In Z 80 veröffentlichten Harald Werner und Christina Kaindl zwei Artikel, die sich mit dem „Alltagsbewusstsein“ (Werner) bzw. der „Subjektivität“ (Kaindl) von abhängig Beschäftigten in der Wirtschaftskrise auseinandersetzten. Gegenstand beider Artikel ist das Ausmaß der gegenwärtigen Legitimationsprobleme der herrschenden Krisenpolitik bzw. der Wirtschaftsordnung sowie das emanzipatorische politische Potenzial innerhalb der Bevölkerung. Der Problemzusammenhang ist nicht nur politisch brisant, sondern auch wissenschaftlich hochaktuell, wenngleich – wie Dörre u.a. (2009) zutreffend bemerken – eine entsprechende empirische Forschung bislang nicht vorhanden ist.
I. Alltagsbewußtsein, „moralische Ökonomie“ und Alltagsverstand
Obwohl ich viele der vorgetragenen Einschätzungen teile, fehlt in den Artikeln ein ausreichender Begriff des „Alltagsverstandes“ (Gramsci). Deshalb wirkt das Bewusstsein von Lohnabhängigen in den Überlegungen Harald Werners wie ein Reflex von Wirtschaft und Medienapparaten; und obwohl Christina Kaindl in ihrer Argumentation von der Realitätsbewältigung durch die Subjekte und den damit verbundenen Problemen ausgeht – wodurch das Bewusstsein glücklicherweise kaum als direkter Effekt von Diskursen oder Ökonomie missverstanden werden kann – bleibt auch bei ihr das Alltagsbewusstsein unstrukturiert und flexibel. Einige ihrer Anmerkungen zur möglichen rechtspopulistischen und nötigen linken Artikulation vorhandener Ungerechtigkeitsgefühle legen nahe, der Alltagsverstand könne mal zum Spielball linker, mal rechter „Anrufungen“ werden. Das ist nicht ganz falsch, denn wie Ungerechtigkeit subjektiv erklärt wird (und welche Lösungsstrategien auftauchen) ist auch abhängig von aktuellen politischen Sinn- und Deutungsangeboten. Ob diese aber plausibel erscheinen, ob sich der Einzelne von ihnen angesprochen fühlt, ist stark abhängig von den Strukturen und den bereits vorhandenen inhaltlichen Dispositionen des Alltagsverstandes.
In beiden Artikeln wird die „relative Autonomie“ das Alltagsbewusstseins und die Abhängigkeit der Krisenreaktion von dessen Strukturen und Inhalten nicht ausreichend thematisiert. Wissenschaftlich gelingt es daher nicht, die referierten schwankenden und widersprüchlichen Umfragewerte, die das Ausmaß des Vertrauens oder der Kritik in/an Politik und Wirtschaft innerhalb der Bevölkerung auch aus dem „ungleich entwickelten“ und widersprüchlichen Alltagsverstand selbst zu erklären[1]. Ungerechtigkeitsgefühle, wie sie sich in Meinungsumfragen zeigen, lassen sich m. E. aus einer Art „moralischen Ökonomie“ (Thompson) erklären, die innerhalb der verschiedenen Klassenmilieus vorfindbar ist und die eine je individuelle Artikulation innerhalb des Alltagsverstandes erfährt; wie diese Gefühle aber weiter verarbeitet werden ist von den tieferen Deutungsmusterstrukturen des Alltagsverstandes abhängig. Dieser ist der Dreh- und Angelpunkt des individuellen Strebens jedes Lohnabhängigen, sich innerhalb unsicherer Lebens- und Erwerbslagen zu reproduzieren. Er wäre m. E. als strukturierender und zugleich veränderbarer Faktor in die Analyse einzubeziehen. Seine Strukturen und inhaltlichen Dispositionen – z.B. die empirische Ausprägung des Gesellschaftsbildes, der kollektiven Identitäten sowie der Staats- und Interessenorientierungen – wären in ihrer Widerspruchskonstellation offen zu legen, um so die Verwicklungen von Konflikt- und Integrationspotenzialen ebenso aufzuzeigen, wie die von emanzipatorischen und autoritären Dispositionen zu ermessen.
