Neuer Imperialismus – Zentrum und Peripherie

Verdunkelung ökonomischer Verhältnisse

Einige Bemerkungen zur Diskussion über Hardt/Negris „Empire"

September 2003

Die Rezeption von Hardt/Negris „Empire“ in Z schwankt zwischen Begeisterung (vgl. J. Goldberg in Nr. 48), einer kritischen Rezeption von Teilaussagen (vgl. St. Dörhöfer in Z 53) und einer nachvollziehbaren Verärgerung über unzählige Mystifikationen (vgl. H. Conert in Z 50). Selbst auf die Gefahr enormer Missverständnisse wird hier eine weitere Rezeptionsvariante versucht, nämlich nach den methodologischen Gerüsten gefragt, mit deren Hilfe Hardt/Negri „postmoderne“ Entwicklungen interpretieren. Dabei stehen politökonomische Fragen im Vordergrund, weil gerade diese grandios entsorgt werden zugunsten einer Mixtur von poststrukturalistischen, ausgewählten klassischen marxistischen Positionen sowie subjektivistisch geprägten operaistischen Auffassungen. Sie treffen sich im Konzept von „einem Sprach- und Produktionsbereich“ (392), das Basis- und Überbauverhältnisse miteinander vermischt und faktisch derzeitige Produktiv- (und damit auch Destruktiv-)krafttendenzen feiert und apologetisiert. Zwar scheinen dabei aktuelle Reproduktionskrisen unübersehbar durch, sie werden jedoch kaum identifiziert und analysiert. Dadurch geraten grundlegende Veränderungen der Produktions- und Reproduktionsverhältnisse – wie sie sich besonders seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts vollziehen – aus den Augen, und demzufolge werden auch die Wechselbeziehungen zwischen patriarchal organisierter kapitalistischer Ökonomie und der Reproduktion des Lebens in seiner Ganzheit sowie zwischen kulturellen und politischen Zusammenhängen nicht mehr explizit untersucht. Zugänge zu Ambivalenzen, Widerstandspotentialen und alternativen nichtkapitalistischen nichtpatriarchalen Ansätzen bleiben dann folgerichtig überwiegend verdeckt.

Was steckt hinter der „Biomacht“?

Anhand der „Biomacht“, einem von Foucault entlehnten[1] und bei Hardt/ Negri zentralen Begriff (41) soll gezeigt werden, was sich aus ökonomischer Sicht dahinter verbirgt, aber ungesagt bleibt und dass dadurch viele aktuelle gesellschaftliche Beziehungen und ihre Trends weitgehend ausgespart werden. Zu grundsätzlichen Begriffsbildungen bei Hardt/Negri wird auf die Ausführungen von Dörhöfer in Z 53 verwiesen.

Hardt/Negri gehen davon aus, dass sich im Übergang von der „Disziplinar-" zur „Kontrollgesellschaft“ ein neues Machtparadigma realisiert, welches dadurch definiert ist, dass Techniken der Biomacht die gesamte Gesellschaft durchziehen. Diese Machtverschiebungen charakterisieren sie als „biopolitische Produktion“ (11), „Biomacht“ (d.h. Subsumtion der Gesellschaft unter das Kapital, 372), „Biopolitik“ (409). „Biomacht bezeichnet so die Situation, in der das, was für die Macht wirklich auf dem Spiel steht, die Produktion und Reproduktion des Lebens selbst ist.“ (39). Aus ökonomischer Sicht ist zu fragen, was „Biomacht“ als gesellschaftliches Verhältnis darstellt und wie sie sich zur Produktion und Reproduktion des Lebens als Ganzheit verhält. „In der biopolitischen Sphäre dient das Leben der Produktion und die Produktion dem Leben“ (47). Das beschreibt zunächst eine Interdependenz der beiden großen Bereiche der Reproduktion des Lebens, die aber derzeit im Grunde genommen keineswegs besteht, denn die unmittelbare Reproduktion des Lebens unterliegt der Dominanz der profitorientierten Produktion von Mitteln zum Leben. Eine solche tatsächliche Interdependenz würde erfordern, diese gegenwärtige Dominanz abzulösen durch die Umorientierung der Produktion auf die Erfordernisse einer gleichheitlichen und freiheitlichen unmittelbaren Reproduktion des Lebens für alle Menschen. Hardt/Negri beschreiben allerdings keine Interdependenz, sondern eine Weiterentwicklung der Dominanz zur Totalität, wie sich zeigen wird, wenn ihre Zielstellungen analysiert werden: „Indem wir die verschiedenen bisher beschriebenen Merkmale, die den biopolitischen Kontext definieren, zusammenfügen, wird es uns möglich sein, das neue Aussehen des kollektiven biopolitischen Körpers zu identifizieren, was indessen gleichermaßen widersprüchlich wie paradox bleiben wird. Dieser Körper bekommt Gestalt, nicht indem er die originäre Produktivkraft, die ihn beseelt, negiert, sondern indem er sie anerkennt; er findet eine Sprache (wissenschaftlich wie sozial), weil er eine Vielzahl von einzelnen und eindeutigen Körpern ist, die nach einem Verhältnis suchen. Er ist Produktion und Reproduktion, Basis und Überbau, weil er Leben im wahrsten, Politik im eigentlichen Sinne ist. Unsere Untersuchung muss in den Dschungel gehen, wo die Gesetze der Produktion und des Konflikts herrschen, die der kollektive biopolitische Körper uns bietet.“ (45) Dabei seien das Politische, das Gesellschaftliche, das Ökonomische und das Vitale „vollständig miteinander verbunden und vollkommen austauschbar.“ (Hardt/Negri, 412). Diese Sphären überschneiden sich zunehmend und schließen einander ein, weil „durch die Postmodernisierung der globalen Ökonomie ... der Reichtum mehr und mehr durch das geschaffen (wird), was wir biopolitische Produktion nennen, durch die Produktion des gesellschaftlichen Lebens selbst.“ (Hardt/Negri, 11) „Das gesellschaftliche Leben in seiner Gesamtheit wird zum Gegenstand der Herrschaft. Das Empire stellt so die paradigmatische Form von Biomacht dar“ (13).[2]

