Frank Deppe hat in Z 54 (Juni 2003) die Vielfalt der Widerstandsbewegungen im aktuellen globalen Kapitalismus erwähnt, die Vorboten zukünftiger gesellschaftlicher Konflikte der verschiedensten Art sein könnten, und dabei auch auf den zapatistischen Aufstand im mexikanischen Chiapas hingewiesen, der seit dem Jahresbeginn 1994 andauert. (Deppe 2003, 91ff) Dieser Hinweis ist so berechtigt wie erforderlich, wenn man etwa bedenkt, daß in der letzten Neujahrsnacht, gelegentlich des neunten Jahrestags des Beginns dieser Erhebung, zehntausende Indigenas in der chiapanekischen Stadt San Cristóbal demonstrierten, ohne daß man hierzulande viel davon erfuhr. Allerdings: Wenn man „linke“ Debatten verfolgt, drängt sich zuweilen der Eindruck auf, daß die Stichworte „Zapatistas“ und „Chiapas“ als „filigrane“ Schmuckstücke wenig konturierter Theorien fungieren, wenn auch anzuerkennen ist, daß Chiapas zu jenen Orten gezählt wird, bei denen es darauf ankomme, „genau hin[zu]schauen, wo sich dort an verwundbaren Punkten, an ernst zu nehmenden Punkten, an Punkten, die Veränderungen möglich machen, etwas konstelliert, [...] um Chiapas etc.“ (Türcke in Haug/Haug u.a. 2002, 169). Schauen wir also diesen Ort genauer an.
Die Regionen Chiapa und Soconusco, östlich des Isthmus von Tehuantepec zwischen dem Pazifischen Ozean und dem Río Usumacinta gelegen, schlossen sich nach Erklärung ihrer Unabhängigkeit von Spanien (1821) nach einigem Hin und Her als Staat Chiapas dem neuen Bundesstaat México an. In Chiapas, nahe der Grenze zu Guatemala, liegen die Ruinen bedeutender Maya-Zentren, z.B. die von Toniná, Palenque und Yaxchilán. Hauptstadt war zunächst San Cristóbal de las Casas. Der Beiname erinnert an den Missionar und Anwalt der Eingeborenen Bartolomé de Las Casas, der hier 1545/46 als Bischof gewirkt hat. Hier befindet sich das Rathaus, das am 1. Januar 1994 durch die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (EZLN) besetzt wurde, deren Vertreter „Subcomandante Marcos“ am Tag danach die „Erste Erklärung aus dem Lacandonischen Urwald“ verlas, die mit den Worten beginnt: „Heute sagen wir: es reicht!“
Die Unabhängigkeit der hispanoamerikanischen Länder war vor allem von den herrschenden kreolischen Gruppen betrieben worden. Die Indigenas hatten meist wenig Neigung gezeigt, sich für die Sache von Großgrundbesitzern und Bergwerksunternehmern einzusetzen, wenn sie nicht sogar für ein Königtum eintraten, das sie zuweilen vor ihren unmittelbaren Herren geschützt hatte. Dieser – wie sehr auch unvollkommene – Schutz fiel in den neuen Republiken fort. Deren liberalistische Politik gegenüber den Indigenas, insbesondere die Umwandlung von indigenem Gemeineigentum in frei verkäufliches Privateigentum, überließ diese Mitbürger ihrem individuellen Schicksal. Die indigenen Gemeinschaften oder Gemeinden („comunidades“) und – soweit noch vorhanden – ihre Kulturen galten als Hemmschuh wirtschaftlichen Fortschritts. Das blieb auch noch so, nachdem der mexikanische Staat – im Gefolge der Revolution 1910-1917, vor allem in den späten dreißiger Jahren – vielen Indigenas (und anderen landlosen „campesinos“) Genossenschaftsland in staatlichem Eigentum zur individuellen Nutzung („ejido“) zugeteilt oder gelegentlich auch Gemeinschaftsland rückerstattet hatte – in der Absicht, diese Bürger in die moderne Gesellschaft zu integrieren. Gegen diese Politik des „indigenismo“ richten sich – nicht nur in Mexiko – seit mehr als drei Jahrzehnten starke Bewegungen von Indigenas mit dem Ziel, die Anerkennung ihres „estado étnico“, ihrer je eigenen Kultur sowie ihrer Verfügung über den jeweiligen Lebensraum zu erreichen. So auch – und besonders – in Chiapas. (Tobler in Bernecker u.a. III 1996, 308f, 313f; Vos 1997, 157-178, 191-196; König, in: König 1998, 18-27; Haudry de Soucy, in: ebd., 99-107)
