Die heutige Lage der sozialistischen, der kommunistischen, ja aller linken Kräfte ist äußerst schwierig und vielschichtig. Uns drängen sich sowohl in bezug auf die Vergangenheit wie auf die Gegenwart zwei Aufgaben auf. Was die Vergangenheit anbelangt, so handelt es sich darum, die Ursachen der jetzigen mißlichen Lage zu erkunden und zu ermitteln, ob es aus der Geschichte geeignete Lehren gibt, die helfen, unsere heutigen Probleme zu lösen, und wenn ja, worin sie bestehen.
Und was die Gegenwart anbelangt, so ist eine gründliche Analyse und Einschätzung der gegenwärtigen, in vieler Hinsicht neuartigen Lage erforderlich sowie eine der veränderten Realität entsprechende Strategie, Programmatik und praktische Politik auszuarbeiten. Betrachten wir die Vorgänge in allen vergleichbaren Parteien und Organisationen, die Gewerkschaften eingeschlossen, so läßt sich feststellten, daß sie alle in einem widersprüchlichen Prozeß sich mehr oder weniger intensiv diesen Aufgaben stellen und unter deren unzureichender Klärung leiden.
Unter diesem Gesichtpunkt bietet sich die 80. Wiederkehr des Todestages Wladimir Iljitsch Lenins am 21. Januar dieses Jahres an, aus heutiger Sicht über sein Vermächtnis nachzudenken, das die politische und theoretische Orientierung der internationalen kommunistischen Bewegung seit der Gründung der Komintern bestimmte. In Bezug auf Lenin und sein Vermächtnis stellen sich den sozialistischen und kommunistischen, allen pro-sozialistischen Kräften heute vier Fragen:
- Was unterscheidet die heutige Situation von jener, in der Lenin wirkte?
- Worin besteht Lenins historisches Verdienst?
- Wie gingen Lenins Erben mit seinem Vermächtnis um?
- Und welche Bedeutung besitzen Lenins Werk, sein politisches und theoretisches Erbe für das heutige Selbstverständnis und die heutigen Aufgaben der sozialistischen und kommunistischen Kräfte?
II.
Heute vollziehen sich wie zu Lenins Zeiten tiefgreifende Umbrüche, die heute wie auch damals an die sozialistisch-kommunistischen Kräfte qualitativ neue Anforderungen stellen. Doch offenbaren sich bei diesem Vergleich sofort beträchtliche Unterschiede. Erst wenn wir diese Unterschiede begreifen, können wir auch begreifen, daß die auf Lenin zurückgehende Tradition viele Bruchstellen aufweist und nicht einfach fortgesetzt werden kann. Ein „Zurück zu Lenin“ kann es nicht geben.
Zu Lenins Zeiten begannen die imperialistischen Staaten den Kampf um die Neuverteilung ihrer Einflußsphären im Weltmaßstab, wodurch sie mit dem ersten Weltkrieg in eine existentielle Krise gerieten. In vielen europäischen Ländern entstand eine revolutionäre Situation. Die Arbeiterbewegung befand sich seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in einem großen Aufschwung und gewann beträchtlichen Einfluß, zugleich befand sie sich jedoch in einem Prozeß der Spaltung in eine reformistisch-sozialdemokratische und eine revolutionär-kommunistische Richtung. Beide beeinflußten auf ihre Weise wesentlich die Entwicklungen im 20. Jahrhundert.
Die aus dem Bankrott der II. Internationale hervorgegangene kommunistische Bewegung orientierte auf den revolutionären Sturz des Kapitalismus. Lenin, Liebknecht und andere linke Führer der Internationale verkündeten bereits während des ersten Weltkrieges, daß der Hauptfeind im eigenen Lande steht, nämlich die eigene imperialistische Bourgeoisie.
Am Ende des ersten Weltkrieges siegte unter der Führung der bolschewistischen Partei – der Partei Lenins – in Rußland die Oktoberrevolution, und dies vor allem dank der erfolgreichen Strategie Lenins. Es begann eine neue historische Epoche. In Sowjetrußland begann eine sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft. Im Weltmaßstab standen sich nunmehr Kapitalismus und Sozialismus gegenüber. Und der Sozialismus in Gestalt der UdSSR nahm Einfluß auf die weitere Weltentwicklung, wodurch dem Imperialismus in zunehmendem Maße Grenzen gesetzt wurden. Auch in anderen Ländern – in Deutschland, Österreich, Ungarn, Italien – hatten Revolutionen stattgefunden, die aber scheiterten.
