Für seinen bürgerlichen Klasseninstinkt bestens bekannt, analysierte Günther Bannas in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 5. November den Erfolg der Berliner Grossdemonstration am 1. November folgendermaßen: „Statt der erwarteten 25.000 wurde die Zahl der Teilnehmer auf mehr als 100.000 geschätzt. Schon beginnen die Organisatoren sich als Teil einer neu entstehenden sozialen Bewegung zu begreifen, die aus dem außerparlamentarischen Raum Druck auf die Politik ausübt. Kraft, Stärke und Wirkung zieht sie – möglicherweise vorläufig – daraus, dass die Zahl ihrer Ansprechpartner im parlamentarischen Betrieb zur Zeit gering ist. Das Verhältnis zwischen SPD und Gewerkschaften als Organisationen, aber auch die Beziehungen zwischen deren Spitzenpersonal ist gestört. Die Unionsparteien und die FDP gelten den Demonstranten ohnehin als ‚Neoliberale’, die zu Lasten kleiner Leute die Sozialleistungen des Staates kürzen wollen. Doch auch Sozialdemokraten und Grüne sind ihnen, seit diese den Agenda 2010-Kurs von Bundeskanzler Schröder unterstützen, keine Bündnispartner mehr.“ Auch der CSU-Landesgruppenchef Glos habe sich über den Erfolg des 1. November erstaunt gezeigt: „Einer bisher nicht sonderlich ernstzunehmenden Organisation sei es gelungen, eine große Zahl von Demonstranten zu mobilisieren. Das zeige das Ausmaß der Beunruhigung in der Bevölkerung, welche sich auf außerparlamentarische Weise artikuliere.“[1] Bannas kokettiert am Ende des Artikels gar mit einem Vergleich mit den Zeiten der sozialen Bewegungen der 70er und 80er Jahre. Als damals das Argument schwächer wurde, die SPD sei das kleinere Übel gegenüber der CDU/CSU, sei es zur Gründung der Grünen gekommen.
Rückkehr sozialer Protestbewegungen
Anders als Teile der „Linken“, nehmen die Vordenker der herrschenden Klasse die neue Protestbewegung, deren Konturen seit September 2003 in ganz Deutschland sichtbar wurden, offensichtlich sehr ernst.[2] 2003 sind die sozialen Kämpfe nach Deutschland zurückgekehrt. Die Agenda 2010 ist der endgültige Bruch mit der Republik des „Rheinischen Kapitalismus“.[3] Die herrschende Klasse will und braucht eine „neue Republik“, um im weltweiten Konkurrenzkampf bestehen zu können. SPD und Grüne setzen dieses Projekt, das noch lange nicht zu Ende ist, mit aller gebotenen Härte durch. Doch 2003 regte sich Widerstand. Es war das Jahr der sozialen Proteste.
Bestandteil dieses Widerstands waren: die Demonstrationen und Kundgebungen von ver.di, IG Metall und DGB im Frühjahr 2003 mit über 150.000; der Ost-Metallstreik wie auch die über 20.000 Teilnehmer von größeren und kleineren Demonstrationen gegen Agenda 2010 und Hartz-Gesetze; die über 40.000 vor allem aus dem Öffentlichen Dienst am 24.9.2003 gegen den Landeshaushalt in NRW; die dezentralen Proteste in über 40 Städten am 20.10.2003 vor den SPD-Büros; die über 50.000 gegen den Landeshaushalt in Hessen; die über 12.000 am 17.11.2003 gegen den SPD-Parteitag in Bochum; jüngst die Proteste von Zehntausenden Studierenden bundesweit sowie die über 200.000 Kolleginnen und Kollegen bei Arbeitsniederlegungen und Kundgebungen für den Erhalt der Tarifautonomie. Einschließlich den 100.000 von 1. November 2003 macht das alles in allem knapp 750.000 abhängig Beschäftigte, Erwerbslose, Studenten und Ausgegrenzte, die gegen den Kahlschlag auf die Straße gingen. Viel mehr als in den vergangenen Jahren und aufgrund der „Wiederentdeckung der Stärke durch Solidarität“ auch qualitativ bedeutsamer.
Breite Bevölkerungskreise glauben den Versprechungen der politischen Klasse nicht mehr und wenden sich von ihr ab, stärker als das in den vergangen 15 Jahren der Fall gewesen wäre. In den Augen von Millionen (ehemaligen) Wählern ist die SPD nicht mehr die Partei der sozialen Gerechtigkeit. Die Mehrheit der Wähler sieht keinen Unterschied mehr zwischen CDU und SPD.[4] Meinte man 1998 noch, dass Kohl das Problem sei, dass beseitigt werden müsste, so ist es heute für immer größer werdende Teile der Bevölkerung die Politik der politischen Klasse insgesamt.
