbygruppen samt wissenschaftlicher und pressearbeitender think tanks kommentiert und aufgegriffen. Im Vergleich zu jenen sank der öffentliche und lobbyistische Einfluß der Interessenvertretungen von Arbeitnehmern und vor allem der unorganisierten Arbeitslosen, Sozialhilfeempfänger und sonstiger gesellschaftlich benachteiligter und ausgegrenzter Gruppen in dramatischem Ausmaß. Die Bundesregierung hingegen war mit der Situation konfrontiert, vorgefertigte Lobby- und Expertenpositionen akzeptieren oder ablehnen zu müssen, die zunächst nicht im Parlament, sondern in Talkshows und Medien vorgelegt und diskutiert wurden.[24]
Zwei politische Ereignisse verstärkten unterdessen das Gewicht derjenigen Kräfte, die sich für nachhaltige Einschnitte in die Systeme der sozialen Sicherung aussprechen: Zum einen die Einleitung des Defizitverfahrens der EU-Kommission gegen die Bundesrepublik im Januar dieses Jahres, welches im Unterschied zu Frankreich nicht zu einer grundsätzlichen Kritik an den starren Stabilitätskriterien des EU-Stabilitäts- und Wachstumspakts führte, sondern im Gegenteil die Haushaltskonsolidierung als zentrale politische Maßgabe geradezu fetischhaft bestehen ließ.[25] Zum anderen die erdrutschartigen Verluste der Sozialdemokraten bei den Landtagswahlen in Hessen und Niedersachsen vom 2. Februar, aus denen ein Patt im Vermittlungsausschuß von Bundestag und Bundesrat zwischen Regierung und Opposition resultierte. Unmittelbar nach den Wahlen bot der Bundeskanzler so der CDU/CSU und der FDP eine engere Kooperation bei allen größeren Gesetzesvorhaben wie der Gesundheitsreform an. Eine große Koalition nach dem Vorbild des Lahnstein-Kompromisses zeichnete sich ab.[26] Damit war auch der ursprüngliche Fahrplan für die Gesundheitsreform und die Rürup-Kommission Makulatur: Ulla Schmidt legte ihre Eckpunkte für die Strukturreform im Gesundheitswesen bereits im Februar vor, und aus dem Kanzleramt wurde darauf gedrängt, dass die Rürup-Kommission ihre Ergebnisse schon im Mai statt im Herbst veröffentliche, so dass die Struktur- mit der Finanzierungsreform verbunden werden könne. Die Kostensenkung vermittels der Einsparungen im Gesundheitssystem erhielt für die Bundesregierung nunmehr einen exorbitant hohen Stellenwert. Fragen der Qualität in der medizinischen Versorgung traten auf Kosten der Priorität der Absenkung der Krankenversicherungsbeiträge fast vollständig in den Hintergrund. Mit der „Agenda 2010“ und den seit Februar aus der Rürup-Kommission durchsickernden Streichlisten wurde deutlich, dass alle Maßnahmen Grundprinzipien einer an Solidarität und Bedarfsgerechtigkeit orientierten Krankenversicherung betreffen würden: Mitte Februar schon erwog Rürup die Streichung des Krankengeldes und der Leistungen für Freizeitunfälle aus dem Kassenkatalog. Beides sollten nach diesem Konzept die Versicherten privat absichern. Auch das Eintrittsgeld für den Arztbesuch wurde aus der Rürup-Kommission heraus erwogen. Die Arbeitgeber werden nach diesen Plänen tendenziell aus ihrer finanziellen Verantwortung entlassen, die Ausgliederung zahnmedizinischer Behandlung aus dem Leistungskatalog überträgt einen kompletten Versorgungsbereich der privaten Zusatzversicherung. Dass die Arbeitgeberverbände diese Pläne aus der Rürup-Kommission als zukunftsweisend lobten, lag auf der Hand.[27]
Zwar konnte sich die Kommission letztlich nur auf das sogenannte Y-Modell einigen (das Modell besteht aus einem Stamm kurzfristiger Einsparungen und trennt sich dann beim mittel- bis langfristigen Umbau der Finanzierungsbasis in zwei optionale Wege): Kurzfristig sollen gesellschaftspolitisch relevante Leistungen steuerfinanziert werden. Das Prinzip des solidarischen Ausgleichs in der GKV wird durch die geplante Ausgliederung des Krankengeldes aus dem Leistungskatalog und der Herauslösung aus der paritätischen Finanzierung ausgehebelt. Dies bedeutet eine Umverteilung der Finanzierungslast zu Ungunsten der Versicherten; die Einsparungen von ca. 7,5 Mill. € kommen alleine den Unternehmern zugute. Auch die systematische Ausweitung der Zuzahlungen ist tendenziell unsolidarisch: Zuzahlungen sind eine Einschränkung der paritätischen Finanzierung, da sie den Anteil der Versicherten an den Kosten für die medizinische Versorgung erhöhen. Sie reduzieren den solidarischen Charakter der GKV, da sie eine einseitige Belastung der Patienten bedeuten und den Ausgleich zwischen Gesunden und Kranken einschränken.