Politisch wurde Chiapas durch staatliche und kirchliche Amtsträger verwaltet, die ihren Sitz in San Christóbal, in den „Altos“ im zentralen Hochland von Chiapas, hatten; erst 1892 wurde das im Grijalvatal gelegene Tuxtla die Hauptstadt. Die wirtschaftliche Macht lag lange Zeit vor allem bei den Großgrundbesitzern oder „hacenderos“. Deren Besitztümer waren auch in den Altos, vor allem aber in der Grijalvasenke, an der Pazifikküste in Soconusco oder in den Tälern von Ocosingo gelegen, wo bis zur Enteignung kirchlichen Grundbesitzes 1856 (über 30% der landwirtschaftlichen Nutzfläche in Chiapas) die Dominikaner viele Güter hatten. Diese Täler liegen am Rande der „Selva Lacandona“ – ein vielgestaltiges, ehemals völlig bewaldetes Bergland im westlichen Wassereinzugsgebiet des oberen Río Usumacinta, das von langgestreckten Tälern durchzogen ist und das sich östlich des Río Usumacinta in Guatemala fortsetzt. Die chiapanekische Selva Lacandona war im 19. Jh. eine biogeographisch sehr vielfältige Landschaft und nahezu menschenleer. Es gab nur wenige kleine Gruppen von Indigenas, darunter die unzutreffend als Lacandonen bezeichneten Gruppen, die während der Kolonialzeit aus dem Petén zugewandert waren. Sehr große Gruppen von Indigenas, die meist ebenfalls eine Mayasprache hatten, lebten und leben vor allem in den Landschaften des Nordens, des Zentrums und des Südens von Chiapas. Nach ihren Sprachen heißen sie „Choles“, „Tzeltales“, „Tzotziles“ und „Tojolabales“. Im Westen des Staates leben nicht-mayasprachige „Zoques“. Einige Siedlungen der Maya, so Zinacantán in den Altos, gingen auf vorspanische Zeiten zurück, andere, wie z.B. das heutige Ocosingo, waren durch Umsiedlungsmaßnahmen in der Kolonialzeit entstanden. (Vos 1996a, 54f, 212-231; Vos 1996b, 38ff; Köhler 2000; Köhler in Hostettler/Restall 2001, 192)
Zu Beginn der Unabhängigkeit verfügten die Comunidades der Indigenas noch über Selbstverwaltungsrechte. Diese wurden ihnen zwei Jahrzehnte später durch einen Umbau der Gebietsverwaltung genommen. Die Comunidades verfügten anfangs auch noch über Ländereien in Gemeinschaftseigentum. Aber die Bodengesetzgebung des mexikanischen Bundesstaates und vor allem die des Staats Chiapas wurde in den kommenden Jahrzehnten so gestaltet, daß mehr und mehr Gemeinschaftsland als brachliegend oder als Niemandsland erklärt werden konnte. Solche Ländereien wurden zunehmend von Hacenderos aufgekauft, was durch eine Siedlungsgesetzgebung gefördert wurde, die manche Indigenas dazu zwang, ihre Dörfer zu verlassen. Andere, die auf ihren Grundstücken wohnen bleiben und hier ihren Unterhalt erwirtschaften konnten, mußten dem neuen Eigentümer, dem Hacendero, drei, vier oder fünf Tage in der Woche unentgeltliche Arbeits- und Dienstleistungen erbringen (sogenannte Arbeitspacht). Zusammen mit anderen von der Hacienda abhängigen und auf deren Gebiet siedelnden Indigena-Gruppen erwirtschafteten sie die Agrarprodukte einer „finca“ bzw. eines „rancho“ (Landgut), die Bestandteile einer während des 19. Jahrhunderts zunehmend am Export orientierten Landwirtschaft wurden. Diese wurde teilweise von Ausländern betrieben, so die deutschen Kaffeeplantagen in Soconusco und in der Region