Die Führer der Sozialdemokratie hingegen hatten den Krieg ihrer imperialistischen Bourgeoisie unterstützt. Gegen Kriegsende trugen sie dazu bei, die revolutionären Unruhen abzuwürgen und den Kapitalismus wieder zu stabilisieren. Die Sozialdemokratie entwickelte sich seither de facto zu einer durchaus einflußreichen Kraft, die bestrebt war, den Kapitalismus, ohne ihn zu überwinden, mit sozialistischen Wertvorstellungen zu reformieren und zu transformieren.
Immerhin war es unter dem Einfluß der sozialistischen Umwälzung in der Sowjetunion sowie sozialdemokratischer und kommunistischer Parteien möglich, im Rahmen der kapitalistischen Ordnung beträchtliche soziale und politische Errungenschaften durchzusetzen.
III.
Die heutigen Umbrüche bilden hierzu einen offenkundigen Kontrast, ja eine Umkehrung der Entwicklung. Mit dem Scheitern der sozialistischen Ordnungen in Europa und dem Zerfall der Sowjetunion ist die zu Lenins Zeiten einsetzende Epoche sozialistischer Entwicklung abgebrochen worden. Wir beobachten seit 1989/1990 eine ungehinderte Restauration kapitalistischer Verhältnisse. Unter dem Vorzeichen des Neoliberalismus vollzieht sich eine weitgehende Kommerzialisierung fast aller Lebensbereiche sowie eine weltweite Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums von unten nach oben.
Die USA und ihre Verbündeten erlangten in ökonomischer, politischer, militärischer Hinsicht einen unilateralen dominanten Einfluß auf die Weltentwicklung, ohne ernstzunehmende Gegenkräfte. Krieg ist wieder zu einem bevorzugten Mittel, wieder zur Normalität der Außenpolitik kapitalistischer Staaten geworden.
Idee und Programm des Sozialismus sind durch das Scheitern der sozialistischen Ordnungen in Europa in Mißkredit geraten. Die pro-sozialistischen Kräfte befinden sich in einer historischen Defensive und haben beträchtlich an Einfluß verloren. Sie sind in starkem Maße zersplittert und zerstritten.
Und sie sind mit einem kardinalen Widerspruch konfrontiert, der ihre Politik maßgeblich beeinflußt: Wie nie zuvor wären im Interesse der ganzen Menschheit antikapitalistische, das heißt sozialistische Lösungen notwendig, notwendiger denn je. Diese Notwendigkeit ergibt sich aus den Widersprüchen und Gebrechen des Kapitalismus, aus der gegen die Interessen der Gesellschaft und gegen die natürlichen Existenzbedingungen der Menschheit gerichteten Kapitallogik, aus der ins Chaos treibenden Entwicklungstendenz. Doch steht der Notwendigkeit gegenwärtig die fehlende reale Möglichkeit gegenüber, den Kapitalismus zu überwinden. Denn alle diese Faktoren, die den Sozialismus notwendig machen, bringen nicht automatisch Sozialismus hervor, sondern eher „Barbarei“, worauf schon Engels und auch Rosa Luxemburg hingewiesen hatten.
Sozialistische Politik muß offenbar für eine längere Zeit unter den Bedingungen eines Kapitalismus betrieben werden, der weltbeherrschend geworden ist, dessen Entwicklungspotenzen keineswegs erschöpft sind, der aber fortwährend bedrohliche globale Widersprüche produziert, die die Welt, falls keine Alternative durchgesetzt wird, tatsächlich in ein Chaos, in eine Katastrophe, in die Barbarei stürzen kann.
IV.
Lenin muß man als überragende historische Persönlichkeit verstehen und dabei Schluß damit machen, ihn als eine zeitlose, übermenschliche und stets unfehlbare Ikone zu betrachten. Zugleich muß man ihn vor dem Vorwurf verteidigen, bereits ihm sei es anzulasten, daß die sozialistischen Ordnungen in Europa scheiterten und die kommunistische Bewegung in eine tiefe Krise geriet. Selbstverständlich reflektieren sich in den Ursachen des Scheiterns und der Krise gewisse Grundpositionen Lenins, doch war die Entwicklung nach seinem Tode mehrfach offen für korrigierende Alternativen.
Lenin war wie alle seine Zeitgenossen in den ersten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts mit mehreren Herausforderungen konfrontiert, auf die man ganz unterschiedlich reagieren konnte. Wie er mit diesen Herausforderungen umging, welche Schlußfolgerungen er aus ihnen für die praktische Politik zog, zeichnet ihn als eine der großen Persönlichkeiten aus, die im vergangenen Jahrhundert die Richtung der Weltgeschichte maßgeblich beeinflußten.