Politisch gehen nicht nur die Deutungsversuche des emanzipatorischen Potenzials fehl, wenn sie nicht per se von dieser ungleichen Entwicklung und den widersprüchlichen Dispositionen ausgehen, sondern sie legen auch falsche hegemoniepolitische Schlussfolgerungen nahe. So deutet Christina Kaindl am Schluss ihres Artikels an, Erfahrungen systemischer Ungerechtigkeit verlangten nach einem „politischen Ausdruck“, einem linken realistischen und zugleich grundlegenden Konzept alternativer gesellschaftlicher Entwicklung. Individuell vorfindbare Vorstellungen (bspw. der Selbstverwirklichung) wären in gesellschaftliche solidarische Form zu überführen (Kaindl 2009: 99). Aber wie? Eine Diskussion über geeignete linke Hegemoniepolitik, die die relative Autonomie des Alltagsverstandes und die in diesem enthaltenen Widerspruchskonstellationen ernst nimmt, müsste nach meinem Dafürhalten fragen, wie Bewusstseinsstrukturen, die den Status Quo stabilisieren, verändert werden können und wie die emanzipatorischen Potenziale des Bewusstseins aus ihrer Vermischung mit autoritären freigesetzt werden können. Dass das nicht beliebig möglich ist, wäre eine weitere Debatte. Die politisch Kernfrage in Anlehnung an Kaindls Überlegungen wäre also: Wie sollte die Linke mit beobachtbaren Legitimationsproblemen herrschender Politik oder gar der „sozialen Marktwirtschaft“ (Harald Werner) umgehen? Genügt ein „politischer Ausdruck“, um die Ungerechtigkeitsgefühle links zu entwickeln? Wenn ja, dann kann dies eine Strategie nahe legen, die sich in der Entwicklung eines alternativen politischen Gestaltungsprojektes genügt, wie es z.B. das „Institut für Gesellschaftsanalyse“ der Rosa Luxemburg Stiftung (vgl. Brie u.a. 2009) für die Partei Die Linke skizziert. Selbstverständlich muss die Linke mit einem politischen Gestaltungsprogramm in die Auseinandersetzungen eintreten. Aber verändert das allein tatsächlich den Alltagsverstand? Wichtiger wäre es m. E., in den betrieblichen und zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzungen an der Veränderung des alltäglich wirksamen Bewusstseins mitzuwirken, konkrete Handlungsalternativen innerhalb von Konfliktsituationen aufzuzeigen und systemkonforme Deutungsmuster des Alltagsverstandes zumindest zu irritieren. Dies würde überhaupt erst die Möglichkeit schaffen, dass sich die Deutungsmuster des Alltagsverstandes verändern können. Hegemoniepolitik hieße dann, sich auf betriebliche und soziale Kämpfe zu konzentrieren und diese mit einer Politik in Zivilgesellschaft und Parlamenten zu verknüpfen. Der „politische Ausdruck“ (Parteien, Bündnisse, Regierungskonstellationen etc.) wäre dann ein Eindruck von den und nicht die Voraussetzung wirklich veränderter (ideologischer) Kräfteverhältnisse(n) innerhalb der Gesellschaft.
Beide Artikel beziehen sich mangels problembezogener qualitativer Forschungsergebnisse auf die Ergebnisse quantitativer Umfrageforschungen. Mit ihren je originären Grundannahmen sind diese Ergebnisse allerdings kaum vermittelt – was in der empirischen Substanz bleibt, ist ihre ausführliche Bezugnahme auf sich widersprechende und interpretationsbedürftige Umfrageergebnisse, die im weitesten Sinnes die verbreite Unzufriedenheit mit politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen erahnen lassen. Wie kann demgegenüber eine alternative theoretische und forschungskonzeptionelle Perspektive aussehen, aus der Reaktionen auf die Wirtschaftskrise untersucht werden könnten? Meine Grundannahme lautet, dass eine an der Erweiterung der solidarischen Handlungsfähigkeit von Krisenbetroffenen interessierte Forschung von den erfahrbaren Reproduktionsrisiken ausgehen muss, die abhängig von der „moralischen Ökonomie“ der Menschen zu Legitimationsproblemen politischer und sozialer Ordnungen führen können. Legitimationsprobleme, selbst auch Ergebnis politischer Deutungskämpfe, bilden zwar den sozialen und politischen Konfliktrohstoff; sie werden allerdings alltagstheoretisch und handlungsleitend durch den relativ autonomen Alltagsverstand strukturiert wahrgenommen. Die Deutungsmuster verändern sich nicht reflexartig, wenn einzelne neue Erfahrungen gemacht oder alternative Diskurse wahrgenommen werden. Wer als von der Krise betroffene Solidargemeinschaft und wer als für sie verantwortlich wahrgenommen wird, das ist ebenso wie der Glaube an die Veränderbarkeit der Welt zu weiten Teilen auch von diesen Deutungsmustern abhängig. Das bedeutet allerdings nicht, dass der Alltagsverstand generell starr ist – das Problem, wann und wie er sich aber verändert, stellt selbst eine politisch und wissenschaftlich relevante Forschungsfrage dar, deren Beantwortung entscheidende Hinweise liefern würde, wie sozialistische Hegemoniepolitik auszusehen hätte.
II. Zur Argumentation bei Werner und Kaindl
Harald Werner verwundert es, dass die Wirtschaftskrise nicht zu einer Verschlechterung der Umfragewerte für das „marktradikale Lager“ führte, sondern dieses gestärkt aus den Bundestagswahlen hervorgegangen sei (Werner 2009: 52). Zwar lasse sich eine generelle Skepsis gegenüber der Politik ebenso feststellen wie wachsende Ungerechtigkeitsgefühle und die Wahrnehmung sozialer Spaltungen (ebd.: 54); gleichzeitig aber gebe es entgegen gesetzte Umfragetrends (ebd.: 54, 56). Von besonderer Bedeutung ist für ihn der Widerspruch zwischen Meinungsäußerungen zur allgemeinen Wirtschaftsentwicklung und zur eigenen Lage.