Hardt/Negri sind hierbei in der Weise interpretierbar, dass diese vier Elemente miteinander als Gegenstand der Vermarktung verbunden sind und austauschbar, insofern sie unter „postmodernen“ Bedingungen in der Tendenz alle ver­marktet und mit Werten/Pseudowerten versehen werden. Die „neuen Produktionszyklen der Subjektivität“ (Hardt/Negri, 286) wären dann in der Realität quasi-persönliche Abhängigkeitsverhältnisse (vgl. unter anderen Gorz, Voss). Aus der Sicht gesellschaftlicher Beziehungen gesehen, sind „Techniken der Biomacht“ nichts anderes als die tendenziell totalen Vermarktungsprozesse aller Lebenstätigkeiten und die neue „Ununterscheidbarkeit von Ökonomie und Kultur“ eine Verwandlung von Kultur in Ökonomie durch Vermarktung.

Genau wie in der Wirklichkeit die Tendenz zur totalen Vermarktung der Lebenstätigkeiten, in jüngster Zeit vor allem durch Einbeziehung der unmittelbaren Reproduktion des Lebens (unter anderem Privatisierung ehemals staatlicher, gemeinnütziger und patriarchal organisierter persönlicher Dienstleistungen – vgl. auch GATS), die akute Gefahr heraufbeschwört, dass sich die beiden Bereiche der Reproduktion des Lebens in einen Bereich der (profitorientierten) Produktion von Mitteln und Pseudomitteln zum Leben verschmelzen und damit deformieren, reduzieren Hardt/Negri entsprechend auch in der Theorie die ganzheitliche Reproduktion des Lebens auf die Produktion.[3] Das Expansionspotential des Kapitals resultiert praktisch weitgehend aus dieser Ausbreitung, die „fiktiven Waren“[4] einen großen Entwicklungsspielraum bietet, zugleich aber ihre Reproduktionsbedingungen – vielfach irreversibel – zerstört.

Marx und Engels haben mit der Betrachtung der gesellschaftlichen Lebenskräfte als Produktivkräfte und der gesellschaftlichen Verhältnisse als Produktionsverhältnisse die Dominanz der Kapitalverhältnisse und ihre tendenzielle Entwicklung von der Dominanz zur Totalität gültig erfasst, gewissermaßen heutige Trends vorausgesehen. Marx erkannte damit Entwicklungstendenzen kapitalistischer Gesellschaften und erhielt eine Gesamtsicht, indem er ihnen alle anderen Entwicklungen unterordnete. In der primären Position der materiellen Basis fand bei Marx die Dominanz der materiellen Produktivkräfte ihren adäquaten Ausdruck, die mit der Verallgemeinerung der Warenwirtschaft die Produktions- und Lebensweise beschleunigt revolutionierten. Die Produktion und ihre ständig erneute Fortsetzung über die Reproduktionsphasen Distribution, Zirkulation und Konsumtion erwies sich nicht nur als Stätte der Hervorbringung von Mehrwert durch die (Lohn)Arbeit, sondern als der dynamischste und folgenreichste Bereich der gesellschaftlichen Entwicklung überhaupt. Marx und Engels betrachteten die Produktion in der „Deutschen Ideologie“ noch als Bereich der Produktion von Mitteln zum Leben, den sie ins Verhältnis zur unmittelbaren Reproduktion des Lebens setzten (MEW, Bd. 3, 20, 28-30 sowie Engels in: MEW, Bd. 21, 27f). Aus Sicht kapitalistischer Produktionsverhältnisse bezog Marx – in einer der Varianten produktiver und nichtproduktiver Arbeit - faktisch alle Arbeit (auch die der Schulmeister), soweit sie Profit hervorbrachte, in die für das Kapital produktive Arbeit ein (Marx, Grundrisse, 212/213). Die faktische Produktionszentriertheit der Ent­wicklung im klassischen Industriekapitalismus bis hin zur Produktion um der Produktion willen fand ihren Niederschlag in einer überwiegenden Betrachtung des Lebens aus Produktionssicht („Produktion des Lebens“, MEW, Bd. 3, 29). Die Reproduktion der Gattung wurde von Marx de facto in die Produktivkraftentwicklung integriert und – über den Wert der Ware Arbeitskraft vermittelt – als Bestandteil der kapitalistischen Produktionsverhältnisse analysiert. Im Bevölkerungsgesetz der kapitalistischen Akkumulation überdeckt die Dominanz der Kapitalverwertung alle anderen gesellschaftlichen Aspekte, wie die patriarchalen Abhängigkeiten.