Die Verhältnisse im Kapitalismus und die Situation der Arbeiterbewegung hatten sich seit dem Ableben von Marx und Engels beträchtlich verändert, so daß sich Lenin vor die Aufgabe gestellt sah, die Veränderungen zu analysieren und vom Standpunkt der Arbeiterbewegung einzuschätzen. Das war auch zugleich eine Weiterentwicklung der Theorie des Marxismus. Erwähnt seien Lenins Parteitheorie, seine Revolutionstheorie, seine Imperialismustheorie, erste Vorstellungen über eine sozialistische Gesellschaft, sein Konzept einer friedlichen Koexistenz mit der kapitalistischen Umwelt.
Doch galt dieser Leninsche Beitrag zur Entwicklung des Marxismus, namentlich der Revolutionstheorie, der Partei- und Machttheorie, vornehmlich den spezifischen Verhältnissen in Rußland. Diese unterschieden sich erheblich von denen in England, Frankreich, Deutschland, mit denen sich Marx und Engels befaßt hatten. Somit handelte es sich zugleich um eine historisch bedingte Adaption des Marxismus an die spezifischen russischen Verhältnisse. Verhängnisvoll für die kommunistische Bewegung war es, daß in der Folgezeit Lenins Auffassungen undifferenziert in ein allgemeingültiges, für alle Kommunisten verbindliches Theoriegebäude erhoben wurden.
Lenin sah sich wie auch Rosa Luxemburg und andere gezwungen, sich mit der in der II. Internationale dominierenden Revolutionsauffassung auseinanderzusetzen. Dabei ging es vor allem um das Konzept eines ökonomischen Determinismus des Geschichtsprozesses im allgemeinen, der Revolution im besonderen. Dieser Determinismus bedeutete Geringschätzung der Rolle des subjektiven Faktors, namentlich der Partei. Als entscheidende Ursache einer sozialistischen Revolution wurde vereinfacht der Widerspruch zwischen fortschreitenden Produktivkräften und zurückbleibenden Produktionsverhältnissen verstanden. Den revolutionären Kräften kam hierbei eine mehr oder weniger passive Rolle zu.
Demgegenüber begründete Lenin sein Revolutionsverständnis in folgender Weise: Die Revolution ist das Ergebnis vielfältiger ökonomischer, sozialer, politischer und geistig-kultureller Widersprüche. Dem subjektiven Faktor, d. h. der Partei, ihren Verbündeten, den revolutionären Teilen der Arbeiterklasse, kommt in der Vorbereitung und Durchführung der Revolution eine aktive, vorantreibende Rolle zu. Der Aufsatz „Womit beginnen?“ von 1901 nennt als unmittelbare Aufgabe, „eine revolutionäre Organisation schaffen, die fähig ist, alle Kräfte zu vereinigen, die ... die Bewegung tatsächlich leitet, d. h. stets bereit ist, jeden Protest und jeden Ausbruch zu unterstützen und zur Vermehrung und zur Festigung der für den entscheidenden Kampf tauglichen Streitkräfte auszunutzen.“[1]
Ausführlicher setzte sich Lenin sodann mit Ökonomismus und Opportunismus in den Schriften „Was tun? Brennende Fragen unserer Bewegung“ (1902) und „Ein Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück“ (1904) auseinander. Dies betraf die Ablehnung von Spontaneität und Automatismus im revolutionären Kampf und bei der Bewußtseinsbildung. Politisches Klassenbewußtsein müsse von außen in die Arbeiterklasse hineingetragen werden, wie schon Marx und auch Karl Kautsky meinten, da es im ökonomischen Kampf, in der Sphäre der Beziehungen zwischen Arbeitern und Unternehmern in der Produktion nicht entstehe.[2]
Die Revolution war für Lenin kein Willkürakt, kein politisches Abenteuer. Als Voraussetzung des Erfolges der angestrebten Revolution definierte Lenin schon zuvor Elemente einer revolutionären Situation. Dennoch schätzten die Führer der II. Internationale den Sieg der Oktoberrevolution als Willkürakt ein, da er ökonomisch, mangels kapitalistischer Entwicklung in Rußland, nicht determiniert gewesen wäre. Für den revolutionären Flügel der Arbeiterbewegung galt er dagegen als Bestätigung der Leninischen Revolutionstheorie und deren praktischer Anwendung.
