Editorial

März 2004

Die letzten Hefte von „Z“ behandelten in den Schwerpunkt-Beiträgen Aspekte der Sozialstaatsdemontage in der Bundesrepublik (Z 55) und die Auseinandersetzung um soziale Gerechtigkeit (Z 56). Zur Sprache kamen dabei u.a. die Rolle der neoliberalen Wirtschafts- und Sozialpolitik, ideologische Aspekte („neoliberale Symbolik“), die zunehmende soziale Polarisierung in Arm und Reich sowie politische Institutionen des Umverteilungsprozesses (am Beispiel Rürup-Kommission), die Umdeutung von „sozialer Gerechtigkeit“ durch die neue Sozialdemokratie und die Wirksamkeit neoliberaler Dogmen im Alltagsbewußtein, aber auch in Denken und Praxis von Betriebsräten. Dabei hatte sich gezeigt, dass Wertschätzung des Sozialstaats und Zustimmung zur Sparideologie, kämpferische Interessenvertretung und Standortdenken in den Köpfen eine widersprüchliche Synthese eingehen.

Mit dem vorliegenden Heft soll zur Analyse dieser Konstellation weiter beigetragen werden. Neben soziologischen und ökonomischen Analysen zu den gesellschaftlichen Machtverhältnissen kommt den subjektiven und Bewegungs-Momenten mehr Aufmerksamkeit zu – damit wollen wir den sich entwickelnden sozialen Protestbewegungen und ihren Formierungsproblemen Rechnung tragen. Dies gilt auch für die europäische Ebene. Die Frage nach den Perspektiven der Gewerkschaften wird weiter verfolgt.

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Macht- und Reichtumsakkumulation bei Konzernen und Führungseliten sind zwangsläufige Folge der auf kapitalistischem Privateigentum beruhenden Konkurrenzgesellschaft. H. J. Krysmanski entwickelt einen Begriff von herrschender Klasse, für den „vier Ringe“ konstitutiv sind: Geldmacht (Reichtum), Verwertungsmacht (Kapitalverwertungseliten), Verteilungsmacht (politische Eliten) sowie Wissens- und Kommunikationsmacht (Technokraten und Dienstleister). Klassenanalyse, hierin stimmt Krysmanski mit Deppe (vgl. Z. 54, Arbeiterklasse und Arbeiterbewegung im 21. Jahrhundert) überein, muss heute die Internationalisierung des Kapitalverhältnisses berücksichtigen. Der obere Teil der Einkommens- und Vermögenspyramide der bundesrepublikanischen Gesellschaft ist weitgehend unerforscht. Im Zusammenhang mit dem ersten Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung (vgl. Bell/Kreutz/Recht in Z 47, 2001; Klundt in Z 55, 2003) sind hierzu jedoch neue Untersuchungen durchgeführt worden, die für die Macht- und Herrschaftssoziologie von Belang sind. Dierk Hirschel analysiert die Entstehungsbedingungen von „Einkommensreichtum“, worunter hohe Arbeitseinkommen (200 Prozent des durchschnittlichen Arbeitseinkommens) verstanden werden. Für die so abgegrenzte Einkommenselite läßt sich anhand neuer statistischer Materialien und entgegen allen Dogmen der „Leistungsgesellschaft“ zeigen, dass „die Klassen- oder Schichtenlage ihre Einkommenserzielungschancen prägt“. Dies gilt auch für Vermögensreichtum. Heinz Bontrup kontrastiert den Mythos vom „freien Wettbewerb“ mit der Realität der vermachteten Wirtschaft. Dem Anziehen von Kapitalkonkurrenz mit Durchsetzung neoliberaler Wirtschaftspolitik wird, so seine These, ein weiterer Schritt des Machtzuwachses international agierender Konzerne folgen. Spiegelbildlich entspricht dem in der Bundesrepublik (wie generell in allen entwickelten kapitalistischen Ländern) eine deutliche Zunahme von Unternehmenszusammenbrüchen(Irene Gallinge). Die Zahl der Bankrotte war 2003 im Vergleich zu 1992 fast vier mal so hoch, wobei ihr Schwerpunkt bei kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) liegt. Zahlungsunfähige Großunternehmen werden dagegen oft zu Sanierungsfällen mit Staat- und Bankintervention zugunsten der Großgläubiger. Gallinge zufolge gewinnen gegenüber der zyklischen Verschlechterung von Kapitalverwertungsbedingungen strukturelle Veränderungen und das Ungleichgewicht zwischen Binnen- und Außenkonjunktur als Ursachen für die Insolvenzwelle an Bedeutung. Die im Binnenmarkt verankerten KMU geraten gegenüber den international operierenden Großkonzernen weiter ins Hintertreffen, die sich z.B. in Drittweltländern billigere Zulieferer suchen können. Den Machtzuwachs der Großunternehmen belegt auch die von der Deutschen Bundesbank erstmals veröffentlichte Auswertung ihrer Unternehmensbilanzstatistik nach Unternehmensgrößenklassen. Die Bruttogewinne der KMU sind 2001 gegenüber 1994 gefallen, die der Großunternehmen dagegen deutlich gestiegen. Der für den Sommer angekündigte Bericht der Monopolkommission dürfte neues interessantes Material zum Thema Machtkonzentration bieten und soll im Dezember-Heft von Z ausgewertet werden.