Palenque. Neben dem Kaffee wurde Zuckerrohr ein wichtiges Produkt, auch die Rindviehhaltung gewann an Bedeutung. Viele Indigenas gerieten in diese sklavereiähnlichen Arbeitsverhältnisse der großen Haciendas. Doch gab es auch noch solche, die weiterhin in ihren Dörfern lebten und ihre Parzellen bearbeiteten. Sie waren zwar frei, konnten aber auf die Dauer auf ihren Böden ihren Lebensunterhalt kaum noch bestreiten. (Wasserstrom 1992, 130f, 143; Vos 1997, 160-172; Zebadúa 1999, 115-123) Der Sklaverei ähnlich waren auch die Arbeits- und Lebensverhältnisse der indigenen und anderen Holzarbeiter, die seit den 1870er und vor allem 1880er Jahren in den Holzfällerlagern („monterías“) in der Selva Lacandona schufteten. Diese Verhältnisse sind zuerst durch die kaum übertriebenen literarischen Schilderungen von B. Traven, die in den 1930er Jahren erschienen, bekannt geworden. Die Monterias wurden von Holzunternehmen aus dem Staat Tabasco unter Beteiligung ausländischen Kapitals betrieben, die Mahagonie- und Zedernbäume fällten und die Stämme exportierten. (Traven 1983a, b, c; Vos 1996b) Auch Kautschukplantagen wurden hier angelegt. Diese Ausbeutungen der landwirtschaftlichen Böden und der Wälder, eine chiapanekische Ausprägung des Neokolonialismus, reichten weit über das 19. Jahrhundert hinaus.
Das Schicksal der chiapanekischen Maya im 19. und früheren 20. Jh. war unterschiedlich, je nachdem, wo sie lebten und wie vor Ort die Arbeits- und die Bodenverfassung beschaffen waren. Im Hochland nördlich von San Christóbal gab es traditionelle indigene Gemeinschaften, die schon gegen Ende der Kolonialzeit unter der Kargheit ihrer Böden litten und Landaneignungen seitens der „ladinos“ (Nicht-Indigenas) hatten hinnehmen müssen (Zinacantán) oder wegen ihrer abseitigen Lage damals davon verschont geblieben waren (Chamula). In dieser Situation verdingten sich schon zu jener Zeit viele Zinacanteken im nahegelegenen Grijalvatal als Knechte („peones“) oder Tagelöhner („jornaleros“) auf neu gegründeten Fincas oder wurden dort Teilpächter („aparceros“) oder Pächter („arrendatarios“), wobei auch Auslegersiedlungen entstanden. Die Maya von Chamula versuchten dagegen ihren Lebensunterhalt dadurch aufzubesssern, daß sie neben ihrer traditionellen Landwirtschaft vermehrt Gartenbau oder Kleinhandel betrieben. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde die Produktion von Zuckerrohr, aber auch von Baumwolle im Grijalvatal gesteigert, dehnten sich die Kaffeeplantagen in Palenque und Soconusco aus und wurden Zinacantán und andere Hochlandorte verstärkt dem Druck oder der Drohung von Landenteignungen ausgesetzt. Die Mayafamilien in diesen Orten wurden zu einem Reservoir von Arbeitskräften für jene Regionen gemacht, wobei die Machthaber in San Christóbal sich am Arbeitsvermittlungsgeschäft bereicherten. Die Maya in Chamula und anderen Hochlandorten erlitten infolge der Bodengesetze Mitte des 19. Jh. große Landverluste und sollten zudem erhöhte Abgaben an die enteignete Kirche zahlen. Hier kam es Ende 1867 zu einer Auflehnung gegen die Kirche in Form der Einführung eigener religiöser Kultstätten und -handlungen, die zweieinhalb Jahre dauerte. Von der Obrigkeit provozierte Gewalttätigkeiten dienten dazu, die Auflehnung in einen Aufstand von Barbaren gegen die Zivilisation umzudeuten. Sie wurde durch den Staat blutig niedergeschlagen. Diese Auflehnung wird als Wiedergewinnung einer eigenen Kultur und eines Wir-Bewußtseins der Maya von Chamula gedeutet werden können.