Im öffentlichen Bewusstsein bildet sich in der Tendenz die Wahrnehmung sich widersprechender Klasseninteressen heraus. Leicht vereinfacht ausgedrückt, fand im Zuge des Niedergangs der klassenkämpferischen und „revolutionären“ Bewegung der 70er Jahre und dem Erstarken der Neuen Sozialen Bewegungen ab Mitte der 70er Jahre in der außerparlamentarischen Bewegung eine schrittweise Abwendung von der „sozialen Frage“ und „dem Kampf gegen das gesamte kapitalistische System“ statt. „Ökologisches Handeln“ sowie „Frieden schaffen ohne Waffen“ stand der umweltzerstörenden Atom- und Industriepolitik und Aufrüstung gegenüber. Infolge der globalisierungskritischen Bewegung im weltweiten Maßstab und jetzt auch in Deutschland verschiebt sich seit Ende der 90er Jahre die Konstellation der Widersprüche. Die sozial zerstörerische Politik des Neoliberalismus wird von einer wachsenden Minderheit abgelehnt. Der diffuse Wunsch nach einer anderen Gesellschaft, nach einem besseren Leben in sozialer Sicherheit, drängt zu einer neuen Artikulation. Daraus folgend wird die „Politik für die Reichen“, und damit das über alles herrschende Profitprinzip, von politisch relevanten sozialen Gruppierungen abgelehnt.
Während nach der Verkündung der Agenda 2010 anfänglich noch Verunsicherung in der Bevölkerung vorherrschte, wurde der grundlegende Zusammenhang „Abkassieren bei den kleinen Leuten“ und „Geschenke an die Reichen“ spätestens im Rahmen der Gesundheitsreform für viele überdeutlich. Und je mehr über die Agenda 2010 und die Hartz-Gesetze bekannt wurde, desto mehr verfestigte sich in der Bevölkerung dieser Eindruck.[5] Auch von Seiten der Gewerkschaftsvorstände wurde die Agenda 2010 deswegen kritisiert, weil sie nicht „sozial gerecht“ sei, und lediglich auf Seiten der Lohnabhängigen gekürzt würde. Kritisch wurde in Presse und Medien bemerkt, dass sich der Kanzler noch immer weigere, die Vermögenssteuer einzuführen. Konstant wurde in allen Meinungsumfragen im Jahr 2003 deutlich, dass eine Mehrheit der Bevölkerung die Maßnahmen der Bundesregierung ablehnte, bei einzelnen Maßnahmen erreichte die Ablehnung nahezu 90 Prozent.[6]
Keine neoliberale Hegemonie in Deutschland
Unter den Aktiven der sozialen Bewegungen, in Attac, in autonomen Gruppen und in linken Gewerkschaftskreisen wurde im Frühjahr und Sommer 2003 jedoch meist behauptet, dass die „neoliberale Hegemonie in den Köpfen“ so stark sei, dass das Projekt „1. November“ von Anfang an zum Scheitern verurteilt sei. Und auch der DGB-Chef Sommer begründete die „Sommerpause“ , nachdem er wenige Wochen zuvor der Regierung noch mit einem „heißen Sommer“ gedroht hatte, unter anderem mit einer Studie im Auftrag des DGB. Die Studie hätte belegt, dass eine deutliche Mehrheit der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen erwarte, dass die Gewerkschaften jetzt in Verhandlungen mit Regierung und Opposition für die abhängig Beschäftigten gute Ergebnisse erziele.[7] Als Anfang Juli das erste Mal der Vorschlag einer „Großdemonstration am 1. November“ kursierte, entbrannte daher unter anderem in Attac eine heftige Debatte. Zentrales Argument gegen den Vorschlag: die „neoliberale Hegemonie“ mache lediglich einen kleinen Protest möglich. Und da ver.di und IG Metall schwer als Bündnispartner zu gewinnen seien, sei Protest von Anfang an isoliert.[8] Der in Attac gefundene Kompromiss[9] orientierte sich daher in erster Linie an dem, was andere Kräfte tun würden. Und da die mit über 150 Aktivisten aus der gesamten Republik erfolgreiche Aktionskonferenz am 16. August[10] in Frankfurt mit über 90 Prozent für eine Großdemonstration am 1. November stimmte, entwickelte sich in Attac sowie in den unterschiedlichsten politischen und sozialen Milieus eine Dynamik der darauf ausgerichteten Mobilisierung.[11]
Die Großdemonstration sollte in Berlin stattfinden, um der Proteststimmung eine neue politische Qualität zu geben. Zehn- bis Zwanzigtausend Teilnehmer wurden als Messlatte für einen Achtungserfolg angesehen, der als Startschuss für weitere Proteste dienen sollte. Niemand ging davon aus, dass dies bereits das große Kräftemessen gegen die Regierungspolitik sei oder deren geplante Maßnahmen zu verhindern seien. Dafür wäre, so wurde schon damals von einigen in die Diskussion eingebracht, ein „Generalstreik“ nötig. Doch die von vielen Basisaktivisten vorgetragene Position, dass die Stimmung in der Bevölkerung und insbesondere in den Betrieben eher auf massenhafte Protestkundgebungen als auf weitergehende Kampfformen gerichtet sei, war richtig. Der Bann der Verunsicherung und der „von oben“ verkündeten Sommerpause wurde spätestens im Zuge der Auseinandersetzung um die Gesundheitsreform ab September 2003 gebrochen.