Wie erklärt Werner diese Beobachtungen? Im Wesentlichen durch die Bezugnahme auf die Dominanz der Medienapparate sowie den Hinweis auf die ungleiche realwirtschaftliche Krisenentwicklung. Die medialen Deutungen der Krise überlagern demnach die persönlichen Erfahrungen. „Wirklich ist nicht mehr, was man selbst erlebt, sondern was im Fernsehen geschieht.“ (ebd.: 54) Im Alltag sei die Krise allerdings noch nicht angekommen, da Massenentlassungen ausgeblieben seien (ebd.: 57). Dass die Krise im Alltag bislang nicht angekommen ist, hängt Werner zufolge mit der ungleichen Krisenentwicklung und der von ihm als Fraktalisierung beschriebenen Entwicklung der Wirtschaft zusammen (ebd.: 55). Die Krise werde nicht psychisch verdrängt, die Umfrageergebnisse seien eher Ausdruck einer ökonomischen Fraktalisierung, die sich im Bewusstsein fortsetze (ebd.: 55). Was dies genau bedeutet, bleibt unklar. Hier schließt Werner aus realwirtschaftlichen Prozessen unmittelbar auf das Krisenbewusstsein.
Der Hinweis auf die ungleiche Krisenentwicklung und damit ungleiche Krisenbetroffenheit ist durchaus berechtigt. Aber beantwortet dies allein schon die Frage, wie sich ungleiche Krisenbetroffenheit auf das Bewusstsein auswirkt? Stimmig ist auch der Hinweis auf die Bedeutung des medialen Krisendiskurses. Aber erklärt das bereits, wie Diskurse verarbeitet werden? Beide Erklärungsversuche eint, dass die relative Autonomie des Alltagsverstandes kaum berücksichtigt wird. Zwar hebt Werner zutreffend hervor, dass individuelles und gesellschaftliches Denken durch die subjektive Praxis bestimmt werden (ebd.: 58). Dennoch legt die gesamte Argumentation nahe, dass individuelles Denken wie ein Reflex verstanden wird. Dies drückt sich auch in der recht unvermittelten pessimistischen Schlussfolgerung aus: Gegenüber imaginierten politischen Optimisten hebt der Autor hervor, Not führe nicht automatisch zu Widerstand. Das stimmt. Aber die daraus folgende Annahme eines grundlegend affirmativen Bewusstseins (ebd.: 58) bleibt apodiktisch und ohne überzeugende Begründung. Von Widersprüchen im individuellen Alltagsverstand ist zwar verschiedentlich die Rede (ebd.: 54, 57), hier verschwinden sie allerdings hinter Schwarzmalerei.
Anders als Harald Werner basiert der Artikel von Christina Kaindl auf klareren Annahmen über Subjektivität und Hegemonie. Ihr Ausgangspunkt ist die leistungsindividualistische „Anrufung“ eines eigenverantwortlichen Subjektes im Neoliberalismus, der dieses mit Freiheitsversprechungen sowie gesteigerten Zumutbarkeiten konfrontiert (vgl. Kaindl 2009: 94). Aus dieser Konfrontation entstehen die in verschiedenen Umfragen zu Tage tretenden Ungerechtigkeitsempfindungen. Als zentrale Ursache sieht sie das verbreitete Gefühl vieler Menschen, ein vormals existenter impliziter Gesellschaftsvertrag – Vertragsinhalt: Wer hart arbeitet kann sozial sicher leben – sei einseitig aufgekündigt worden. Ein wichtiger Punkt, da Hegemonie- oder Legitimationsprobleme so auf die subjektiv empfundene Auflösung vormals bestehender kollektiver Arrangements zurückgeführt werden (ebd.: 95). Allerdings warnt Kaindl vor politischen Kurzschlüssen. Denn diese Ungerechtigkeitsempfindungen müssen nicht zwingend nach Links führen – „rechte Anrufungen“ drohen (ebd.: 97). Herrscht das Gefühl vor, trotz Leistung sei Sicherheit nicht zu erreichen, so „werden zunehmend diejenigen abgewertet, die sich scheinbar den Mühen der Arbeit nicht in gleicher Weise unterziehen müssen und dennoch abgesichert sind: Manager und Politiker oben, Flüchtlinge, Sozialhilfebezieher u. ä. unten.“ (ebd.: 96). Grundsätzlich verstärke die Wirtschaftskrise die Ungerechtigkeitsempfindungen und gäbe vordergründig Positionen Auftrieb, die – verglichen mit neoliberalen – als fortschrittlich interpretiert werden könnten. Entscheidend aber sei, ob diese Meinungsäußerungen verbunden sind mit Solidarität oder mit einem Treten nach Unten (ebd.: 97). Damit ist zwar das Problem richtig benannt – es irritiert jedoch, dass auch Kaindl nicht tiefer auf den Alltagsverstand bzw. die subjektiven Voraussetzungen der Krisenverarbeitung eingeht. Eine Kleinigkeit? Kaum, denn – um auf die oben referierte Annahme zurückzukommen – misslingt der Versuch, durch harte Arbeit soziale Sicherheit zu erlangen, dann führt dies eben nicht bei jedem zu einer abwertenden Haltung gegenüber Schwachen oder nicht-arbeitenden Müßiggängern. Und längst nicht jedes Subjekt hört auf „Anrufungen“ von Rechts (oder Links). Die Deutungsmuster des Alltagsverstandes können empfänglicher, unempfänglicher oder gar resistent gegenüber rechtspopulistischen Funksignalen machen.