Indem Marx und Engels die in der Ware und – in Weiterentwicklung – im Kapital steckenden gesellschaftlichen Beziehungen als bestimmende analysierten, berücksichtigten sie andere Reproduktionserfordernisse, welche die Reproduktion in ihrer Ganzheit betreffen nur soweit, wie sie in kapitalistischer Form auftreten (können). Natürlich finden sich Hinweise auf gesonderte Reproduktionsprobleme, aber eben in ihren kapitalistischen Formen, wie bei der Ware Arbeitskraft das historische und moralische Element ihres Wertes, die Gratiskräfte der Natur und die Gratisdienste der „allgemeinen Arbeit“ für das Kapital (MEW, Bd. 23, 185/186, 636). Heute jedoch beginnen die Warenbeziehungen als Form gesellschaftlicher Beziehungen bereits obsolet zu werden, besonders mit den Umschlagspunkten seit etwa den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts zugunsten einer weitgehenden tatsächlichen oder potentiellen Sättigung mit notwendigen Mitteln zum Leben zumindest – aber nicht nur – in Industrieländern. Die Warenform – die adäquat die Produktion von Mitteln zum Leben erfasst – verliert an Dynamik hinsichtlich ihres Beitrags zur Reproduktion des Lebens. Wenn jetzt im Sinne der Marxschen Terminologie „nichtproduktive“ Dienste die Dynamik der kapitalistischen Ökonomie im starken Maße beeinflussen, dann hängt es aber nach wie vor von deren Auswirkungen auf die Reproduktion des Lebens in seiner Ganzheit ab, ob und inwieweit sie destruktiv oder reproduktiv wirken und wie sie infolgedessen zu interpretieren wären.

Das (noch?) patriarchal organisierte Kapital subsumiert sich zwar tendenziell alle beiden Bereiche der Reproduktion des Lebens. Es konnte aber mit Hilfe von Warenbeziehungen der Reproduktion des Lebens im Grunde genommen nur solange dienen – wenn auch immer mit Widersprüchen und Verlusten –, wie es seine Dynamik auf die Produktion von Mitteln zum Leben konzentrierte. Mit oben genannten Umschlagspunkten geht die „Subsumtion der Gesellschaft unter das Kapital“ grundsätzlich über die warenförmigen Grundlagen des klassischen Kapitalismus hinaus und bedarf infolgedessen anderer methodologischer Erklärungsgründe. Der Ansatz der „Biomacht“ kann das nicht leisten, weil die Fragestellungen der Reproduktion des Lebens dort verdeckt bleiben, obwohl sie vordergründig (mystifiziert) genannt, aber nicht analysiert werden.[5] Hardt/Negri wenden mit ihrem „Produktionsansatz“ (15), der pro­duktiven Dimension von Biomacht (41), methodologische Grundlagen an, die heute der Reproduktion des Lebens als Ganzheit bereits widersprechen. Ihnen geht es dabei um das „Verhältnis von gesellschaftlicher Produktion und Biomacht“ (43).[6] Dabei wird Produktion im weitesten Sinne verstanden, von der „ökonomischen bis zur Produktion von Subjektivität“ (15), d.h. als allum­fassender Umsetzungsprozess von Tätigkeit. Zwar wird verschiedentlich auf die Bedeutung von „Reproduktion“ im Sinne einer Reproduktion der Gattung hingewiesen. Jedoch bleiben die Bezugnahmen auf feministische Erkenntnisse zur „Frauenarbeit“ (?) methodologisch folgenlos. Hardt/Negri beziehen sich also nicht auf beide Bereiche der Reproduktion des Lebens und auf Veränderungen bzw. Umorientierungen in ihren Wechselbeziehungen, sondern setzen auf die Produktionssphäre, indem sie ebenfalls alle Reproduktion des Lebens in Produktion verwandeln (372). Die Reproduktion des Lebens reduziert sich damit auf die profitorientierte Produktion von Mitteln und Pseudomitteln zum Leben.[7] Sie untersuchen in einem gesonderten Abschnitt: „Die Produktion von Leben.“ (42ff) Der Zusammenhang zwischen „Biomacht“ und Produktion verschwimmt dabei in komplexen Wechselbeziehungen, welche nicht mehr in ihren Interdependenzen untersucht werden, z.B. was jeweils an Arbeits- und unmittelbarer Lebenskraft verkauft wird, was wie reproduziert wird oder nicht. Im existentiellen Interesse der Menschen geht es aber um die Reproduktion des Lebens als Ganzheit und die Harmonisierung der Beziehungen zwischen beiden Reproduktionsbereichen bei Umorientierung der Produktion aus der Sicht der Reproduktionserfordernisse des unmittelbaren Lebens.

Alle Lebenstätigkeiten verwandeln sich in Arbeit?