Mobilisierung von unten - beispielhaft für die Zukunft
In Berlin gab es lediglich ein kleines Büro mit wenigen Aktiven, das organisierende Zentrum auf nationaler Ebene war schwach, bündnispolitisch gab es bis drei Wochen vor der Demonstration enorme Probleme.[12] Doch in über 100 Städten wurde „von unten“ mobilisiert, über 300 Busse fuhren nach Berlin, aus Ostdeutschland kamen viele mit dem Zug. Die Medien nahmen den 1. November jedoch erst ernst, nachdem Attac auf seinem Ratschlag vom 17.-19.10. beschloss, die Mobilisierung stärker als bisher vorgesehen auf den 1. November zu orientieren. Die Presse war am 20./21.10. plötzlich voll mit der Ankündigung der Demonstration durch Attac.[13] Von nun an galt die Demonstration als Attac-Demonstration. Doch diese Einschätzung ist mit Sicherheit nicht angemessen und in erster Linie von den Medien befördert, unter anderem weil breitere Bevölkerungskreise mittlerweile etwas mit dem Label „Attac“ anfangen können und nicht wenige ihre Hoffnungen damit verbinden, verstärkt auch unter Gewerkschaftern. Logische Konsequenz ist, dass Attac nach dem 1. November wieder enormen Zulauf erhielt, und die Gewerkschaftsführungen einem außerparlamentarischen Bündnis mit Attac mittlerweile hohe Priorität einräumen.[14]
Der 1. November konnte die latent vorherrschende resignative Stimmung unter den außerparlamentarischen Aktivisten vorerst beseitigen. Der Überraschungseffekt der 100.000 löste einen Motivationsschub aus. Viel mehr scheint möglich. Gleichzeitig werden Mythen über den 1. November kolportiert. So wird von eher linksradikal/autonom orientierten Kreisen behauptet, der 1. November sei ohne die Gewerkschaften zustande gekommen. Wenn unter Gewerkschaften lediglich Gewerkschaftsvorstände verstanden werden, ist dies richtig. Die Beteiligung von Kollegen aus den Betrieben und den Gewerkschaften war jedoch enorm. Unter anderem deshalb, weil sehr viele Landes- und Ortsverbände, vor allem von ver.di, aber auch der IG Metall und anderer Gewerkschaften, sowie Betriebsräte massiv für die Demonstration mobilisiert hatten.[15] Aufgrund des Drucks der Delegierten der Gewerkschaftstage von IG Metall sowie ver.di riefen diese Organisationen in der zweiten Oktoberhälfte doch noch zum 1. November auf. Die Gewerkschaftsvorstände folgten diesen Beschlüssen nur halbherzig. Unter den Gewerkschaftern hatten sie jedoch mobilisierende Wirkung.[16]
Für manche überraschend, gehörte die PDS zu denjenigen Kräften, die die Vorbereitung des 1. November von Anfang an stark unterstützt haben. Die PDS mobilisierte in Ostdeutschland, teilweise mit Bündnispartnern, flächendeckend. Einige Tausend Genoss/innen nahmen an der Demonstration teil. Es war die wahrscheinlich erfolgreichste Mobilisierung der PDS seit Jahren. Dennoch ist die PDS sofort nach dem ersten November wieder in die Defensive geraten. Offensichtlich im Überschwang des Erfolges der Demo, der publizistisch auch der PDS zu gute kam, lud die PDS die Gewerkschaftsspitzen und Attac zu einem sozialpolitischen Konvent. Doch die Gewerkschaftsspitzen zeigten sich von dieser Offerte völlig unbeeindruckt, und Attac reagierte gar gereizt: Die PDS wolle die erfolgreiche Mobilisierung für parteipolitische Zwecke missbrauchen. Attac dagegen wolle zu allen Parteien gleichen Abstand halten. Das ist aufgrund der Zusammenarbeit vor dem 1. November eine etwas befremdliche Position. Zu kritisieren ist jedoch auch, dass die PDS an den eigentlichen Initiator/innen der Demonstration vorbei auf vermeintlich wichtigere Gesprächspartner/innen zusteuerte, die ihr, wie nicht anders zu erwarten, die kalte Schulter zeigten.