Beide Autoren thematisieren Aspekte, die in einer konfliktorientierten Bewusstseinsforschung nicht fehlen dürfen. Mit Harald Werner ist insbesondere zu fragen, welchen Einfluss (mediale) Diskurse haben. Christina Kaindl folgend ist der Zusammenhang zwischen den subjektiven und gesellschaftlichen Arrangements, den erhöhten Anforderungen an die Reproduktionsleistungen, dem Ungerechtigkeitsempfinden sowie möglichen autoritären Potenzialen zu thematisieren. Über die Wahrnehmungs- und Verarbeitungsstrukturen von Menschen, die Hoffnungen und Ängste, Leidenschaft und Resignation ebenso empfinden, wie sie Vorstellungen davon haben, wie die Welt „funktioniert“, also über ihren Alltagsverstand, erfährt man allerdings kaum etwas in den beiden Artikeln. Beide umkreisen ihn, letztlich bleibt er unbestimmt. Dabei ist es gerade dieser Alltagsverstand, der als eine dem Subjekt selbst unbewusste Komposition von Anschauungen und Interessenorientierungen von diesem als kohärent empfunden werden kann und innerhalb widersprüchlicher sozialer Verhältnisse Orientierung gibt.
III. Ein hegemonietheoretischer Forschungsrahmen
Eine diesen Überlegungen entsprechende Lohnabhängigenbewusstseinforschung, die Konflikt- und Integrationspotenziale zu erfassen sucht, sollte m. E. von der Arbeitshypothese ausgehen, dass Lohnabhängige durch widersprüchliche und brüchige Arrangements in das Sozialsystem integriert sind. Schließlich sind Macht und Herrschaft u. a. auf Legitimationsressourcen (Weber) und Konsens (Gramsci) angewiesen. Ihre Integration wäre somit als stabiles und permanent zu sicherndes Phänomen zunächst einmal zu erklären. Aus dieser Perspektive, die von permanent möglichen Legitimationsproblemen ausgeht, ergibt sich weder eine Zusammenbruchshaltung, noch birgt sie Auferstehungshoffnungen auf ein kollektives Klassensubjekt; vielmehr schärft sie den Blick für die institutionellen sowie kulturellen Stabilisatoren und Integrationsmechanismen einerseits (gesellschaftliche Arrangements), die „subjektiven Integrationsleistungen“, mit denen lohnabhängige Menschen sich auf eine systemkonforme Art innerhalb des Sozialsystems zurechtfinden und sich reproduzieren (subjektive Arrangements) andererseits. Diese „doppelte Integrationsleistung“ ist innerhalb konkret zu analysierender Hegemoniekonstellationen immer wieder zu vollbringen, die sich durch eine permanent zu sichernde politisch-ideologische Kompromissstruktur zwischen Klassen, Klassenmilieus und den Geschlechtern auszeichnet. Diese Kompromisse sind nicht nur politisch-ideologischer Natur, sondern umfassen als legitim (oder illegitim) empfundene Lebensweisen, die selbst Anspruchshaltungen und Bedürfnisse begründen.[2] Auf Lohnabhängige bezogene Krisenanalysen können sich demnach stärker auf die gesellschaftlichen Arrangements und politischen Kriseninterventionen (Staatsintervention und Hegemoniepolitik des dominanten Klassenbündnisses) oder auf die hier im Weiteren behandelten subjektiven Arrangements konzentrieren, die ggf. brüchig werden.
Klassentheoretischer Ausgangspunkt krisenbezogener Bewusstseinsforschung sollten die durch die privaten Eigentums- und Produktionsverhältnisse begründeten und an die Lohnarbeiterexistenz geknüpften Reproduktionsanforderungen sein. Analytisch stellt ein derartiger Reproduktionsansatz (vgl. Brock 1991: 13-43) die Ware Arbeitskraft in den Mittelpunkt, der sich – vermittelt über die jeweilige Lage auf betrieblichen und externen Arbeitsmärkten (Marktlage) und/oder staatliche Bürokratien – Reproduktionschancen bieten, die zu tradierten „normalen“ und erwarteten Reproduktionsgewohnheiten in Kontrast stehen oder mit ihnen übereinstimmen. Das Gewohnte und Normale wiederum ist nur aus den klassenmilieuspezifischen Lebensweisen (vgl. Bartelheimer/Wittemann 2003) verständlich. Die für die Einzelnen erwartbaren Lebensweisen, die mit den individuellen und familialen Reproduktionschancen zusammenhängen, bilden zugleich das materielle Gerüst der Gerechtigkeitsempfindungen. Erfahrene Reproduktionsrisiken, so meine Annahme, werden interpretiert und alltagstheoretisch gedeutet. Droht die Reproduktion zu scheitern oder können Standards der Lebensweise nicht erreicht werden, wird zum einen eine „moralische Ökonomie“ sichtbar, die – klassenmilieuspezifisch – die Grammatik der subjektiven Legitimationsempfindungen bildet. Zum anderen rückt mit dieser Bemerkung der die Interpretation strukturierende Alltagsverstand selbst in den Fokus.