Nach der Oktoberrevolution war Lenin mit mehreren praktischen, strategischen und theoretischen Aufgaben gleichzeitig konfrontiert: mit dem Friedensschluß mit Deutschland; mit dem erbitterten Kampf gegen eine starke innere und ausländische Konterrevolution; mit den Erfordernissen des wirtschaftlichen Aufbaus; mit der Schaffung einer sozialistischen Gesellschaft unter sehr ungünstigen, rückständigen, teils barbarischen Bedingungen; mit der Durchführung einer Kulturrevolution; mit den Konsequenzen des Scheiterns der erhofften Revolutionen in Deutschland und in anderen europäischen Ländern, wodurch Sowjetrußland zum Alleingang gezwungen war. Alle diese Faktoren schienen die Etablierung einer sogenannten Entwicklungs- und Erziehungsdiktatur zu rechtfertigen die aber später zur Stalinschen willkürlichen Gewaltherrschaft pervertierte.
V.
Ohne Lenin und die Oktoberrevolution hätte es die nachfolgende kommunistische Bewegung in der gegebenen Gestalt nicht gegeben. Vieles im Denken und Handeln Lenins besaß damals seine Rechtfertigung. Manches davon hat noch heute Bestand, anderes war jedoch lediglich der historischen Situation seiner Zeit und der russischen Spezifik geschuldet war. Keinesfalls dürfen wir die Augen davor verschließen, daß einige Grundpositionen Lenins später verhängnisvolle Wirkungen für die internationale kommunistische Bewegung und die nachfolgenden sozialistischen Länder hatten, weil sie quasi bis zum Schluß als allgemeingültig betrachtet und angewandt wurden.
Das betrifft das hierarchische, zentralistische, teils elitäre Parteiverständnis. In „Was tun?“ trat er für eine Partei aus Berufsrevolutionären ein, „die sich berufsmäßig mit revolutionärer Tätigkeit befassen und in der Kunst des Kampfes ... berufsmäßig geschult sind“[3]. Seiner Meinung nach bedurfte, die Klasse einer politischen Führung durch die Partei, die Partei der Führung durch eine berufsmäßige Führungselite, die an Bewußtheit, Organisiertheit, Kampffähigkeit usw. der Klasse voraus, ihr überlegen ist.
Die Spezifik der bolschewistischen Partei, wie sie Lenin und seine Anhänger in Rußland schufen, ergab sich aus mehreren historisch und national bedingten Faktoren: Aus dem Zwang zur Illegalität unter der zaristischen Herrschaft; aus dem geringen Entwicklungsstand der Arbeiterklasse in Rußland und der Tatsache, daß die Partei nicht organisch von unten nach oben gewachsen war, sondern vorwiegend das organisatorische Werk einer Elite revolutionärer Intellektueller darstellte; aus den russischen revolutionären Traditionen des 19. Jahrhunderts (Dekabristen, Tschernyschewski, Volkstümler). Das Parteikonzept Lenins rief bereits 1904 Einwände Rosa Luxemburgs hervor, die die Gefahr sah, in der Tendenz könnten die demokratischen Prinzipien des Sozialismus zerstört werden. Es sei Ausdruck einer „ultrazentralistischen Richtung“, wodurch die Parteiführung „mit ... absoluten Machtbefugnissen negativen Charakters“ ausgestattet würde, der den „aus ihrem Wesen notwendigerweise entspringende Konservatismus jeder Parteileitung gerade künstlich in gefährlichstem Maße“ potenzieren würde.[4]
Mit revolutionärer Euphorie, in Erwartung der Weltrevolution, zumindest der Revolution in anderen europäischen Ländern, machte Lenin selbst auf dem II. Kongreß 1920 die Anerkennung seines Parteikonzepts zur Bedingung für die Mitgliedschaft in der Komintern: „Die der Kommunistischen Internationale angehörenden Parteien müssen nach dem Prinzip des demokratischen Zentralismus aufgebaut sein. In der gegenwärtigen Epoche des verschärften Bürgerkriegs wird die kommunistische Partei nur dann ihre Pflicht erfüllen können, wenn sie möglichst zentralistisch organisiert ist, wenn in ihr eiserne Disziplin herrscht, und wenn ihr Parteizentrum ein starkes, autoritatives Organ mit weitgehenden Vollmachten ist ... Alle Beschlüsse der Kongresse der Kommunistischen Internationale wie auch die Beschlüsse ihres Exekutivkomitees sind für alle der Kommunistischen Internationale angehörenden Parteien bindend. Die Kommunistische Internationale, die unter Bedingungen des schärfsten Bürgerkriegs tätig ist, muß viel zentralisierter aufgebaut sein als die II. Internationale ...“[5]
Diese Aussage enthält einen verhängnisvollen Widerspruch, indem Lenin selbst den Bezug auf den demokratischen Zentralismus mit den nachfolgenden Forderungen nach einem autoritativen Zentralismus ad absurdum führt.