Das Scheitern des Projekts „Sozialpolitischer Konvent“ deutet darauf hin, dass die Bündnispolitik alter Manier mittlerweile auf schwachen Beinen steht. Denn was die PDS zunächst mit Sympathie begleitet und gefördert hatte, bekam nach dem 1. November eine Eigendynamik, die auch für die PDS politische Konsequenzen hat. Die Bewegung gegen Sozialkahlschlag entwickelte sich dezentral und griff landesspezifische Themen auf – in Berlin beispielsweise den Protest gegen KiTa-Gebührenerhöhung, gegen die Tariferhöhungen im ÖPNV, gegen Kürzungen im Hochschuletat, gegen Studienkonten, gegen die Risikoabschirmung für die Berliner Bankgesellschaft, gegen den Doppelhaushalt. Für die PDS in Berlin ist es damit schwierig geworden, noch als aktiver Teil der Bewegung gegen Sozialabbau aufzutreten. Die Bundes-PDS ist zugleich vorsichtiger geworden hinsichtlich ihres Auftretens innerhalb der Bewegungsstrukturen. Es scheint so, als würde Gabi Zimmer durch die Protestbewegung 2003 nachträglich rehabilitiert. Denn als sie als damalige PDS-Vorsitzende im Herbst 2002 auf dem Parteitag in Gera ihre Partei dazu aufrief, auf die sozialen Bewegungen zuzugehen und sich als ein Teil von ihnen zu verstehen, fragten nicht wenige ihrer Kritiker/innen: „Welche sozialen Bewegungen?“ Als sie anstelle eines parteipolitischen Mitte-Links-Bündnisses, mit SPD und Grünen, die Orientierung auf ein gesellschaftliches Mitte-Unten-Bündnis einforderte, schien das vielen zu unbestimmt, und nicht einmal sie selbst konnte ihr Konzept damals schlüssig erklären. Vielleicht dachte sie ja damals an eine Protestbewegung, deren integraler Bestandteil die PDS sein sollte.
Der 1. November war, trotz der beachtlichen Teilnahme von Gewerkschaftern, eine „Bündnisdemonstration von unten“, oder, um ein anderes Bild zu gebrauchen, eine „Volksdemonstration“ im besten Sinne. Der Umstand, dass sich Tausende Berliner/innen spontan dem Demonstrationszug anschlossen, lässt diese Charakterisierung zu.
Auch die auf der Demonstration durch die Transparente und selbstgemachten Pappschilder vorgetragene Kritik war weder ein halbherziger „Appell an die Politiker“, noch durch keynesianisch orientierte Forderungen geprägt. Auch in den Reden wurde das deutlich. So sprachen auf der Abschlusskundgebung unter anderem Rainer Roth, Autor des Buchs „Nebensache Mensch. Arbeitslosigkeit in Deutschland“[17], der eine radikale Kritik an der zerstörerischen Wirkung der Profitlogik formulierte, Frank Jäger für den Runden Tisch der Erwerbslosen sowie Bernd Riexinger[18] vom Arbeitsausschuss der Gewerkschaftslinken. Alle drei lehnten die Kahlschlagspolitik konsequent ab und forderten soziale Rechte auf hohem Niveau für alle.[19] Dass antikapitalistische Kritik auf einer Massendemonstration solch einen breiten Raum einnehmen konnte, ist auch darauf zurückzuführen, dass im Vorbereitungskreis die Unterstützer einer antikapitalistischen Politik starken Einfluss hatten.[20] Bereits der Demonstrationsaufruf war in einem akzentuiert antikapitalistischen Ton gehalten.[21] Dieser starke Einfluss ist zum einen auf die schwache Repräsentanz der traditionellen Großorganisationen, ausgenommen die PDS, bei der Vorbereitung zurückzuführen, zum anderen darauf, dass eine traditionell-reformistische Argumentation aufgrund der Krise keynesianischer Politikvorstellungen an Einfluss eingebüßt hat.