Gegen Ende des 19. und im 20. Jahrhundert konnten einige Indigenas in Hochlandorten, so in Chamula und Zinacantán, die wirtschaftsliberalen Bereicherungsmöglichkeiten der neokolonialen Gesellschaftsordnung für sich nutzen, so daß ein markanter Gegensatz von Armut und Reichtum und von politischer Macht und Ohnmacht innerhalb der Gemeinden entstand und sich in politisch-religiösen Hierarchien ausprägte. Diese dienten u.a. auch als Schutz gegen staatliche Eingriffe in das kommunale Leben. Solche Hierarchien haben sich bis in die Gegenwart erhalten, und ihre Praktiken haben verschiedentlich extrem repressive Akte gegen Nonkonformisten, wie Gefangensetzungen und Vertreibungen, eingeschlossen. (Tejera 1991; Wasserstrom 1992, 108-128, 133-186, 244-249, 281, 287; Vos 1997, 171-182; Köhler, in: Hostettler/Restall 2001, 191-200) – Am Rande der Selva Lacandona waren schon während der Kolonialzeit Haciendas angelegt worden, und hier bildete sich im Lauf des 19. Jh. ein „Finca-Streifen“ aus, der von Palenque über Ocosingo bis Comitán reichte. Die Fincas, hier und anderswo, betrieben zunächst traditionelle Mischwirtschaft (Pflanzenanbau und Viehhaltung), entwickelten sich aber vielfach, insbesondere im frühen 20. Jh., zu spezialisierten Landgütern, so zu nahezu reinen Viehwirtschaften oder Kaffeepflanzungen. Viele Indigenas, die fast wie Sklaven als Knechte, Tagelöhner und Arbeitspächter auf diesen Gütern gelebt hatten, wurden nun überflüssig. Nachdem sich zuvor manche Indigenas diesen Arbeitsbedingungen durch Flucht entzogen hatten, wurden nun viele zwangsweise freigesetzt. Viele der ehemaligen Fincaarbeiter zogen in die Selva und suchten dort eine neue Lebensgrundlage. So wurde insbesondere der Finca-Streifen am Rande der Selva seit Ende der 1930er Jahre zu einer „zona de expulsión“ von Landarbeitern, die in die Wälder Lacandoniens eindrangen, zuweilen mit Hilfe der Holzarbeiter, die es dort noch gab. Die Einwanderung in die Selva Lacandona und deren Besiedlung verstärkten sich in den folgenden Jahrzehnten – nicht zuletzt auch infolge eines starken Bevölkerungswachstums. Viele Indigenas, aber auch landlose Ladinos, aus dem übrigen Chiapas sowie anderen Staaten Méxicos, wanderten ein. Die Comunidades, die so entstanden, waren daher der Herkunft, Sprache und Religion ihrer Mitglieder nach mehr oder minder heterogen und somit soziokulturell divers. Seit Anfang der 1980er Jahre kamen zu dieser einheimischen Bevölkerung Zuzüge von Flüchtlingen aus Guatemala, von denen ein Teil bis heute in der Selva verblieb. (Vos 2002, 25f, 138-180, 287-321; vgl. Leyva/Ascencio 1996, 40-94, 96-103, 127-147, 171f)
Im Gefolge der mexikanischen Revolution, die Chiapas zunächst wenig berührt hatte, kamen seit den 1930er Jahren auch in diesem Staat wichtige politische und wirtschaftliche Entwicklungen in Gang. So wurde in der Absicht, nationale Ressourcen einheimisch zu nutzen, 1949 der Export des Rundholzes von Edelhölzern verboten, was der Aktivität der holzexportierenden Unternehmen in der Selva ein Ende setzte und vielfach zur Enteignung ihrer dortigen Ländereien führte. Unter der Präsidentschaft von Lázaro Cárdenas (1934-1940) wurde eine integrationistische Politik der Zuteilung von Ejidoland