Zunächst zur „moral economy“: Versteckt findet sich dieses Legitimationstheorem in Schriften des englischen Sozialhistorikers Edward Palmer Thompsons. Für ihn lassen sich historische Protestaktionen der Volksmengen nur aus den ihnen zugrunde liegenden Legitimitätsvorstellungen erklären. UnruhestifterInnen handelten in dem Bewusstsein, traditionelle Rechte und Gebräuche zu verteidigen, die innerhalb der Gesellschaft weit verbreitet und anerkannt waren (vgl. Thompson 1979: 15). Die von Thompson untersuchten Volksproteste speisten sich seines Erachtens aus einem volkstümlichen Konsens darüber, welches ökonomische und politische Handeln als legitim und illegitim galt. Zu Grunde lagen diesen Erwartungen Vorstellungen darüber, wie eine „gute Gesellschaft“ auszusehen habe und wie die jeweiligen Rechte und Pflichten in dieser verteilt seien. „Dieser Konsens wiederum beruhte auf einer in sich geschlossenen, traditionsbestimmten Auffassung von sozialen Normen und Verpflichtungen und von den angemessenen wirtschaftlichen Funktionen mehrerer Glieder innerhalb des Gemeinwesens. Zusammengenommen bildeten sie das, was man die ‚sittliche Ökonomie’ der Armen […] nennen könnte. Eine gröbliche Verletzung dieser moralischen Grundannahmen war ebenso häufig wie tatsächliche Not der Anlaß zur direkten Aktion.“ (Thompson 1979: 16) Diese moralische Ökonomie ist das vorübergehende Ergebnis von Kompromissbildungen innerhalb jeweiliger Hegemoniekonstellationen. Eine Erosion von Legitimationsressourcen speist sich aus dieser Perspektive selbst aus der alten Hegemoniekonstellation. Ungewöhnlich wären Reaktionen, die spontan gänzlich ideologisch frei wären vom Alten. Die Dechiffrierung der zugrunde liegenden „Gerechtigkeitsgrammatik“ müsste der erste Schritt krisenbezogener Bewusstseinsforschung sein.
Hegemoniale Intervention und subjektive Bedingungen kollektiven Handelns
Wie die Deutungen subjektiv erfahrener Reproduktionskrisen ausfallen, so die zweite Arbeitshypothese, ist zudem abhängig von den „hegemonialen Interventionen“ (Mouffe) vorhandener „politischer Akteure“, die einen Deutungsrahmen anbieten (vgl. Kelly: 1998: 24-39), und den subjektiv vorhandenen Deutungsmustern innerhalb des Alltagsbewusstseins. Unter potenziellen hegemonialen Interventionen sind u.a. die von Harald Werner und Christina Kaindl angeführten medialen Diskurse und Deutungsangebote von politischen Akteuren zu verstehen. Darüber hinaus hat aber jede kollektive Krisenreaktion – ob nun autoritäres oder klassensolidarisches Handeln – spezifische subjektive Voraussetzungen. In der dritten Arbeitshypothese gehe ich, angelehnt an Debatten der Prostest- und Bewegungsforschung, davon aus, dass neben einem Ungerechtigkeitsglauben (Legitimationsdimension) zugleich rudimentäre Formen kollektiver Identität sowie Ansätze eines Veränderungsglaubens vorhanden sein müssen. Die evt. nur rudimentär ausgebildeten Formen kollektiver Identität spielen als mögliche Bezugspunkte für Mobilisierungsprozesse eine herausragende Rolle – sie beeinflussen, ob Verantwortliche für das eigene Schicksal in den Schwächsten der Gesellschaft und den eigenen Nächsten gesehen werden, oder im Handeln politischer Akteure oder antagonistischer Klassen. Da jeder von uns verschiedene Identitäten in sich trägt (vgl. Bensaid: 2006: 64) ist fraglich, welche wann dominant wird. M. E. hängt dies mit den erfahrenen Antagonismen und den auf sie bezogenen umkämpften Deutungsrahmen zusammen: Im Rahmen von mikro- und makropolitischer Hegemoniepolitik wird darum gerungen, was als gerecht gilt, welche kollektive Identitäten popularisiert werden und ob Alternativen im Kleinen und Großen denkbar sind, bleiben oder werden.