Arbeit spielt bei Hardt/Negri eine zentrale Rolle, um Produktion mit „Biomacht“ zu verbinden. Wenn nun aber „Biomacht“ ihre derzeitige gesellschaftliche Form in der tendenziell totalen Vermarktung der Lebenstätigkeiten findet – welche Hardt/Negri aber in diesem Buch nicht direkt thematisieren –, dann wäre Arbeit hier grundsätzlich als Erwerbsarbeit zu betrachten, auf Grundlage einer Umwandlung aller Lebenstätigkeiten in Erwerbsarbeit. Indem sie alles zur „Arbeit“ erheben, die alles produziert, wird alles zur Ökonomie, aber auch zu Kultur, Politik usw., die ja auch als „gesellschaftliche Arbeiten“ bezeichnet werden. Alles wird „Arbeit“ und alle, die „Arbeit“ leisten, bilden das „neue Proletariat“ (66/67). Diese Tendenz geht mit der Totalisierung der Vermarktung auf sehr differenzierten Ebenen durchaus vor sich, jedoch mit zunehmenden Ausschlusswirkungen bereits beträchtlicher Bevölkerungsgruppen (vgl. die Kritik von Dörhöfer in Z 53, 121/122). Wie sollen unter diesen Bedingungen aus neuen Entwicklungstrends der Arbeit emanzipatorische Antriebe entstehen? Müsste es nicht gerade um Aufhebung der Arbeit – Aufhebung im doppelten Sinne – als patriarchal und klassenmäßig geprägtes gesellschaftliches Disziplinarverhältnis gehen? Das klingt bei Hardt/Negri an, wenn sie die neuen Momente der Arbeit zur „Tätigkeit“ erklären. „Die lebendige Arbeit bildet die Brücke zwischen dem Virtuellen und dem Realen; sie ist das Vehikel der Möglichkeit, welche die Käfige ökonomischer, gesellschaftlicher und politischer Disziplin geöffnet und jede regulative Dimension des modernen Kapitalismus sowie seiner Staatsform überwunden hat, erscheint nun als allgemeine gesellschaftliche Tätigkeit.“ „Arbeit ist ... produktiver Exzess.“ (365) „Arbeit erscheint schlicht und einfach als die Macht zu handeln“ (366). Hier scheint die Aufhebung der kapitalistisch organisierten Arbeit durch. Aber mit einer bloßen Umdefinition findet diese nicht statt. Zudem müsste patriarchal organisierte Arbeit ebenfalls Berücksichtigung finden, sowie die Unterscheidung nach einem anders bewerteten „Reich der Notwendigkeit“ und dem der „Freiheit“, denn wo blieben sonst alternative Antriebskräfte?

Dass Arbeit beim „Übergang zur Postmoderne ... außerhalb des Maßes funktioniert“ (365), ist sowohl anhand ihrer ambivalenten Entwicklungsprozesse als auch ihrer Auflösungstendenzen nachvollziehbar. Die Funktion jedoch, welche Hardt/Negri der Arbeit „jenseits des Maßes“ zuweisen, bei ihrer Umdefinition, erscheint als überwiegend produktivkraftzentriert und tangiert jeweilige gesellschaftliche Verhältnisse tatsächlich nur am Rande, wie bei der „immateriellen Arbeit“. So setzen nichtkapitalistische Alternativen allgemeine freie zivilgesellschaftliche Tätigkeiten voraus, die jedoch ebenfalls zur „Arbeit“ erklärt werden. „Zivilgesellschaft“ setzen Hardt/Negri mit „bürgerlicher Gesellschaft“ gleich (337). Sie verschwinde beim Übergang von der „Disziplinar-" zur „Kontrollgesellschaft“ (337). Wenn sich neoliberale Entwicklungen fortsetzen, besteht diese Gefahr zweifellos. Aber gerade die Ambivalenzen zwischen Reproduktionserfordernissen und warenförmigen Reproduktionsmöglichkeiten motivieren zum Kampf um allgemeine zivilgesellschaftliche Freiheiten im Gramscischen Sinne. Hardt/Negri aber beschreiben lediglich mystifizierend totalisierte Vermarktungsprozesse, sie geben weder eine Orientierung auf entsprechende emanzipatorischen Handlungen noch motivieren sie dazu. Kein Protest gegen diese neoliberalen Entwicklungen, kein Aufzeigen der damit verbundenen Gefahren für die Reproduktion des Lebens, sondern faktisch werden diese als notwendige Durchgangspunkte für eine „zukünftige gesellschaftliche Produktionsweise“ angenommen, die über die Geschichte des Kapitals hinausweist (270). Warum aber sollen bereits herangereifte Umschlagspunkte nicht für Alternativen genutzt und sollen stattdessen quasi-persönliche Abhängigkeitsverhältnisse in Kauf genommen werden, welche Emanzipation zumindest sehr erschweren würden? Dazu kommt, dass schrittweise nichtpatriarchale, nichtkapitalistische Lösungen bereits zu den Voraussetzungen gehören, um die anstehenden Reproduktionskrisen in Bereichen wie der Gesundheits- und Altersrentenversorgung, der Allgemeinbildung usw., einer Lösung zuzuführen, die zwangsläufig allmählich über bestehende gesellschaftliche Systeme hinausführen würde.

Biopolitische Dimensionen als neues Moment der produktiven lebendigen Arbeit sehen Hardt/Negri vor allem in der „Produktivität der Menge als unmittelbarer Akteurin biopolitischer Produktion und Reproduktion“, gestützt auf die „Fähigkeit der Menge, mit ihrer eigenen produktiven Kraft die parasitäre Ordnung des postmodernen Kommandos zu sabotieren und zu zerstören“ (78). Sie betonen dabei besonders die „immaterielle Arbeit“: „In der Postmoderne ist der akkumulierte gesellschaftliche Reichtum zunehmend immateriell; er umfasst etwa soziale Verhältnisse, Kommunikationszusammenhänge, Netzwerke der Information und Affekte. Entsprechend wird auch die gesellschaftliche Arbeit immateriell; sie produziert und reproduziert gleichzeitig und direkt alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens.“ (270) Ihre neuen theoretischen Grundlegungen der Produktion fokussieren Hardt/Negri auf die „Soziologie der immateriellen Arbeit“, den Übergang zu „einer informationellen Ökonomie“ (300). „’General Intellect’ ist eine kollektive, soziale Intelligenz, die durch die Akkumulation von Wissen, Techniken und Know-How entsteht. Der Wert von Arbeit wird somit von einer neuen universellen und konkreten Arbeitskraft mittels Aneignung und freiem Gebrauch der neuen Produktivkräfte verwirklicht. Was Marx für die Zukunft voraussagte, erleben wir heute.“ (372) Hardt/Negri folgen hierbei den Vorstellungen von Entwicklungsstadien. Der Prozess der Modernisierung sei beendet und die globale Ökonomie unterliege einem „Prozess der Postmodernisierung hin zu einer informationellen Ökonomie“ (296).