Die vielzitierten Bewegungs- und Protestforscher jedoch scheinen sich für all diese Phänomene nicht zu interessieren, sondern überbieten sich in sonderbaren Stellungnahmen, die auch von den Vorständen der Grünen oder der SPD stammen könnten. So sei der „linke und links-liberale Mainstream“ auf der Straße gewesen, und der „wolle nicht den Konservativen in die Hände arbeiten. Nur Linksradikale sagen: ist ja eh egal, wer regiert“, meint etwa Dieter Rucht vom Wissenschaftszentrum Berlin. Denn im Zweifelsfall würde sich die derzeit protestierende Menge „für Schröder als kleines Übel entscheiden“. Außerdem, und spätestens jetzt sollte man stutzig werden: „Bei Verteilungsfragen geht es nicht um ein Entweder-Oder, sondern um ein Mehr-oder-Weniger (...) Das ist nicht massenwirksam.“[22] Die Feststellung hinsichtlich der Wahltaktik mag für einflussreiche Kräfte in den Gewerkschaften zutreffen, für den Großteil der Demonstrationsteilnehmer und für einen bedeutenden Teil der Wähler sind diese Überlegungen jedoch kaum mehr relevant. Da die wesentlichen Konterreformen von CDU und SPD gemeinsam beschlossen wurden, geht die Rucht’sche Logik völlig ins Leere.
Konturen einer neuen außerparlamentarische Bewegung
Das Projekt „neue Republik“ ist sicherlich in SPD, Grünen, CDU und FDP sowie in Kapitalkreisen, aber auch in Teilen der Gewerkschaftsapparate hegemonial, in Bezug auf die Lohnabhängigen hat dieses Projekt jedoch auch in Deutschland seine hegemoniale Kraft entscheidend eingebüßt. Die Ausbeutungsoffensive in den Betrieben, die massiven Lohnkürzungen, der Sozialkahlschlag oder die Zerstörung des Solidarprinzips werden von der Mehrheit nicht mehr als „Allgemeininteresse“ angesehen.[23] Klassengegensätze[24] treten wieder deutlicher hervor, Armut und soziales Elend werden immer stärker sichtbar.[25]
Die Führungen der deutschen Gewerkschaften haben sich durch die Bindung an die Sozialdemokratie seit 1998 in eine Sackgasse manövriert. Aus dieser Schlinge versuchen Teile der Gewerkschaften herauszukommen und öffnen sich daher gegenüber anderen gesellschaftlichen Kräften, die nicht unmittelbar unter ihrer Kontrolle stehen. Daher setzen einflussreiche Funktionäre der deutschen Gewerkschaften auf den europäischen Aktionstag gegen Sozialkahlschlag am 2./3.April.[26] Doch kurzfristige Aktionen werden vielleicht helfen, das ramponierte Image sowie den Glaubwürdigkeitsverlust gegenüber den Gewerkschaftsmitgliedern zu kitten. Die Arbeiterbewegung kann in Deutschland jedoch erst wieder ein relevanter Faktor der politischen Entwicklung werden, wenn der Einfluss sozialpartnerschaftlicher Konzepte in den Betrieben und Gewerkschaften zurückgedrängt werden kann und unabhängige Aktionen aus den Betrieben „von unten“ an Relevanz gewinnen.[27]
Da die sozialen Interessen der Mehrheit der Lohnabhängigen im Deutschen Bundestag keine politische Vertretung mehr haben,[28] muss die Entwicklung einer „Massenbewegung von unten“ in den kommenden Jahren die erste Priorität sein.[29] Denn nur so kann die brutale Offensive „von oben“ gestoppt und zurückgeschlagen werden. Für den 3. April sind möglicherweise 500.000 bis eine Million mobilisierbar, vielleicht auch viel mehr. Das wäre bereits ein großer Schritt nach vorn und ein starkes politisches Signal. Spätestens dann wären Mehrheiten ansprechbar und mittelfristig auf die Straße zu bringen – durch breite Mobilisierungen von unten, Demonstrationen, Streiks, Blockaden und andere Formen des Widerstands. Die politischen und sozialen Elemente für eine dahingehende politische Orientierung waren 2003 vorhanden. Und, wenn wir es ernst meinen mit unserem Anspruch, „alle gesellschaftlichen Verhältnisse zu bekämpfen, worin der Mensch ein erniedrigtes, geknechtetes, ein verlassenes , ein verächtliches Wesen ist“ (Marx) dann kann das Ziel unserer Anstrengungen nicht ein „sozialer Kapitalismus“ bzw. „keynesianistischer Sozialstaat“, sondern nur eine sozialistische Gesellschaft sein.[30]
Vergleichbar mit der Entwicklung der globalisierungskritischen Bewegung[31] werden in zunehmenden Maße auch in Deutschland bei den sozialen Mobilisierungen wieder jene Zusammenhänge hergestellt, die die Kahlschlagspolitik erklärbar machen. Dadurch wird ein Prozess eingeleitet, bei dem die Fragmentierung der sozialen Bewegungen und der Arbeiterbewegung (teilweise) aufgehoben wird. Doch innerhalb der Bewegung gibt es sehr unterschiedliche Vorstellungen darüber, wie sie sich entwickeln soll, welche Forderungen in den Vordergrund gestellt werden sollen etc. Die Aufgabe der Marxist/innen und Antikapitalist/innen besteht u.E. in erster Linie darin, treibende Kraft der Mobilisierungen und Kämpfe zu sein. Nicht abwarten, sondern handeln! Nicht alleine handeln, sondern mit allen, die sich gegen die Angriffe wehren wollen. Und obwohl 2004 zahlreiche Wahlen in Europa, in den Bundesländern und in den Kommunen anstehen, ist nicht (in erster Linie) auf die Veränderungen in den Institutionen und über die Parlamente zu setzen, sondern verstärkt auf die „Macht der Straße“. Sicherlich – obwohl immer mehr Menschen bereit sind sich zu wehren – heißt das nicht, dass sie auch sofort alle bereit sind, gesamtgesellschaftliche Alternativen zu tragen. Die Bedingungen für einen Prozess in diese Richtung haben sich jedoch bedeutend verbessert.