Die zweite Stufe der Kommissionsvorschläge berührt die Grundprinzipien des gegenwärtigen Finanzierungssystems: Basierend auf der Kommissionsannahme, dass die lohnzentrierte Finanzierung der GKV an ihre Grenzen gerate, wird der Systemumbau für dieses Jahrzehnt vorgeschlagen. Allerdings in zwei alternativen Varianten, die derzeit wohl die Scheidelinien kommender gesellschaftspolitischer Richtungsentscheidungen bilden werden: Auf der einen Seite zielt die Erwerbstätigen- oder auch Bürgerversicherung auf eine umfassende Einbeziehung aller Einkommensarten in die GKV ab – derzeit beginnt die Kampagne gegen diese potenziell solidarische Variante der Finanzierung. Auf der anderen Seite wird das Kopfprämienmodell favorisiert, in welchem die Finanzierung völlig von den Löhnen entkoppelt und auf ein Äquivalenzprinzip umgestellt wird – der soziale Ausgleich soll über steuerfinanzierte Zuschüsse für Geringverdiener geleistet werden. Die Finanzierung wird in hohem Maße auf Kapitaldeckung umgestellt und der Wettbewerb zwischen den gesetzlichen und den privaten Versicherungen verschärft. Der Arbeitgeberanteil würde als Lohnbestandteil ausgezahlt und so zum Gegenstand von Tarifverhandlungen. Niedrigere Lohnnebenkosten würden durch die Verringerung des Arbeitgeberanteils erreicht. Da die Höhe des Einkommens bei der Beitragsbemessung keine Rolle mehr spielte, stiege der Anteil der Gesundheitsausgaben bei sinkendem Einkommen – eine völlige Umkehrung des bisherigen Prinzips der Solidarsysteme und eine Umwälzung der Finanzierung des Gesundheitswesens von den Lohnnebenkosten auf die öffentlichen und privaten Haushalte. Solch ein langfristiger Regimewechsel zu einem Kopfprämienmodell hätte folgenschwerste gesellschaftliche Konsequenzen – er folgt jedoch der sozialpolitischen Grundtendenz, die Individualisierung und Privatisierung sozialer Sicherung voranzutreiben. Nach den schweren Niederlagen der Gewerkschaften und der Schwäche der sozialpolitischen Gegengewichte zur sozialdemokratischen „Agenda 2010“ der Umverteilung von unten nach oben wird viel davon abhängen, ob es gelingt, mit auszuarbeitenden Konzepten der Stärkung der solidarischen Gesundheitspolitik und einer wirklich paritätisch finanzierten Erwerbstätigenversicherung Alternativen zur Logik der scheinbar alternativlosen Individualisierungs- und Privatisierungspolitik einer grossen Koalition der hemmungslosen Umverteiler zu schaffen
[1] Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung; Pressemitteilung 11/02, Der Auftrag der Kommission.
[2] Ebd.
[3] Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder am 14.3.2003 vor dem Deutschen Bundestag, zit. nach Frankfurter Rundschau (FR), 14.03.2003.
[4] Kranke müssen mehr bezahlen, Streitgespräch zwischen Bert Rürup und Karl W. Lauterbach, Focus 19.4.2003.
[5] Ebd. Vgl. zur grundsätzlichen Kritik dieser Argumentation: Bäcker, Gerhard; Weniger Sozialstaat = mehr Beschäftigung? Anmerkungen zur aktuellen Debatte, in: WSI-Mitteilungen 5/2003, S. 300-305.
[6] Der Auftrag der Kommission, a.a.O.
[7] Ebd.
[8] Ebd.
[9] SPD und Bündnisgrüne verkündeten unisono, der gesundheitspolitische Weg in eine „Zweiklassenmedizin“ sei mit ihnen nicht zu gehen. Diese Ankündigungen richteten sich gegen die Absichtserklärungen von CDU/CSU und FDP, den Leistungskatalog der GKV in Grund- und Wahlleistungen zu spalten. Vgl. Burkhardt, Wolfram/Michelsen, Kai; Wohin steuert die Gesundheitspolitik? Zur Bilanz der rot-grünen Gesundheitspolitik und der Zukunft der Gesetzlichen Krankenversicherung, in: Z 50, Juni 2002, S. 117-132 sowie Gerlinger, Thomas; Rot-grüne Gesundheitspolitik – eine Zwischenbilanz, Arbeitspapier des WZB, Berlin 2002.