Diese Entwicklungen sehen Hardt/Negri unmittelbar als Element revolutionärer gesellschaftlicher Umbrüche, d.h. als Virtualität, die „jenseits des Maßes“ Wirklichkeit werden könne (367). Abgesehen davon, dass weder gesagt wird, wie alle Gesellschaftsmitglieder sich diese Ressourcen aneignen, noch warum und wie die „universelle Arbeitskraft“ aus welchen Konflikten heraus um Emanzipation kämpfen würde, erscheinen die Konzeption der „immateriellen Arbeit“ und die Art ihrer Verbindung mit dem „General Intellect“ aus Sicht der Reproduktion des Lebens als nicht haltbar (vgl. auch die kritischen Bemerkungen von Dörhöfer, in: Z 53, 115). Arbeit wird hier von einem partiellen Standpunkt der Materialität oder Immaterialität ihrer Ergebnisse aus definiert, nicht vom Gesamtergebnis her und nicht aus den gesellschaftlichen Formen der Arbeitsprozesse und ihrer Zusammensetzung. So lassen sich die „drei Typen immaterieller Arbeit“ (304/305) fast nur aus instrumenteller Sicht definieren und bleiben inkonsistent. Der erste Typ, der für die „immaterielle Arbeit“ steht, welche die industrielle Produktion betrifft (305), fokussiert diese faktisch auf die zunehmende Bedeutung der „allgemeinen Arbeit“ (dieser Begriff wird von Hardt/Negri unverständlicherweise nicht gebraucht) im Marxschen Sinne für die Produktion von Extraprofiten und ihre Symbiose mit der herkömmlichen Produktionsarbeit. Damit wird sie von Hardt/Negri faktisch auf die Kräfte fokussiert, welche Extraprofite hervorbringen. Aber diese Kräfte sind bekanntlich vermarktet, denn ihrem eigentlichen Inhalt nach freiheitliche Tätigkeiten wie Wissenschaft, Kunst usw. werden immer mehr als Erwerbsarbeit organisiert, sind somit nicht frei und damit gehemmt und deformiert. Hardt/Negri betrachten diese anhaltenden Veränderungen der Produktionsarbeit jedoch nur aus dem Blick eines nicht identifizierbaren Gemischs von Produktion, aber nicht hinsichtlich ihrer Folgen für die Reproduktion des Lebens als Ganzheit. Dieser Typ von „immaterieller Arbeit“ unterscheidet sich von den anderen allein schon dadurch, dass er arbeitsteilige Arbeit für die Produktion von Mitteln zum Leben darstellt, während jene in der unmittelbaren Reproduktion des Lebens ablaufen. Er ist von daher auch eindeutig Element der materiell-produktiven Arbeit.

Demgegenüber stellen „affektive Arbeit“ (304/305) – insbesondere fürsorgliche Tätigkeiten – ebenso wie Arbeiten des „General Intellect“ Tätigkeiten dar, die dem entsprechen, was Marx vom Standpunkt der Mehrwertproduktion als „nichtproduktive Arbeit“ bezeichnete (MEW, Bd. 26.1, 127ff). Beide erfolgen sie in Bereichen der unmittelbaren Reproduktion des Lebens, setzen ein kooperatives Miteinander des Selbst und Anderer voraus. Jedoch unterscheiden sich ihre Funktionen für die Reproduktion des Lebens als Ganzheit dennoch. Reproduktionsarbeit (einschließlich von Quasi-Reproduktionsarbeit, wie im Gesundheits- und Bildungswesen)[8] gehört zur notwendigen Reproduktion des Lebens. Diese setzt sich aus notwendiger Reproduktionsarbeit und der Arbeit für die Produktion von notwendigen Mitteln zum Leben zusammen – eine Konsequenz ganzheitlicher Sicht auf die Reproduktion des Lebens. „General Intellect“ hingegen bezieht sich dem Inhalt, Ziel, Potenzial nach auf allgemein freiheitliche zivilgesellschaftliche Betätigungen, sofern emanzipatorisch her­angegangen wird. „Allgemein“ spricht aus, dass alle – auf Basis gleichheitlicher Beiträge zur notwendigen Reproduktion des Lebens in seiner Ganzheit – sich diese Potenzen aneignen und alle freiheitlich emanzipatorisch handeln können/wollen/sollen. Es handelte sich hierbei um Freiheiten, die über die staatsbürgerlichen hinausgehen im Sinne eines gleichen Rechts aller auf Leben. Hardt/Negri behandeln „General Intellect“ jedoch weitgehend ohne Berücksichtigung seiner jeweiligen gesellschaftlichen Formen als vorwiegend produktivkraft-geprägte Erscheinung (391).