Damit war zugleich eine Pervertierung des Internationalismus begründet, denn der hierarchische, autoritative Zentralismus wurde für die ganze kommunistischen Bewegung für verbindlich erklärt. Stalin zwang dieses Parteikonzept allen kommunistischen Parteien mit der sogenannten Bolschewisierung auf. Rückblickend muß man konstatieren, daß die damit verbundene Gleichsetzung der Bewegungsformen von Bolschewismus und Kommunismus in der Komintern negative Folgen hatte, da der Bolschewismus nur eine spezifische Form von Kommunismus war. Man kann annehmen, daß Lenin selbst sich dessen einigermaßen bewußt war. Im Frühjahr 1920 konzedierte er, daß einige Grundzüge der russischen Revolution internationale Geltung haben dürften, daß es jedoch ein großer Fehler wäre, „diese Wahrheit zu übertreiben und sie auf mehr als einige Grundzüge unserer Revolution auszudehnen“, zumal Sowjetrußland im Falle von Revolutionen im Westen seine Vorbildwirkung verlieren würde.[6]
Dies berührt auch die Frage nach dem Wesen des Leninismus selbst. Im Unterschied zum Leninismus-Verständnis Stalins kann man wohl zurecht von einem authentischen Leninismus sprechen. Will man definieren, was authentischer Leninismus ist, muß man unterscheiden zwischen dem, was Lenin an noch immer Allgemeingültigem dem Marxismus hinzugefügt hat; was in seiner Zeit historisch bedingt und damals gerechtfertig war, aber von der Geschichte überholt ist; was lediglich eine Adaption des Marxismus an die spezifischen russischen Verhältnisse darstellte und nicht auf andere Verhältnisse übertragbar war; was lediglich in der Tradition der russischen revolutionären Bewegung lag; und schließlich, was schon zu seiner Zeit fragwürdig, umstritten oder gar falsch war (erinnert sei an Rosa Luxemburgs Kritik).
Erwähnt seien einige Beispiele für eine kritikwürdige, destruktive Nachwirkung einiger seiner Grundpositionen: Außer dem zentralistischen Parteikonzept handelte es sich in der Sowjetunion und anderen sozialistischen Ländern um die Verquickung des Partei- und des Staatsapparates, um den Mangel an Demokratismus in der Partei und in der Gesellschaft, um die Verstaatlichung der gesamten Gesellschaft aufgrund der Mißachtung einer Zivilgesellschaft im Sozialismus, um die Ablehnung von Gewaltentrennung im Staate und damit um fehlende demokratische Kontrolle der Machtausübung.
Lenins Machtkonzept war zum Teil nicht nur pragmatisch, sondern auch widersprüchlich. Einerseits folgte er dem Gedanken von Marx, daß die von der Arbeiterklasse auszuübende Diktatur demokratisch sei, weil sie von der Mehrheit in der Gesellschaft getragen sei bzw. im Namen der Mehrheit verwirklicht werde. Andererseits bekannte er, die Diktatur des Proletariats sei „nichts anderes als die durch nichts eingeschränkte, durch keinerlei Gesetze, absolut durch keinerlei Regeln gehemmte, sich unmittelbar auf Gewalt stützende Macht“[7]. Und an anderer Stelle: „Die Diktatur des Proletariats ist der aufopferungsvollste und schonungsloseste Krieg der neuen Klasse gegen den mächtigeren Feind ... .“[8] Diese Ansicht wirkte in allen sozialistischen Ländern als Rechtfertigung von Willkür, Gesetzesverletzungen und Subjektivismus in der Machtausübung.
Im Verlaufe der sowjetischen Entwicklung vollzog sich nach Trotzkis Worten eine Substitution: Aus der Diktatur der Klasse wurde eine Diktatur der Partei und daraus schließlich die Diktatur der Führung. Für Marx hingegen sollte es sich um die Macht der überwiegenden Mehrheit der Gesellschaft, des Proletariats, handeln. Unter diesen Bedingungen verloren die Sowjets als ursprüngliche revolutionär-demokratische Machtorgane ihre Bedeutung. Die ihnen zugedachte Funktion übernahm die Partei.
Die Frage, ob Lenin, der ja bereits 1924, als der eigentliche sozialistische Aufbau noch bevorstand, starb, alle diese theoretischen und praktischen Defizite selbst überwunden hätte, läßt sich natürlich nicht beantworten. Immerhin hat er mit seiner „Neuen ökonomischen Politik“ den Kriegskommunismus abgelöst und offenbar als Vorstufe des sozialistischen Aufbaus eine längere Zwischenetappe vorgesehen.
VI.