[10] Vgl. Burkhardt, Wolfram; Gesundheitspolitik unter Rot-Grün II: Zwischen Solidarität und Markt, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 10-11/2002, S. 578-585.
[11] Der Auftrag der Kommission, a.a.O.
[12] Vgl. Schmucker, Rolf; Regimewechsel im Gesundheitswesen? Zur Einschränkung des Solidaritätsprinzips durch die Vorschläge der Rürup-Kommission, in: SPW 3/2003, S. 29-31.
[13] Vgl. Die Welt, 2.11.2002.
[14] Vgl. z.B.: BDA zur Gesundheitspolitik, Presse-Information 16.07.01 – Zukunftssicheres Gesundheitswesen durch weniger staatliche Bevormundung und mehr private Eigenverantwortung.
[15] Vgl. ebd.
[16] Ihre Stellungnahmen innerhalb der Kommission sowie die Expertisen ihrer Beratungsstäbe erscheinen im August bei VSA als Buch: Ursula Engelen-Kefer / Klaus Wiesehügel (Hrsg.)Sozialstaat – solidarisch, effizient, zukunftssicher, Alternativen zu den Vorschlägen der Rürup-Kommission, Hamburg 2003. Beide Gewerkschaftsvertreter erklären es für konsequent, ihr gemeinsames Minderheitenvotum zum Bericht der Kommission nicht in dieser vorzulegen.
[17] Aus der Vorankündigung der Herausgeber, vgl. ebd.
[18] Mehr wettbewerbliche Freiräume im Gesundheitswesen statt Fortsetzung von kurzatmigem Dirigismus. Gesundheitsökonomen nehmen Stellung zur bevorstehenden Gesundheitsreform, www.rsf.uni-greifswald/bwl/gesundheit/aktuelles.
[19] Ebd.
[20] Ebd.
[21] Vgl. Raffelhüschen, Bernd; Selbstbeteiligung und Eigenleistungen für Arztkosten, Interview mit Prof. Dr. Bernd Raffelhüschen, NDR, 2.1.2003. Raffelhüschen erläutert hier einen Grundgedanken liberaler Ökonomen: Der vom Bürger direkt zu erbringende Preis für eine sozialpolitische Ware verhindere deren gesellschaftlichen „Missbrauch“: „In dem Moment, wo jemand einen Preis spürt für ein bestimmtes Gut, nämlich auch für das Gut zum Beispiel, sich das zu erkaufen aus einem System, wird er es sich wohl überlegen, wenn er es selbst bezahlen muss, ob er das tatsächlich braucht oder nicht. Und das sind die, die wir realisieren können durch Selbstbeteiligung.“ Ebd. Auf die Gesundheitsversorgung übertragen heisst das konkret: Nur wer sich eine bestimmte medizinische Leistung kaufen kann, bekommt sie auch. Nur dass man sich als Patient eben nicht „wohl überlegen“ kann, ob man sich die Bedrohung oder Einschränkung seiner Gesundheit leisten möchte. Gesundheit kann nie vollständig warenförmig sein, und der Patient kann selbst in den abstraktesten neoliberalen Marktmodellen nicht zum „eigenverantwortlichen Arztkunden“ werden – ihm fehlen als Hilfebedürftigem der souveräne Marktzugang und das medizinische Expertenwissen. Vgl. hierzu: Deppe, Hans-Ulrich; Zur sozialen Anatomie des Gesundheitssystems (2. Aufl.), Frankfurt 2002, S. 260ff.
[22] Vgl. Financial Times, 3.1.2003.
[23] Ebd.
[24] Selbstverständlich spricht prinzipiell nichts gegen die Anhörung von sachkompetenten Experten und Kommissionen zu Gesetzesvorhaben und ihren Alternativen – eher im Gegenteil. Jedoch sollten diese Verfahren der parlamentarischen Kontrolle und demokratischer Transparenz unterliegen.
[25] Vgl. zur Kritik der bundesdeutschen Finanzpolitik und dem „Diktat des Sekundärbudgets“: Altvater, Elmar; Sparen bis zum Quietschen?, FR 11.6.2003 sowie Kühn, Hagen; Leere Kassen, Argumente gegen einen vermeintlichen Sachzwang, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 6/2003, S. 731-740.
[26] Vgl. Schmucker, Rolf; Klassenmedizin, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 4/2003, S. 407-410. Im sogenannten Lahnstein-Kompromiss hatten sich die Unionsparteien und die SPD 1992 u.a. auf die Einführung des Wettbewerbs zwischen den gesetzlichen Krankenkassen geeinigt.
[27] Vgl. Presse-Information der BDA, 9.4.03.