Im Begriff der „immateriellen Arbeit“ verschwinden jedoch diese Unterschiede in gemeinsamen Bewertungen, die mit der tendenziell totalen Vermarktung der unmittelbaren Reproduktion des Lebens einhergehen. Damit werden die Ambivalenzen zwischen Reproduktionserfordernissen und tendenziell vermarkteten Reproduktionsmöglichkeiten und aus ihnen entspringende Widerstandspotenziale verdeckt. Hardt/Negri unterschätzen die nach wie vor – nur in konkret anderen Formen – deformierenden Wirkungen der Vermarktung unmittelbarer Lebenstätigkeiten, wenn sie durch das vermarktete kommunikative Handeln eine Bereicherung der Produktion „um die Komplexität der menschlichen Interaktion“ (304) behaupten. Da immaterielle Arbeit unmittelbar soziale Interaktion und Kooperation beinhalte, also „die Kooperation ... der Arbeitstätigkeit vollkommen immanent“ ist (305), biete sie die Möglichkeit der „Selbstverwertung der Arbeit“ (305), stelle damit den Marxschen Begriff des variablen Kapitals in Frage und „das Potenzial für eine Art des spontanen und elementaren Kommunismus bereit“ (305). Weiter: „Die Universalität menschlicher Kreativität, die Synthese von Freiheit, Begehren und lebendiger Arbeit – das ist es, was am Nicht-Ort der postmodernen Produktionsverhältnisse stattfindet“ (222). Das ist vollkommen unverständlich. Zwischenmenschliche Beziehungen werden doch gerade in der Gegenwart tendenziell zu Waren. Die Kreativität ist bei Vermarktung unmittelbarer Lebenstätigkeiten nicht universell, sondern begrenzt und deformiert; potenzielle Freiheit wird zur Notwendigkeit, wenn sie sich als lebendige kapitalistisch produktive Arbeit realisiert. Es geht auch nicht um „menschliche Kreativität“ an sich oder irgendwie, sondern um allgemeine freiheitliche Kreativität, die wiederum Gleichheit in den Beiträgen aller zur ganzheitlich gefassten Notwendigkeit voraussetzen würde. Tatsächlich dringen Quasi-Wertkategorien in die unmittelbare Reproduktion des Lebens ein und modeln dieses nach den Erfordernissen der Profiterzielung, d.h. es tut sich ein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen Reproduktionserfordernissen des unmittelbaren Lebens und Vermarktung auf (vgl. vielfältige praktische Reproduktionskrisen, Substanzverluste, Abnahme von Gratisdiensten usw.). Soll die unmittelbare Reproduktion des Lebens die Produktion orientieren, dann müsste vom Wertverhältnis weggegangen werden zu anderen Bewertungen. Unmittelbare Reproduktion des Lebens ist mit Wertkategorien nicht reproduzierbar (Braun, 1998: 71). Hardt/Negri reduzieren jedoch die Problematik, lenken somit von den Gefahren ab und tun so, als ob sich eine Umorientierung der Produktion und eine Emanzipation von selbst durch die Produktivkraftentwicklung ergibt. Zugespitzt kommt das in folgender Umkehrung tatsächlicher Verhältnisse zum Ausdruck: „Das Verhältnis zwischen Produktion und Leben hat sich somit dahingehend verändert, dass es sich im Verständnis der politischen Ökonomie vollständig umgekehrt hat, Leben wird nicht mehr in Reproduktionszyklen produziert, die dem Arbeitstag untergeordnet sind; nun ist es im Gegenteil das Leben, das jegliche Produktion bestimmt.“ (373) Abgesehen von der verschwommenen Begriffsbestimmung – es müsste „unmittelbare Reproduktion des Lebens“ und „Produktion von Mitteln zum Leben“ heißen (MEW, vgl. weiter oben) –, wird hier die Vermarktung apologetisiert. Anstelle der Reproduktion des Lebens in seiner Ganzheit, die ja bei ihnen ausgedient hat, installieren Hardt/Negri „einen Sprach- und Produktionsbereich“, in dem sich die Linie der Produktion und diejenigen der Repräsentation überschneiden und vermischen. (392) „Der Überbau wird nun zur Arbeit, und das Universum, in dem wir leben, ist ein Universum sprachlicher Produktionsnetzwerke.“ (391) Hier verschwinden die gesellschaftlichen Verhältnisse vollständig zugunsten verschiedener poststrukturalistischer Diskurse.

Warum die Tendenzen zur totalen Vermarktung aufgedeckt gehören

Bei einer primären Orientierung an Vermarktungserfordernissen zur Profiterzielung entwickeln sich also kaum emanzipative kreative Lebenskräfte – wie Hardt/Negri dies annehmen – und überhaupt nicht für alle, sondern es deformieren sich geistig-kulturelle sowie soziale und ökologische Leistungen und es akkumulieren sich ungedeckte Reproduktionserfordernisse in Größenordnungen wie der der Bildung und Ausbildung von Kindern und Jugendlichen nichtprivilegierter Bevölkerungsgruppen, der Infrastruktur sozialer Dienstleistungen, des öffentlichen Nahverkehrs und der Umweltreproduktion. Es kommt zu Reproduktionskrisen, in denen sich tendenziell zunehmende unabgedeckte Reproduktionserfordernisse, abnehmende Gratisdienste der Natur sowie der unbezahlten Arbeit, besonders von Frauen, verschmelzen, was sich bereits in Substanzverlusten niederschlägt (van Dieren). Diese sich diskontinuierlich noch zuspitzenden Widersprüche deuten einen Wechsel in der gesellschaftlichen Rolle von Warenbeziehungen an. Die kapitalistische Warenwirtschaft, die – bei wiederkehrenden Krisen und strukturellen Ungleichheiten – dennoch zunächst progressiv wirkte, besonders bei der vermehrten Befriedigung des Bedarfs an notwendigen Mitteln zum Leben, versagt angesichts der Repro­duktionserfordernisse des unmittelbaren Lebens, noch während ihre Globalisierung als vermeintlicher Sieg gefeiert wird.