Eine schwere Stabilitätskrise eines Gesellschaftssystems ist erreicht, wenn „die oben“ nicht mehr können und „die unten“ nicht mehr wollen (vgl. Lenin 1989: 85) – mit anderen Worten: Wenn innerhalb der Gesellschaft nicht nur manifeste Legitimationskrisen entstanden sind, sondern zugleich Staatsbürokratie und das dominante Klassenbündnis nicht mehr in der Lage sind, adäquat zu regulieren. Auf der Seite der Bevölkerung scheitert die ideologische Integration graduell: Die Hegemoniekonstellation bekommt Risse. Aber sind aus emanzipatorischer Perspektive tatsächlich alle Formen derartiger Legitimationsproblemen oder -krisen wünschenswert? Hebt der Revolutionär Lenin die emanzipatorischen Potenziale derartiger Phasen hervor, kann die Entbindung der Subjekte aus einer geteilten politischen Welt schließlich auch Gefahren bergen. Wie Hannah Arendt als Faschismusanalytikerin hervorhob kann die radikale Individualisierung und die Bindungslosigkeit der Subjekte gegenüber einer politischen Ordnung sie anfällig machen für autoritäre Bewegungen. Das Subjekt, das sie vor Augen hat, ist atomisiert, unmündig, anfällig für demokratiefeindliche Massenbewegungen. Da der Alltagsverstand der Menschen – nicht nur, weil die herrschenden Gedanken einer Epoche die Gedanken der herrschenden Klasse sind – auch Stützpunkt der Klassenherrschaft ist, muss er i.d.R. auch autoritäre und leistungsindividualistische Dispositionen umfassen. Soll er analysiert werden, müssen zugleich die emanzipatorischen und solidaritätstiftenden sowie die autoritären Potenziale des Alltagsverstandesthematisiert und die Wechselbeziehung dieser Elemente zueinanderoffen gelegt werden.
IV. Alltagsverstand und Deutungsmuster
Eine wünschenswerte zukünftige Forschung zu den Krisenreaktionen von Lohnabhängigen sollte also den Einfluss von Diskursen (Werner) sowie individuell widersprüchliche Meinungen und Dispositionen thematisieren können, von den subjektiven Reproduktionsrisiken (Kaindl) ausgehen und die Bezugnahme der Individuen auf kollektive Erfahrungen, Lebensweisen und Ansprüche nachvollziehbar machen. Nicht zuletzt sollte die Verwicklung von Integrations- und Konfliktpotenzialen sowie autoritären und emanzipatorischen Potenzialen freigelegt werden. Das ist m. E. am besten möglich durch ein Konzept, das den Alltagsverstand als Kombination von Deutungsmustern und einer aus klassenmilieuspezifischen „moral economy“ gespeisten Legitimitätsgrammatik versteht.
Der Alltagsverstand
Mit der Analyse des Alltagsverstandes wird die Wirklichkeitswahrnehmung der Individuen entschlüsselt. In dieser Analyse geht es um „gesellschaftlich entwickeltes, vermitteltes und bewahrtes Wissen für den Mann auf der Straße“, das für ihn „zu außer Frage stehender ‚Wirklichkeit’ gerinnt.“ (Berger/Luckmann 2009: 3) Für Gramsci ist der Alltagsverstand ungleich entwickelt und kombiniert oftmals verschiedene Weltanschauungen, die der Mensch passiv im Zuge ideologischer Sozialisationsprozesse sich aneignet – insofern ist jeder Mensch nicht nur ein Alltagsphilosoph, der über ein Set von alltagsbezogenen Theorien verfügt, sondern zugleich – wie Gramsci es formuliert – eine Konformist irgendeines Konformismus (oder mehrerer): Zwar ist das Subjekt an seiner weltanschaulichen Sozialisation beteiligt, dies muss ihm aber nicht bewusst sein. An einer anderen Stelle charakterisiert er den Menschen selbst als einen „historischen Block“ (vgl. Dörre u. a. 2009: 4), um die widersprüchliche Zusammensetzung des Alltagsbewusstseins hervorzuheben. Durch diese Historisierung des Alltagsverstandes werden ebenfalls biografische Aneignungsprozesse thematisiert, im Zuge derer widerstreitende und „eigengeschichtliche“ Bewusstseinselemente zu einem Block integriert werden können. Diese Blockbildung ist eine subjektive Voraussetzung für Handlungsfähigkeit.
Ein neogramscianischer Subjektbegriff erfasst das menschliche Bewusstsein zugleich als in sich widersprüchlich und ungleich entwickelt, in unterschiedlichen Lebensphasen ausgebildet, in ungleichem Maße bewusst und als immer schon in Teilen kollektiv. Eine Dimension des Alltagsverstandes ist die individuell artikulierte moralische Ökonomie, die sich in Gerechtigkeitsgefühlen ausdrückt. Ihr unterliegt m. E. allerdings eine tiefere Ebene, die der Deutungsmuster.
Zur Theorie der sozialen Deutungsmuster
Deutungsmuster sind eigenlogische Alltagstheorien, mit denen Menschen Erfahrungen verarbeiten. Der Begriffsteil „Muster“ deutet die Hauptstoßrichtung der Argumentation an: Die aktuellen Wahrnehmungen sind nicht zufällig, sondern werden durch tiefer liegende und verfestigte Muster strukturiert. Diese Wahrnehmungsweisen allerdings sind nicht individuell und originelles Ergebnisses einzelner Kreativleistungen, sondern per se „kollektiv“, da sie im Kontext hegemonialer „Deutungs- oder Orientierungsrahmen“ ausgebildet werden. Was als Einebnung von Subjektivität erscheinen könnte, ermöglicht in einem dialektischen Verständnis von Sein und Bewusstsein selbst eine produktive Problematisierung, die nach dem Verhältnis von Gesellschaftlichem und jeweils Einzigartigen im individuellen Bewusstsein fragt.