So unerlässlich die Mobilisierungen sind – die „Spontaneität“ allein wird daher nicht ausreichen, um die politischen Fragen, die sich der Bewegung stellen, zu beantworten. Um die Schnittstelle von ökonomischer und politischer Macht auszuhebeln, wird es nicht ausreichen, die „soziologische Mehrheit“ auf seiner Seite zu haben. Es bedarf politischer Organisationen, die in den Bewegungen wirken und von ihnen lernen, die Lehren der Vergangenheit in klare Ziele und Strategien für die Gegenwart fassen und schließlich den Mut haben, die Perspektive des Bruchs mit dem Kapitalismus auf die Agenda zu setzen.
[1] Günter Bannas, „Keine neue soziale Bewegung, und erst recht keine neue Partei“, FAZ, 5.11.2003
[2] Siehe auch den sehr lesenswerten Artikel von Tom Strohschneider im „Neuen Deutschland“ vom 29. Dezember: „Wir hier unten, ihr da oben« 2003 war ein Jahr der soziale Proteste. Die neue Apo steht aber erst am Anfang“. Ähnlich argumentiert Jochen Stay, Sprecher von X-Tausend Mal quer: „2003 war ein Jahr der Massenproteste und des neuen Selbstbewusstseins politischer Basis-AktivistInnen“ (Jochen Stay, Die Renaissance der Protestbewegungen, siehe: www.bewegungsstiftung.de/pdf/taz-beilage.pdf) sowie Oliver Nachtwey in der „jungen Welt“, vgl. Agentia 2010, http://www.jungewelt.de/2003/12-23/016.php
[3] Vgl. Martin Dieckmann, Zwischen zwei Republiken. Der „Umbau“ des Sozialstaates und die Perspektiven des Widerstandes, in: ak. Analyse und Kritik. Zeitung für linke Debatte und Praxis, Nr.479, 19.12.2003. Zum Begriff „Rheinischer Kapitalismus“ vgl. Michael Albert, Kapitalismus contra Kapitalismus, Frankfurt a.M. 1992. Im öffentlichen und auch wissenschaftlichen Diskurs wird der deutsche Begriff „soziale Marktwirtschaft“ immer weniger gebraucht.
[4] Eine gute Darstellung sowie klassenpolitische Einschätzung der Ergebnisse des Vermittlungsausschuss vom 19.12.03 macht unter anderem Winfried Wolf, Neoliberale Sturzgeburt, in: junge Welt, 16.12.03.
[5] Konterkariert wird diese offizielle gewerkschaftliche Kritik immer wieder durch Aussagen wie, die Ergebnisse seien „ein wichtiges Signal für die Konjunktur“ gewesen. So geäußert von Michael Sommer. Vgl. „Die Welt“, 16.12.03.
[6] Vgl. Dietmar Wittich, Berichte aus der sozialen Hängematte. Sozialpolitische Themen in der öffentlichen Meinung, Berlin 2003.
[7] Vgl. DGB Newsletter vom 2.7.03. Der DGB hatte im Mai die Polis-Umfrage in Auftrage gegeben. http://www.dgb.de/presse/pressemeldungen/pmdb/pressemeldung_single?pmid=2117
[8] Die Gegenposition wurde formuliert in dem Papier von Werner Halbauer, Nico Wehnemann und Sascha Kimpel. Nachlesbar unter anderem unter http://www.labournet.de/diskussion/arbeit/aktionen/attacberlin2.html.