Ihrem Prinzip nach freiheitliche Tätigkeiten, wie Wissenschaft und Kunst werden nun immer stärker arbeitsteilig in die Warenproduktion und –wirtschaft integriert, dadurch faktisch weitgehend den Bedingungen des „Reiches der Notwendigkeit“ untergeordnet. Damit entwickelt sich eine Tendenz zur Reproduktion der Ware Arbeitskraft über unmittelbare Warenverhältnisse. Gefühle, Pflege usw., wie auch Kreativität, wissenschaftliche Erkenntnisse, künstlerische Ergebnisse werden verkauft und wiederum gekauft. Bisher patriarchal, gemeinnützig oder staatlich organisierte Nichtwarenbeziehungen in diesen Bereichen wurden und werden zunehmend direkt warenwirtschaftlich entwickelt. Auf diese Weise dringen Elemente der ökonomischen Freiheit der Warenbesitzer in Reproduktionsbereiche ein, die eigentlich davon unabhängig bleiben müssten. In der Tendenz werden sowohl staatsbürgerliche Freiheiten als auch freie geistig-kulturelle Betätigungen durch die Freiheiten von Warenbesitzern eingeschränkt und tendenziell ausgehöhlt.

In der kapitalistischen Ökonomie entwickelt sich der Widerspruch, dass der Zuwachs an Neuwert je Zeiteinheit – als nunmehr tendenzielle Hauptquelle des Extraprofits – eine unablässige Kreativität der Arbeitskräfte erfordern würde, dass diese aber wiederum unter den Bedingungen des Verkaufs der Ware Arbeitskraft und speziell der Herausbildung von quasi-persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen – eben diese Kreativität nur noch deformiert und in polarisierter Form zu Lasten der eigenen Lebenskräfte hervorbringen können. Wenn menschenwürdige Existenzbedingungen erhalten bleiben bzw. geschaffen werden sollen, wäre deshalb die Aufgabe zu lösen, alle an unabhängiger Kreativität teilhaben zu lassen. Das wäre eine der aktuellen Überlebensbedingungen und keineswegs eine veraltete Utopie.

Mit der tendenziell totalen Vermarktung der Lebenstätigkeiten spitzen sich die Widersprüche zwischen tendenziell zunehmenden Vermarktung und abnehmender Befriedigung von Reproduktionserfordernissen, in ihrer Ganzheit gesehen, zu. Diese Widersprüche können zum Widerstand gegen Vermarktung unmittelbaren Lebens, zum Ausbrechen daraus und zu emanzipatorischen Alternativen motivieren, aber genauso zum Sich abfinden mit quasi-persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen führen. Auf jeden Fall bilden die bei freien Märkten tendenziell zunehmenden Reproduktionsdefizite fiktiver Waren einen potentiellen Ausgangspunkt für vielfältige und breite Widerstandsaktivitäten, be­treffen sie doch unverzichtbare Überlebenserfordernisse des „gesellschaftlichen Menschen“, wie etwa die Reproduktion der Gattung (verminderte einfache Reproduktion der Bevölkerung in „postindustriellen“ Ländern), die Reduzierung geistig-kultureller Freiheiten und die nach wie vor sich weiter zuspitzenden ökologischen Probleme.

Unter ihrer kapitalistischen Organisation haben sich die Produktivkräfte verselbständigt und sich den Erfordernissen der Reproduktion des Lebens in seiner Ganzheit bereits weit entfremdet und zu einem Großteil in Destruktivkräfte verwandelt. Es geht deshalb darum, die Produktivkräfte wieder in den Gesamtzusammenhang der Reproduktion des Lebens zu integrieren und zwar in die Lebenskräfte, die als Einheit von Produktivkräften und unmittelbaren Lebenskräften auftreten. Diese Integration bedeutet eine Umorientierung der patriarchal kapitalistischen Produktion. Die Produktivkräfte wären dann ein Mittel zwecks Entwicklung der unmittelbaren Lebenskräfte und zwar sowohl im notwendigen als auch im freiheitlichen Bereich. Die Ökonomie selbst im faktischen Sinne ihrer Beschränktheit auf die Produktion von Mitteln und Pseudomitteln zum Leben beginnt ihre Daseinsberechtigung insofern zu verlieren, als sie für die Ganzheit der notwendigen Reproduktion des Lebens zu entwickeln wäre, als neue Wissenschaft über deren Rationalisierung. Eine solche Umorientierung verlangt die Weiterentwicklung der vielfältigen Protest- und alternativen Ideen zu konkreten Utopien.

Die faktische Dominanz des Ökonomischen – in der Form der patriarchal kapitalistischen Vermarktung – über die Kultur müßte deshalb durchbrochen werden. Das ist möglich, wenn alternative Kultur alternative Ökonomie schafft, also allmählich über den Rahmen des Bestehenden hinausgeht. Dass an das Bestehende angeknüpft wird, versteht sich von selbst, insbesondere an die entsprechenden Entwicklungen, die bereits darüber hinausweisen (wie bei notwendigen Regelungen für die Gesundheitsversorgung).