Von seinen Protagonisten (vgl. Neuendorff 1980; Thomssen 1980) wurde der Deutungsmusteransatz innerhalb der industriesoziologischen Bewusstseinsdebatte der 1970er gegen sog. ableitungsmarxistische Positionen in Stellung gebracht. Wert legten sie dabei darauf, dass das Bewusstsein und die subjektive Wirklichkeitswahrnehmung eine eigene Faktizität habe und, da es die subjektiv relevante Wirklichkeit konstituiere, das Handeln beeinflusse. Mit der Kategorie der „relativen Autonomie“ polemisierten sie gegen jede Vorstellung, die aus strukturellen Lagen (z.B. der Klassenposition) allein Substanzielles über das Bewusstsein folgerten. Die Vermittlung von über-individuellen und individuellen sowie kollektiven und subjektiven Wahrnehmungsweisen wurde allerdings undialektisch bestimmt. Der damaligen Lesart zur Folge wurde ein allgemeingültiger Bestand an Wirklichkeitsdeutungen im Zuge von Sozialisationsprozessen schlicht durch das einzelne Subjekt übernommen – oder internalisiert. Begrifflich führte dies zu weiteren Unklarheiten, denn Deutungsmuster bezeichneten zugleich über-individuelle Wissensbestände und die subjektiv angeeigneten Mustern der Realitätsdeutung.[3]
Diese Annahmen lassen sich allerdings entzerren. Von „hegemonialen Orientierungs- oder Deutungsrahmen“, die umkämpft sind, lassen sich die subjektiven Deutungsmuster unterscheiden. Die dominanten Orientierungsrahmen sind das Ergebnis der kulturellen und politischen Hegemoniekämpfe. Die Deutungsmuster dagegen werden durch Erfahrung und individuelle Auseinandersetzungen mit u.a. dieser „ideologischen Umwelt“ ausgebildet. Dabei, so die letzte Arbeitshypothese, setzt sich jeder individuelle Alltagsverstand selbst i.d.R. aus verschiedenen Deutungsmustern zusammen.
M. E. hat dieser Deutungsmusteransatz verschiedene Stärken:
Erstens wird individuelles Denken materialistisch aus dem Zusammenhang der individuellen (und kollektiven) Praxis erklärt. Zugleich wird ihm eine eigene Faktizität und relative Autonomie zugestanden. Deutungsmuster sind dabei zweifach ans Handeln gebunden. Sie orientieren das Handeln innerhalb einer strukturell widersprüchlichen Gesellschaft. So sind Deutungsmuster immer auf Handlungs- (und Reproduktions-)probleme bezogen. Zugleich sind sie Ergebnisse längerer Anwendungsprozesse, in denen sich Muster als fähig erwiesen haben, Handlungsprobleme zu verarbeiten. Aufgrund dieses Handlungsbezuges sind die Deutungsmuster nur „relativ“ autonom.
Zweitens gilt das individuelle Bewusstsein per se als vergesellschaftet und kollektiv. Relevant ist das, wenn geteilte Identitäten und Wissensbestände zum Forschungsgegenstand gemacht werden.
Drittens erlaubt es, mögliche autoritäre Deutungen und Sündenbockideologien, die im Falle von Handlungsproblemen mobilisiert werden, nicht nur zu erfassen, sondern aus der alltagstheoretischen Argumentationslogik (z.B. Gesellschaftsbild) zu erklären. Zugleich lassen sie sich als Momente innerhalb einer Komposition untersuchen, die auch emanzipatorische Elemente enthalten kann.
Über diese Stärken hinaus ermöglicht es der Deutungsmusteransatz, die unbewussten Abwehrmechanismen deutlich zu machen, die gegen eine Verunsicherungen überkommener Deutungsmuster – die bis dato eine stabile Integration in das Sozialsystem ermöglichten – wirken. In früheren wirtschaftskrisenbezogenen Forschungsprojekten wurde nachgewiesen, dass die Reduktion von Handlungsproblemen/Reproduktionsrisiken durch De-thematisierung oder Stereotypenbildung zu einer weit verbreiteten Reaktionsweise (vgl. Zoll u.a. 1984) gehört. Damit lässt sich nicht nur die Resistenz individueller Deutungsmuster erklären, sondern partiell auch die „Stabilität“ der politischen Ordnung. Handlungsprobleme können demnach durchaus – wie in der gegenwärtigen Wirtschaftskrise – zu weit verbreiteten Ungerechtigkeitsempfindungen führen; zu einem theoretisch möglichen klassenbasierten Kollektivbewusstsein führt dies allerdings nur dann, wenn an die Stelle von De-thematisierung eine Thematisierung der Ursachen der Handlungsprobleme tritt, die nicht nach Sündenböcken unter Schwachen und Fremdem sucht. Soweit ist, um auf die anfangs formulierte Kritiken zurückzukommen, auch Christina Kaindl zuzustimmen. Allein durch die Entwicklung eines „politischen Ausdrucks“ aber ist das nicht zu erreichen.