Was wurde aus Lenins Vermächtnis nach seinem Tode? Innerhalb der kommunistischen Bewegung, besonders in der Sowjetunion, kam es bekanntlich unter den Schülern und Fortsetzern Lenins zu einem widersprüchlichen Umgang mit seinem Vermächtnis und zu heftigen ideologischen und machtpolitischen Auseinandersetzungen.
Erwähnt seien neben Stalin Trotzki, Bucharin und Sinowjew in der Sowjetunion, Gramsci in Italien, der Lenin-Bund, die Kommunistischen Parteien (Opposition), später Chruschtschow und Gorbatschow usw.
Beschränken möchte ich mich lediglich auf Stalin, der in der Sowjetunion machtpolitisch und ideologisch die Oberhand gewann, seine Gegenspieler ausschaltete, und auf Antonio Gramsci, der den reifsten Beitrag zur Weiterentwicklung des Marxismus nach Lenins Tod leistete.
Stalin trug die Verantwortung dafür, daß sowohl das national wie historisch bedingte Erbe Lenins wie auch dessen Defizite in dogmatischer, undifferenzierter Weise in den Rang einer allgemeingültigen Theorie und Praxis erhoben und als Marxismus-Leninismus definierte wurden.
Unter Stalins Einfluß wurde der Marxismus in nicht geringem Maße zu einer interessengeleiteten Ideologie degradiert, mit dem vorrangigen Zweck, seine praktische Politik mit ihren pragmatischen Wendungen und zum Teil falschen Entscheidungen zu rechtfertigen. Die heutige Krise des überlieferten Marxismus-Leninismus besteht darin, daß er letztlich nur noch begrenzt geeignet war, die Welt so wahrzunehmen, wie sie war und wie sie ist. Die Erneuerung des Marxismus ist deshalb dringend erforderlich.
Für die Beurteilung von Stalins Orientierung bei der Schaffung einer sozialistischen Gesellschaft in der Sowjetunion erweist sich eine Bemerkung zu seiner umstrittenen strategischen Antwort auf Trotzkis Konzept der permanenten Revolution als angebracht. Er entschied sich für den Aufbau des Sozialismus in einem Lande. Es scheint, daß ihm tatsächlich kaum eine andere Wahl blieb. Es ist anzunehmen, daß jeder andere an seiner Stelle sich ähnlich entschieden hätte. Zitiert sei Isaak Deutscher: Für Stalin wäre es „eine ausgemachte Narretei gewesen, den gegebenen und greifbaren ‘Sozialismus in einem Lande’ für das Traumbild einer Weltrevolution zu opfern“[9].
Stalins Fehler und Verbrechen lagen hierbei auf einer anderen Ebene. Unter Mißachtung sozialistischer Prinzipien war er bestrebt, mit barbarischen Mitteln das Land aus der Barbarei heraus und in den Sozialismus hineinzuführen. So berechtigt auch die forcierte Industrialisierung, die Kultur- und Bildungsrevolution, die Kollektivierung der Landwirtschaft usw. für das Überleben des Sozialismus waren, so wenig gibt es einen Grund, die damit einhergehenden Verbrechen zu rechtfertigen. Verhängnisvoll war Stalins These vom sich verschärfenden Klassenkampf im Innern des Landes beim Prozeß des sozialistischen Aufbaus. Diese These galt als Begründung der unermeßlichen Verbrechen, so auch der Ausschaltung der Leninschen Garde als Konkurrenten der Macht. Erinnert sei auch an seine Manie, die Fortschritte bei der Schaffung einer sozialistischen Gesellschaft vor allem daran zu messen, wie es gelang, machtpolitisch, mit Repressionen und gewaltigen Opfern die Produktions- und Eigentumsverhältnisse zu verändern. In diesen Kontext gehört auch der Abbruch der „Neuen ökonomische Politik“ Lenins. Die gewaltsame Kollektivierung liquidierte faktisch die Bauernschaft und zerstörte lebensnotwendige Produktivkräfte. Wie schon erwähnt, vollendete Stalin die Pervertierung des proletarischen Internationalismus vermittels der Durchsetzung eines strengen Zentralismus, der sowjetischen Dominanz über und der Unterordnung der anderen Parteien unter die Staatsinteressen der UdSSR unter Mißbrauch ihrer Solidarität.