an Indigenas betrieben, die auch in Chiapas zögerlich, aber in großem Umfang erfolgte. So wurde der Anteil der Haciendas und überhaupt des Großgrundbesitzes an der land- und forstwirtschaftlichen Fläche stark verringert, und viele Indigenas, so auch viele Einwanderer in die Selva, erhielten Ejidoparzellen, wenn auch oft in sehr langwierigen Verfahren. Als eine Maßnahme im Rahmen dieser Politik galt auch die populistische Entscheidung des mexikanischen Präsidenten Echeverría, den Familien der Lacandonen, die in drei kleinen Dörfern in der Selva lebten, mit umstrittenen gesetzlichen Mitteln 1972 das Eigentum an einem über 600.000 ha großen Gebiet im Südosten der Selva zuzusprechen. Diese Maßnahme wurde bald darauf durch die Einrichtung eines Biosphärenreservats ergänzt, das großenteils innerhalb dieses Gebiets der Lacandonen liegt. Das geschah ohne Rücksichtnahme auf die Indigena-Familien, die hier schon eingewandert waren, seit längerem siedelten und z.T. bereits über Ejidotitel verfügten. So führte diese Politik zu schweren Konflikten zwischen den wenigen Lacandonen mit riesigem Landbesitz und den vielen Indigena-Siedlungen mit sehr geringen Landressourcen – Konflikte, die teilweise geschlichtet wurden und teilweise bis heute andauern. Die seit Ende der 1930er Jahre eingewanderten Indigenas und armen Ladinos passten sich oft den gesamtwirtschaftlichen Entwicklungen an und pflanzten nicht nur Mais und Bohnen, sondern betrieben auch Viehwirtschaft und Kaffeepflanzungen. Indem sie für den Vertrieb des Kaffees und der Jungtiere auf große Handelsunternehmen und Mastbetriebe angewiesen waren, gerieten sie gegen Ende des 20. Jh. in neue ökonomische Abhängigkeiten. Der Schutz der noch verbliebenen, verhältnismäßig intakten Kernlandschaften der Selva Lacandona ist äußerst unsicher. Konkrete Gefahren zeichnen sich u.a. ab in den Explorationen der Erdölwirtschaft im Norden und Südosten der Selva Lacandona, in den Planungen riesiger hydroelektrischer Projekte am Río Usumacinta sowie in den Bauvorhaben zur infrastrukturellen Erschließung, welche für die Realisierung jener Projekte nötig wären – alles dies Vorhaben, die Komponenten des internationalen Plans Puebla- Panama (PPP) sind. (Leyva/Ascencio 1996, 40-94, 127-147, 148-173; Vos 1996b, 258-261; Vos 2002, 109-131, 148-173; PPP 2002)
Die verschiedenen Interessen der Neusiedler in der Selva in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die vielfach konfligieren, wurden und werden durch von ihnen selbst gegründete Bauernorganisationen, durch die der Befreiungstheologie verpflichtete chiapanekische Kirche und durch politische Bewegungen vertreten, unter denen die EZLN – Sprachrohr vieler, aber keineswegs aller Indigenas – hervorzuheben ist. Diese Bewegung, die sich mit ihrem Namen auf den Bauernführer der mexikanischen Revolution Emiliano Zapata beruft, geht auf eine Gruppe mexikanischer Intellektueller zurück, die Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre in der Selva ein politisches Wirkungsfeld suchte. Die Gruppe wurde durch das mexikanische Militär weitgehend aufgerieben. Im Gedenken an einen der getöteten Guerrilleros trägt der heutige Außenvertreter der EZLN, Subcomandante Marcos, dessen Namen, wobei