[9] Vgl. Interview mit Wener Rätz, Mitglied des Attac Ko-Kreis, http://www.jungewelt.de/2003/08-08/019.php
[10] Vgl. Daniel Behruzi, Aktionskonferenz beschloss: Am 1. November in Berlin bundesweite Demonstration gegen Sozialabbau, http://www.jungewelt.de/2003/08-18/009.php
[11] Vgl. „Aktionismus contra Bedenkenträgerei“. Zur Entwicklung des Widerstandes gegen den Abbau des Sozialstaats. Von Peter Wahl und Pedram Shayar. Vgl. www.labournet.de. Obwohl das Papier eine Hinwendung von Attac zu sozialen Protesten befördern will, ist es gleichzeitig sehr zögerlich. Nach wie vor geht man von einer „neoliberalen Hegemonie“ aus, die allenfalls „brüchig“ sei.
[12] Wer die Debatte nachvollziehen will, kann sie unter anderem nachlesen unter http://labournet.de/diskussion/arbeit/berichte/demo03.html oder zusammenfassend: Susanne Götze, Tom Stohschneider, Kritik unter Kritikern, Differenzen im Bündnis zur Vorbereitung der Demonstration gegen Sozialkahlschlag am 1. November, in Neues Deutschland vom 29.10.03
[13] Die Steilvorlage der Grünen kurz vor der Demonstration war sicherlich wiederum mobilisierend. Vgl. Hans Monath, Attacke!, Kurz vor den Protestaktionen werfen die Grünen den Globalisierungskritikern von Attac Politikunfähigkeit vor, in: Tagesspiegel vom 30.10.03; Attac attackiert die Grünen, in: Tagesspiegel vom 31.10.03
[14] Vgl. Interview mit Frank Bsirske im „Tagesspiegel“ vom 15.12.03: „Wir werden andere Bündnisse eingehen.“
[15] Vgl. http://www.labournet.de/diskussion/arbeit/aktionen/unterstuetzer.html
[16] http://www.labournet.de/diskussion/verdi/antragdemo.html
[17] Vgl. Rainer Roth, Nebensache Mensch, Arbeitslosigkeit in Deutschland, Frankfurt a.M. 2003.
[18] Bernd Riexinger ist auch Geschäftsführer von ver.di Stuttgart und gehört mit zu den Initiatoren der Gewerkschaftslinken. Ver.di Stuttgart gehörte mit zu den Initiatoren des 1. November, unter anderem mit einem eigenen innergewerkschaftlichen „Aufruf für eine bundesweite Demonstration des DGB und seiner Einzelgewerkschaften gegen Sozialabbau in Berlin“.
[19] Alle Reden sind nachzulesen unter http://labournet.de/diskussion/arbeit/berichte/demo03reden.html
[20] Unter anderem Linksruck, Internationale sozialistische Linke, Sozialistische Alternative und Gruppe Arbeitermacht, sowie diverse maoistische Zirkel sowie die MLPD. Die MLPD verhielt sich jedoch bündnispolitisch kontraproduktiv, was teilweise zu scharfen Auseinandersetzungen im Bündnis beitrug. Die PDS verzichtete auf einen eigenen Redner und unterstützte die Vorgeschlagenen.
[21] Vgl. http://labournet.de/diskussion/arbeit/aktionen/aufrufe.html
[22] Vgl. Taz 4.11.03, „Von Sibirien bis nach Berlin“, Christian Semler und Ulrike Winkelmann. Ähnlich äußerte er sich gegenüber der „Rheinpfalz“, http://www.rheinpfalz.de/perl/cms/cms.pl?cmd=showMsg&tpl=ronMsg.html&path=/ron/welt/deutsch&id=031102101844.701shbg3. Dieter Rucht ist Mitglied im wissenschaftlichen Beirat von Attac.
[23] Die Anerkennung eines Allgemeininteresses durch die unterdrückten Klassen ist nach Gramsci eine entscheidende Vorraussetzung für Hegemonie. Durch Hegemonie ist die herrschenden Klasse wiederum in der Lage, ihre Interessen durchzusetzen, sowie die politische Führung und damit Herrschaft auszuüben. Offensichtlich geht diese Hegemonie seit Mitte der 90er Jahre in zunehmenden Maße verloren. Ein Indiz dafür ist die Entstehung der globalisierungskritischen Bewegung.
[24] Ein Plädoyer für den Klassenbegriff befindet sich zum Beispiel bei dem konservativen Historiker Paul Nolte, Unsere Klassengesellschaft. Wie könnten die Deutschen angemessen über ihr Gemeinwesen sprechen? Ein unzeitgemäßer Vorschlag, in: „Die Zeit“ vom 4.1.2001.
[25] Die Kahlschlagspolitik der Agenda 2010, Hartz-Gesetze, Gesundheitsreform, die Rentenpolitik sowie die Kürzungsprogramme auf Landesebene verschärfen die Armut in Deutschland enorm. In Berlin beispielsweise wird die offizielle Armutsquote von ca. 17 auf 25% ansteigen.