Es herrschte in der kommunistischen Bewegung die irrige und naive These von einer absoluten Interessenübereinstimmung aller kommunistischen Parteien mit dem Staat Sowjetunion, mit deren Politik und der Staatsräson der UdSSR, unabhängig davon, ob die außenpolitischen Interessen und Aktivitäten der UdSSR gerechtfertigt waren oder nicht. Besonders tragisch wirkte sich das Ende der 30er Jahre aus, als Stalin zu einer internationalen Machtpolitik mit dem Ziel der Schaffung von Einflußsphären überging, so auf dem Balkan und im Baltikum, und zwar in Abstimmung mit dem faschistischen Deutschland.[10]
Diese Herangehensweise wurde zum Schaden vieler Parteien bis zu Breshnews Zeiten praktiziert. Dadurch konnten diese als „fünfte Kolonne“ einer ausländischen Großmacht diffamiert werden. Alle politischen Fehlentscheidungen in der Außenpolitik und alle kritikwürdigen Vorgänge im Innern der Sowjetunion wurden somit auch ihnen angelastet.
VII.
Vom Gesichtspunkt heutiger Erfordernisse hinsichtlich der Erneuerung der sozialistisch-kommunistischen Bewegung ist es von Nutzen, einige Positionen des damaligen Vorsitzenden der KP Italiens, Antonio Gramsci, zu erwähnen. Gramsci betrachtete sich als Schüler Lenins. Doch entwickelte er nach Lenins Tod dessen Theoriegebäude unter den veränderten Bedingungen der 20er Jahre – korrigierend - weiter. Es ist offenkundig, daß Gramscis Auffassungen ein kommunistisches Gegenmodell zur Leninismus-Interpretation Stalins darstellen. Man kann Gramsci als Bindeglied zwischen Lenin und den gegenwärtigen Erfordernissen der Erneuerung der sozialistischen und kommunistischen Bewegung begreifen.
Noch vor seiner Kerkerhaft schrieb er Anfang Oktober 1926 an das ZK der KPdSU einen Brief, in dem er seine Sorge um die Vorgänge in der Sowjetunion mit seinen Vorstellungen vom Internationalismus zum Ausdruck brachte. Die breiten Massen im Westen, so Gramsci, verstehen nicht die Diskussionen in der KPdSU. Gemeint war die Auseinandersetzung Stalins mit Trotzki. Vor allem die westlichen Parteien wollen in der Sowjetrepublik und der KPdSU einen einheitlichen „Kampftrupp sehen, der für die allgemeine Perspektive des Sozialismus tätig ist. Nur in dem Maße, wie die westeuropäischen Massen Rußland und die russische Partei unter diesem Gesichtspunkt betrachten, akzeptieren sie freiwillig und als eine historisch notwendige Tatsache, daß die Kommunistische Partei der UdSSR die führende Partei der Internationale ist“. Generell werde dadurch der Entwicklungs-, Profilierungs- und Konsolidierungsprozeß der Parteien im Westen erschwert. „Die Funktion, die Ihr ausübt, findet in der ganzen Geschichte des Menschengeschlechts hinsichtlich der Breite und Tiefe nichts Vergleichbares. Heute aber seid Ihr dabei, Euer Werk zu zerstören; Ihr degradiert die Führungsfunktion, die die Kommunistische Partei der UdSSR durch das Engagement Lenins errungen hat, und Ihr geht das Risiko ein, sie ganz zu verlieren. Uns scheint, daß die mit Gewalttätigkeit verbundene Entwicklung der russischen Probleme Euch die internationalen Aspekte eben dieser russischen Probleme aus den Augen verlieren läßt, daß sie Euch vergessen läßt, daß Eure Pflichten als russische Kämpfer nur erfüllt werden können und müssen im Rahmen der Interessen des internationalen Proletariats.“[11] Eine solche Position war mit der faktischen Unterordnung der kommunistischen Parteien unter die spezifischen Interessen der KPdSU und des Sowjetstaates unvereinbar. Wofür Gramsci plädierte, nämlich kritische Solidarität als Element des Internationalismus, wurde in der kommunistischen Bewegung bis zu den UdSSR-Ereignissen 1968 aber rigoros unterdrückt.
Eine weitere grundsätzliche Position Gramscis betraf die Revolutionstheorie, und zwar konkret die Unterscheidung des Charakters einer sozialistischen Revolution in den westlichen Ländern von dem der russischen Revolution. Hierzu notierte er in seinen Gefängnisheften folgendes: „Im Osten war der Staat alles, die zivile Gesellschaft war nicht ausgeprägt ... ; im Westen bestand zwischen dem Staat und der zivilen Gesellschaft ein richtiggehendes Verhältnis, und bei der Erschütterung des Staates offenbarte sich sofort eine robuste Struktur der zivilen Gesellschaft. Der Staat war nur ein vorgeschobener Schützengraben, hinter dem sich eine robuste Kette von Befestigungen und Kasematten verbarg.“[12] Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die entsprechende Feststellung Lenins, daß im Osten die Revolution leichter zu beginnen und der Sozialismus schwerer aufzubauen sei als im Westen.