der militärische Titel ironisch gemeint ist. In den 1970er Jahren entwickelte sich in einigen neu gegründeten Comunidades der Selva, die sich durch die Territorial- und Reservatspolitik des Staates bedroht sahen, mit Unterstützung von Indigenas aus dem Hochland die Idee einer bewaffneten Gegenwehr. Aus all dem ging 1983 eine Guerrillagruppe aus Indigenas und Ladinos hervor. Diese entwickelte sich in zumindest zeitweiligem Austausch mit Kirchenleuten und Bauernvertretern bis 1993 in den Altos, vor allem aber in der Selva als eine geheime militärische Widerstandsorganisation von Männern und Frauen. Seit der Besetzung einer Reihe von Hauptorten in Chiapas in der Nacht zum 1. Januar 1994 durch EZLN-Truppen, die zeitgleich mit dem Inkrafttreten des Freihandelsabkommens zwischen México, USA und Canada erfolgte, wird die Forderung öffentlich vorgetragen, die „pueblos indígenas“ (indigene Völker/Gemeinwesen) als rechtlich autonome Kollektive und Elemente einer plurikulturellen mexikanischen Gesellschaft anzuerkennen. Nach ersten Versuchen, die EZLN militärisch niederzuschlagen, ließ sich die mexikanische Regierung auf politische Verhandlungen ein, die 1996 in den Abkommen von San Andrés Larráinzar mündeten, die ein verfassungsänderndes Gesetzgebungsprogramm für eine „Ley Indígena“ enthielten. Im übrigen war die Zeit von 1994 bis zur zweiten Jahrtausendwende einerseits durch Mobilisierungen demokratischer Öffentlichkeiten, andererseits durch militärische Auseinandersetzungen niedriger bis mittlerer Intensität zwischen mexikanischem Staat, praramilitärischen Gruppen und EZLN gekennzeichnet. Die EZLN und ihr politischer „Frente“-Arm, FZLN, festigten in dieser Zeit, der militärischen Repression seitens der Regierung zum Trotz, ihre Präsenz in Gebieten der Selva und der Altos. (Topitas 1994; Díaz-Polanco, in: González/Roitman 1996, 169-175; Vázquez 2000; Vos 2002, 213-243, 245-285, 323-390; López 2002, 78-90)
Die Hauptinhalte der zapatistischen Forderungen bewegen sich im Rahmen der allgemeinen Forderung nach Anerkennung autonomer Pueblos indígenas, die sich auf Bestimmungen der Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation stützt. In ökonomischer Hinsicht werden für die Gesamtheit des Lebensraumes eines Pueblo („totalidad del hábitat“) indigene Gemeineigentumsrechte am Boden einschließlich der Bodenschätze gefordert. Des weiteren werden Erziehungs- und Bildungsmaßnahmen gefordert, welche die Interessen der Frauen in Sachen Sexualität, Reproduktion und Gesundheit respektieren und der Gewalt in der Familie entgegenwirken. In politischer Hinsicht sind die Hauptforderungen die Anerkennung der Comunidades indígenas als Körperschaften öffentlichen Rechts und ihres Selbstbestimmungsrechts sowie die Bildung autonomer Munizipien und Regionen. Diesen Forderungen stehen gesellschaftliche Gewaltverhältnisse entgegen, insbesondere die Dominanz transnationaler und nationaler Konzerne mit ihren Ressourceninteressen in der mexikanischen Wirtschaft, die herrschenden patriachal-familialen Gewaltverhältnisse in der Gesamtgesellschaft und bei Indigenas selber sowie die mexikanische Staatsgewalt mit ihren nationalstaatlichen Souveränitätsansprüchen. Diese Forderungen enthalten auch