Da die Schaffung von Alternativen inzwischen unmittelbar auf die Tagesordnung gehört, wären kulturelle Interventionen jetzt daran zu messen, inwieweit sie Widerstandspotentiale auf Grundlage der veränderten Bedingungen mobilisieren, sie zusammenführen und zu Alternativen ermutigen. Das bedeutet, sich Freiheiten in zivilgesellschaftlichen Betätigungen zu verschaffen. Heute stehen kulturelle Interventionen vor der Herausforderung, auf der ökonomischen Analyse aktueller Konflikte aufzubauen und über kulturelle Auseinandersetzungen mit einem alternativen Blick Freiheitsspielräume herauszuholen, damit die festgefahrenen Verhältnisse zum Tanzen gebracht werden. Dabei charakterisieren vor allem folgende Trends einige Handlungsfelder, bei denen an­dere Sichten auf die Wechselbeziehungen von Kultur und Ökonomie Emanzipationspotentiale aufdecken könnten: erstens der existentiell gewordene Konflikt zwischen der realen Tendenz der Warenbeziehungen zur Totalisierung und den Erfordernissen einer ganzheitlichen Reproduktion des Lebens, dessen geistig-kulturelle Protest- und Widerstandsformen sich vor allem aus Reproduktionskrisen fiktiver Warenbeziehungen speisen; zweitens die damit einhergehende strukturelle Aushöhlung staatsbürgerlicher Gleichheiten und Freiheiten, die mit der beginnenden Herausbildung von neuartigen quasi-persönli­chen Abhängigkeitsverhältnissen eine zivilisatorische Grundvoraussetzung ka­pitalistischer Warenwirtschaft überhaupt in Frage stellen: die Freiheit zum Vertragsabschluss und damit die doppelte Freiheit des (männlichen) Lohnarbeiters; drittens die drohende Aushöhlung der geistig-kulturellen und politischen Freiheiten der Zivilgesellschaft selbst durch ihre zunehmende Vermarktung, d.h. ihre faktische Verwandlung in Ökonomie.

Literatur:

Braun, A., 1998: Arbeit ohne Emanzipation und Emanzipation ohne Arbeit? Berlin

van Dieren, W., 1995: Mit der Natur rechnen. Der neue Club-of-Rome-Bericht: Vom Bruttosozialprodukt zum Ökosozialprodukt, Basel/Boston/Berlin

Gorz, A., 2000: Arbeit zwischen Misere und Utopie, Frankfurt a. M.

Hardt, M./Negri, A., 2002: Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt/New York

Marx, K., 1953: Grundrisse zur Kritik der Politischen Ökonomie, Berlin, 1953

Marx, K./Engels, F., Werke (MEW): Bd. 3, Berlin 1958; Bd. 20, Berlin 1962; Bd. 21, Berlin 1962; Bd. 23, Berlin 1962; Bd. 26.1, Berlin 1965

Voß, Günter, 1998: Die Entgrenzung von Arbeit und Arbeitskraft. Eine subjektorientierte Interpretation des Wandels der Arbeit, in: MittAB 3, S. 473-487.

[1] Während Foucault die „Biopolitik“ als Machttechnik des Nationalstaates betrachtet, die „Biomacht“ demzufolge in der „Disziplinargesellschaft“ ausgeübt wird – nach einer Unterscheidung von Deleuze –, verwenden Hardt/Negri sie zur Charakterisierung der „Kontrollgesellschaft“, die dem „Empire“ zugeordnet wird. Zudem verwenden sie einen anderen Machtbegriff, obwohl sie sich dabei auf Foucault berufen.

[2] Die von Hardt/Negri angesprochenen kategorialen Vermischungen finden eine Entsprechung in der Wirklichkeit während revolutionärer Umbrüche, in denen nichts mehr so ist und gilt wie vorher und nachher und alles dem Umbruch untergeordnet scheint. Diesen sehen Hardt/Negri offensichtlich als eine sich derzeit herausbildende gesellschaftliche Formänderung der kapitalistischen Produktionsweise selbst und sie betrachten diese insofern als Selbstzweck, als sie die postmoderne Produktion fast unkritisch feiern.

[3] Demgegenüber bleiben die Prozesse der unmittelbaren Reproduktion des Lebens folgerichtig nicht nur unanalysiert, sondern werden mit dem mystifizierenden Allerweltshinweis auf „Leben“ verdeckt.

[4] Als »fiktive Waren« werden hier die Arbeitskraft, darunter die Verausgabung von »allgemeiner Arbeit« im Marxschen Sinne und die Naturressourcen angesehen. Es handelt sich um Elemente der unmittelbaren Reproduktion des Lebens, deren Reproduktionserfordernisse durch den Warenwert nicht adäquat ausgedrückt werden können.

[5] Zu fragen wäre, was denn eine „biopolitische Gesellschaft“ ist. Entweder ist das ein Pleonasmus, weil jede Gesellschaft in irgendeiner Form die Reproduktion des Lebens als Ganzheit realisieren muss, wenn sie auf Dauer bestehen will, oder das „Empire“ wird als solche Gesellschaft angesehen, was dann allerdings der Praxis widerspricht, weil ja hierbei gerade tendenziell die Reduktion auf „Produktion“ erfolgt.

[6] Weniger mystifiziert wäre aus den Praxisverhältnissen zu folgern, dass es um das Verhältnis von unmittelbarer Reproduktion des Lebens und Produktion von Mitteln zum Leben geht, wobei letztere aus emanzipatorischer Sicht als derzeit patriarchal organisierte und profitorientierte durch erstere umzuorientieren wäre.

[7] Möglicherweise wird auch die Reproduktionsarbeit als „private“ Angelegenheit betrachtet und bleibt deshalb unberücksichtigt.

[8] Deren Begrifflichkeit drückt im Anschluss an feministische Diskurse den Inhalt dieser Arbeiten zutreffender aus als der affektive Bezug.