Wissenschaftlich kann dies zu einem Verständnis beitragen, das die Vermittlung zwischen Struktur und Identität, zwischen sozialen Erfahrungen und Reaktionen darauf thematisieren kann, ohne eine Seite des Verhältnisses auf die andere zu reduzieren. Für eine Debatte über „Krisenreaktionen“ öffnet dies den Blick auf die widersprüchlichen und ungleich entwickelten subjektiven Dispositionen und (Interessen-) Orientierungen. Ihren Ausgangspunkt müsste sie in einer reproduktions- und legitimationstheoretischen Perspektive auf die Gerechtigkeits-, Anerkennungs- und Missachtungserfahrungen haben, die den sozialen und politischen Konfliktrohstoff bilden. Diese aber lassen sich nur aus dem zu rekonstruierenden Legitimitätsglauben erklären, der eng verbunden ist mit der „moralischen Ökonomie“ der verschiedenen Klassenmilieus einerseits, den durch politische Akteure ausgefochtenen Hegemoniekämpfen (in denen u.a. um Legitimität und Illegitimität gerungen wird) andererseits. Dieser Legitimitätsglaube bildet zugleich die Konsens- und die Konfliktgrundlage hegemonialer Ordnungen. Die Forschung sollte untersuchen, ob sich auf der Basis von Ungerechtigkeitsempfindungen mikro- und/oder makropolitische Hegemoniekrisen entwickeln, die die jeweiligen Ordnungen als illegitim erscheinen lassen. Und weiter: Welche kollektive Identität liegt der jeweiligen Empörung zugrunde und wer wird als verantwortlich erachtet? Werden Handlungsmöglichkeiten gesehen, oder herrscht ein umfassendes Ohnmachtgefühl vor? Werden Lösungen der wahrgenommenen Probleme durch Eigenaktivität oder durch stellvertretende Organisationen oder Figuren angestrebt? Befriedigend lässt sich dies allerdings nur dann beantworten, wenn die individuellen und geteilten Deutungsmuster als tiefere Ebene des Alltagsverstandes rekonstruiert werden. Politisch legt die obige Argumentation die Schlussfolgerung nahe, die Linke sollte sich stärker darauf konzentrieren, in tatsächliche Konfliktsituationen zu intervenieren oder Situationen zu schaffen, in denen Konflikte (kollektiv) erfahren werden können. Erfahrungen, durch die (konservierende) Deutungsmuster noch am ehesten irritiert werden können, um diese für emanzipatorische Bildungsprozesse zu öffnen, die zu einem Mehr an „soziologischer Phantasie“ (Negt: 1975) befähigen. U.a. würde dies eine entsprechende Diskussion über „sozialische Betriebs- und Gewerkschaftspolitik heute“ voraussetzen, die zu verbinden wäre mit der Frage nach der Bedeutung von (Massen-)Erfahrung im Rahmen sozialistischer Strategien überhaupt (Helme 2009). Um einem Missverständnis vorzubeugen: Die bedeutet nicht, auf die Entwicklung programmatischer Alternativen für eine sozialistische Umgestaltung zu verzichten und diese auch in die allgemeinen gesellschaftspolitischen Diskussionen einzubringen. Im Gegenteil, die Interventionen in oder die Entwicklung von Konfliktsituationen, in denen Erfahrungen gemacht und Deutungsmuster irritiert werden können, wäre mit einer Politik der Delegitimierung hegemonialer Ordnungen und der Legitimierung neuer Ansprüche und Bedürfnisse zu verbinden.
Literatur
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Thomssen, Wilke (1980): Deutungsmuster – eine Kategorie der Analyse von gesellschaftlichem Bewußtsein. In: Handbuch für die Soziologie der Weiterbildung. S. 358-374. Darmstadt.
Werner, Harald (2009): Die Krise im Alltagsbewusstsein. Zwischen Verdrängung, Verzögerung und Vergesslichkeit. In: Z. Zeitschrift marxistische Erneuerung. Nr. 80. S. 52-59.
Zoll, Rainer (1984): ‚Die Arbeitslosen, die könnt’ ich alle erschießen!’ Arbeiter in der Wirtschaftskrise. Köln.
[1] Auf mein eigenes Verständnis des Alltagsverstandes/Alltagsbewusstseins gehe ich unten abschließend ein.
[2] Diese Lebensweisen selbst können zum Ausgangspunkt oder Gegenstand (z.B. feministische Kämpfe) politisch-sozialer Auseinandersetzungen werden.
[3] Diese theoretischen Annahmen wären zu modifizieren. Obwohl für eine ausführliche Kritik der Raum fehlt, möchte ich drei Probleme andeuten: Erstens tauchen praktische Erfahrungen (und damit soziale Erfahrungsräume) als Konstitutionsfaktoren des Bewusstseins nicht auf; zweitens werden die kulturellen Deutungsangebote nicht selbst als umkämpft – als Einsatz im Streit um Hegemonie – verstanden; drittens ist die subjektive Ausbildung von Deutungsmustern in diesen Ursprungskonzeptionen völlig unterbestimmt.