[26] Dass die klassenpolitische Entwicklung Anschluss an andere europäische Länder gefunden hat, war auch auf dem zweiten Europäischen Sozialforum spürbar, mit über 3.000 Teilnehmern aus Deutschland. Dort setzen sich insbesondere die Vertreter aus Deutschland für einen europaweiten Aktionstag gegen Sozialkahlschlag ein. Doch aus kaum transparent gemachten Gründen stieß dieser Vorschlag auf Widerstand insbesondere französischer und italienischer Delegierter im „Forum der sozialen Bewegungen“, so dass vorerst kein Konsens über den europaweiten Aktionstag hergestellt werden konnte. Aufgrund des Drucks insbesondere von ver.di beim EGB hat dieser Anfang Dezember 2003 den 2./3.April als europaweiten Aktionstag ausgerufen. Vgl. die Erklärung des „Forum der sozialen Bewegungen“ des ESF in Paris, http://www.labournet.de/diskussion/wipo/seattle/esf2/, sowie die Presseerklärung des EGB vom 18.12.03, http://www.etuc.org/en/default.cfm. Ein analytischer Vergleich hinsichtlich der Gemeinsamkeiten und Unterschiede der klassenpolitischen Entwicklungen wäre sicherlich sehr lohnend für die Strategiebildung sowie die inhaltliche Positionierung der außerparlamentarischen Bewegung in Deutschland.
[27] Lesenswerte Denkanstöße in diese Richtung sind: Stefanie Hürtgen, “Gestaltung des Anpassungsdrucks”, “Rückkehr zu bewährter Gewerkschaftspolitik” oder “Kampf um soziale Transformation”? Gewerkschaftliche Positionen zur Globalisierung in Deutschland und Frankreich, erschienen in: Prokla 130, Münster 2003, auch nachzulesen unter http://www.linksnet.de/artikel.php?id=856; Mag Wompel, Gegenmacht schaffen, Gewerkschaftsbewegung als radikalen Auftrag zur sozialen Veränderung begreifen, in: Beilage der JW zum Europäischen Sozialforum, erschienen am 29.10.03, http://www.jungewelt.de/beilage/index.php?id=293; Bernd Riexinger, Gegenwehr europäisieren. Die Gewerkschaften müssen ihr Mandat offensiv politisch ausbauen und wahrnehmen, http://www.jungewelt.de/beilage/index.php?id=294, sowie Frank Deppe, Gewerkschaften unter Druck. Autonomie und außerparlamentarische Bewegung, Supplement der Zeitschrift Sozialismus 9/2003
[28] Die Ausnahme bilden die beiden Bundestagsabgeordneten der PDS, Petra Pau und Gesine Lötzsch, die gegen alle Gesetzesvorhaben im Rahmen der Agenda 2010 stimmten, deren Wirkungsmöglichkeit als Einzelabgeordnete (ohne Fraktion oder Gruppe) jedoch stark eingeschränkt ist.
[29] Tom Strohschneider entwickelt eine ähnliche Perspektive, wenn er schreibt: „Bis zum nächsten, dann europaweiten Aktionstag gegen Sozialabbau reihen sich also nicht ohne Grund Konferenzen und Strategietreffen dicht an dicht. Im Mittelpunkt die Frage ‚Wie weiter?’ Eine Antwort gab das ausklingende Jahr selbst: Was tun! Ob studentische Streiks oder politische Ausstände der Beschäftigten, ob besetzte Bürgermeisterämter oder lahm gelegte Parteibüros, ob neuerliche Demonstrationen oder aus dem Boden schießende Basisinitiativen: Einmal erlebt, breitete sich das diffuse Gefühl der Solidarität, das ‚wir hier unten, ihr da oben’, diese ein wenig anarchistische Stimmung des ‚alles ist möglich’ fast von selbst aus. Es gibt kaum Hinweise darauf, dass dies im nächsten Jahr anders sein sollte.“
[30] Alex Callinicos hat jüngst überzeugend dargelegt, dass eine sozialistische Gesellschaft den Werten entspricht, für die sich die globalisierungskritische Bewegung einsetzt. Vgl. Alex Callinicos, Nach dem Kapitalismus. Eine andere Welt ist möglich: Sozialismus, in: Beilage der JW-Beilage zum Europäischen Sozialforum, nachzulesen unter: http://www.jungewelt.de/beilage/index.php?id=295. Im März erscheint im VSA-Verlag die deutsche Ausgabe von Alex Callinicos, Anticapitalist Manifesto, Oxford 2003.
[31] Vgl. für die Entwicklung der weltweiten Bewegung: Christine Buchholz, Anne Karras, Oliver Nachtwey und Ingo Schmidt, Unsere Welt ist keine Ware. Handbuch für Globalisierungskritiker“, Köln 2002, S. 22-40.