in rechtlicher Sicht nicht unbedeutende Probleme. Die Hauptschwierigkeit ist, daß der Begriff „pueblo indígena“ nicht territorial definiert, dieses selbst aber mit territorialen Rechten ausgestattet sein soll. Eine kulturelle Definition dieses Pueblo ist aber theoretisch wie praktisch schwierig, vor allem in Chiapas wegen der Heterogenität der Gemeinwesen und Gruppen. Sowohl diese rechtlichen Schwierigkeiten als auch – und vor allem – die gegebenen Gewaltverhältnisse und Ressourceninteressen haben verhindert, daß die Inhalte des Gesetzesprogramms von San Andrés ohne wesentliche Abstriche in die Ley Indígena aufgenommen wurden, deren endgültige Fassung 2002 höchstrichterlich bekräftigt wurde. (Tobler, in: Bernecker III 1996, 346ff; Sánchez in González/Roitman 1996, 93-123; Haudry de Soucy in König 1998, 99ff; Carlsen 1999, 45-48; López 2002)
Die zapatistische Forderung nach Selbstbestimmung der Bewohner der Selva Lacandona über ihre Lebensräume wird in einer Situation erhoben, in der die Selva-Bevölkerung auch ohne weitere Zuwanderungen wächst und die von ihr bewirtschafteten Böden bereits übernutzt sind und nicht mehr vermehrt werden können, wenn die gesamte ursprüngliche Lebewelt der Selva nicht schwer beschädigt oder zerstört werden soll. Die selbstbestimmten Indigena-Gemeinwesen müßten Lösungen für ein Problem finden, für das es kaum eine Lösung gibt. Die Menschen in der Selva scheinen am Beginn einer Sackgasse, einer „callejón sin salida“ zu stehen und sich in naher Zukunft nicht mehr reproduzieren zu können. Das zapatistische Programm muß daher, was auch ansatzweise geschieht, Vorstellungen über eine nachhaltige Bewirtschaftung der bereits genutzten Gebiete in der Selva (ebenso wie in den Altos) aufnehmen, Vorstellungen, welche nicht ohne gesamtgesellschaftliche Unterstützung verwirklicht werden können. Diese Notwendigkeiten haben vermutlich das Engagement der EZLN für eine Demokratisierung und Dezentralisierung der politischen Ordnung Mexikos verstärkt. (Leyva/Ascencio 1996, 178; vgl. Vos 2002, 175-180)
Die maya-sprachigen Idigenas, die, zusammen mit anderen Indigenas und armen Ladinos, heute in der Selva Lacandona von Chiapas siedeln, leben meist in Comunidades von großer soziokultureller Diversität. Diese versuchen, wenngleich sie oft durch starke innere Spannungen gekennzeichnet sind, sich trotz des Landmangels und der Bodenarmut am Leben zu erhalten sowie gegen die Angriffe der Staatsgewalt zu wehren. Es gibt auch Versuche, herkömmliche patriarchale Gewalt einzudämmen. In solchen gemeinsamen Anstrengungen der Mitglieder dieser Siedlungsgemeinschaften wirkt ein Wir-Bewußtsein und entsteht aus einer Diversität kultureller, darunter religiöser und sprachlicher, Elemente eine gemeinsame Kultur. In ihr wirken kulturelle Traditionen aus den alten Maya-Gesellschaften auf vielfache Weise gebrochen nach, ohne daß von irgendeiner historisch begründeten Identität dieser Comunidades gesprochen werden könnte. Eine Verwirklichung des zapatistischen Ziels „autonome Pueblos“ und die Durchsetzung der damit verbundenen politischen, wirtschaftlichen und sozialen Forderungern der EZLN aber ist nicht in Sicht.
Literatur
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