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Die Streiks an den Hochschulen und die Sozialprotest-Demonstrationen haben Bewegung in die Bundesrepublik gebracht. An vielen Orten laufen Vorbereitungen für die vom Europäischen Sozialforum in Paris angeregten europäischen Aktionstage gegen Sozialbabbau Anfang April. Ob hier eine außerparlamentarische Bewegung entsteht und ob sie dem in der Bevölkerung vorhandenen Frust und Unmut über die Berliner Politik im Superjahr der Wahlen Ausdrucksmöglichkeiten geben kann, ist die Frage. Das Zusammengehen unterschiedlicher Kräfte – von Basisinitiativen und Gewerkschaften, NGOs wie attac und Sozialverbänden – ist nicht unkompliziert. Wir versuchen, hierzu verschiedene Sichtweisen zu Wort kommen zu lassen. Im vorliegenden Heft veröffentlichen wir Einschätzungen zur Studentenbewegung und zur Berliner Protestdemonstration vom 1. November 2003.

Stefan Schmalz sieht im Vergleich mit vorhergehenden Studentenprotesten (1988/89 und 1997/98) eine deutlichere Frontstellung gegen den neoliberalen Umbau der Hochschulen. Ohne Entwicklung eigenständiger Ziele, innere Vernetzung und Kontakt zu anderen sozialen Protestbewegungen sind Erfolge der Studierendenproteste aber nicht zu erwarten. Alexander King und Sascha Kimpel betonen in ihrer Bilanz der Berliner Demonstration, dass sie nicht von den „etablierten“ Großorganisationen initiiert worden war. Die Autoren sehen Anzeichen für ein Erstarken kapitalismuskritischer Positionen und eine Erosion der neoliberalen Hegemonie. Johanna Klages und Florian Flörsheimer/Anne Tittor stellen Nachbetrachtungen zum 2. Europäischen Sozialforum in Paris an. Klages sieht in den globalisierungskritischen Bewegungen Impulse auch für die Linke insgesamt. Flörsheimer/Tittor beleuchten das immer noch schwierige und teilweise widersprüchliche Verhältnis zwischen globalisierungskritischen Bewegungen und Gewerkschaften. Weitere Beiträge zur Diskussion der neuen Protestbewegungen sind willkommen. In Z 58 wird Peter Wahl (attac) u.a. zu Problemen der Bündnispolitik Stellung nehmen.

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Joachim Bischoff geht dem Einflussverlust der Gewerkschaften nach. Er klopft die herrschenden strategischen Optionen darauf ab, ob sie auf das Ziel eines gewerkschaftsfreien Kapitalismus zusteuern. Tatsächlich scheint es diesen eher darum zu gehen, die Gewerkschaften auf die Rolle einer Beratungsinstanz für die Ebene der betrieblichen Interessenvertretung zurückzustutzen. Dem stehen innerhalb der Gewerkschaften unterschiedliche strategische Optionen gegenüber. Zukunftsfähigkeit sieht der Autor in einer Konzeption der Gewerkschaften als Gegenmacht in den Betrieben und als autonome gesellschaftliche Kraft mit einem politischen Mandat. Holger Gorr sieht die Krise 1974/1975 als Wendepunkt im Kräfteverhältnis zwischen Gewerkschaften und Unternehmerverbänden. Dies zeigt sich in der Entwicklung der Tarifabschlüsse und, seit Mitte der achtziger Jahre, in deutlicher Abnahme von Anzahl und Umfang von Streiks.

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Der italienische Philosoph Domenico Losurdo untersucht in einem philosophisch-historischen Essay den Begriff und die Idee der individuellen Freiheit in der bürgerlichen Gesellschaft und im bürgerlichen Staat. Dabei rekonstruiert und erläutert er die verschiedenen Stränge der Freiheitsinterpretationen bei Hegel, Marx, Lenin auf der einen und der liberalen Tradition der Toqueville und Smith auf der anderen Seite. Harald Neubert fragt aus Anlaß von Lenins 80. Todestag nach dessen Aktualität für heutige sozialistisch-kommunistische Politik. Die Spezifik der Oktoberrevolution, der Umgang der Nachfolger Lenins mit dessen Vermächtnis, Lenin und Gramsci, die Unterschiede der heutigen Situation von jener, in der Lenin wirkte, sind Gesichtspunkte seiner Betrachtung, die Lenin nicht als Ikone, sondern konsequent historisch behandelt wissen will. Interesse dürften auch die weiteren Beiträge dieses Heftes finden: Kurt Pätzold über eine „Zwischenbilanz“ von Jürgen Kocka zur DDR-Forschung, Hans Günter Bell zu neuen Studien zur sozialen Lage in den Städten, sowie, wie üblich, die Themenblocks mit Berichten zu verschiedenen Tagungen und den Buchbesprechungen.