In Rußland hätte, so Gramsci weiter, es zum Erfolg der Revolution ausgereicht, die zentrale Staatsgewalt wie ein Bollwerk in einem einzigen revolutionären Akt zu erobern. Auf die westlichen Länder wäre diese Vorgehensweise nicht anwendbar. Im Westen dürfe man den Staat vom Standpunkt der Arbeiterbewegung nicht als eine von außen zu belagernde und zu erobernde Festung ansehen, sondern Staat und Gesellschaft müßten von innen heraus auf revolutionäre Weise – keineswegs auf dem Wege eines Staatsstreichs – transformiert werden. Die Eroberung der zentralen Staatsgewalt reiche hierzu – im Unterschied zu Rußland - nicht aus, es gelte, zunächst die Mehrheit der Menschen, also die Hegemonie, zu gewinnen, um so die ganze Gesellschaft revolutionär umzugestalten.
Von Interesse sind besonders zwei Aspekte des Parteiverständnisses Gramscis, das sich ebenfalls grundsätzlich von dem unterschied, das Stalin praktizierte und den anderen Parteien vorschrieb. Wohl eingedenk seiner Kenntnis der sowjetischen Verhältnisse unterschied er hinsichtlich der inneren Parteistruktur zwischen „organischem“, „demokratischem“ und „bürokratischem“ Zentralismus. Der organische Charakter des Zentralismus könne „nur in Gestalt des demokratischen Zentralismus existieren, der sozusagen ein Zentralismus der ‘Bewegung’ ist, was eine ständige Anpassung an die reale Bewegung bedeutet“. Dies müsse verbunden sein mit der Akkumulation immer neuer Erfahrungen. Der Zentralismus sei „organisch“, weil er die Bewegung, das heißt die historischen Veränderungen der Bedingungen berücksichtigen müsse, „was bedeutet, auf organische Weise die historische Realität zu erfassen“.[13]
Der zweite Aspekt betraf das Verhältnis von Partei und Arbeiterklasse, das er im Unterschied zur Praxis in der Sowjetunion und später in den anderen sozialistischen Ländern wie folgt charakterisierte: „Das Prinzip, dem zufolge die Partei die Arbeiterklasse führt, darf nicht in mechanischer Weise interpretiert werden. Man soll nicht glauben, daß die Partei die Arbeiterklasse durch einen von außen kommenden autoritären Anspruch führen könne; sie ist weder für die Zeit, die der Machtergreifung vorausgeht, noch für die Zeit, die ihre folgt, richtig ... Wir behaupten, daß die Fähigkeit zur Führung der Klasse sich nicht aus der Tatsache ergibt, daß sich die Partei als revolutionäres Organ der Klasse ‘proklamiert’, sondern aus der Tatsache, daß es ihr ‘effektiv’ gelingt, als Teil der Arbeiterklasse sich mit allen Sektionen dieser Klasse zu verbinden und den Massen eine Bewegung in der von den objektiven Bedingungen hervorgerufenen und begünstigten Richtung zu geben.“[14]
Einen besonderen Platz im Denken Gramscis nahm sein Hegemonie-Konzept ein, mit dem er entsprechende Auffassungen Lenins auf demokratische Grundlagen stellte. „Eine soziale Gruppe (gemeint ist hierbei auch die Arbeiterklasse, H. N.) kann, ja muß führend sein, bevor sie die Regierungsmacht erobert (dies ist eine der grundsätzlichen Bedingungen für die Eroberung der Macht); danach, wenn sie die Macht ausübt und auch, wenn sie sie fest in den Händen hält, wird sie herrschen, aber sie muß auch weiterhin ‘führend’ bleiben.“[15] Dies liest sich wie eine Ermahnung an die Adresse der KPdSU. Und er schließt nicht aus, daß sich im historischen Prozeß, wie es in den sozialistischen Ländern tatsächlich geschah, „die gesellschaftlichen Gruppen von ihren traditionellen Parteien, ... die sie vertreten oder führen,“ trennen können. Die Parteien „werden von ihrer Klasse oder Klassenfraktion nicht mehr als ihr Ausdruck anerkannt. Wenn diese Krisen eintreten, wird die unmittelbare Situation heikel und gefährlich, weil das Feld frei ist für Gewaltlösungen, für die Aktivität obskurer Mächte, repräsentiert durch die Männer der Vorsehung oder mit Charisma ... Und der Inhalt ist die Hegemoniekrise der führenden Klasse, die entweder eintritt, weil die führende Klasse in irgendeiner großen politischen Unternehmung gescheitert ist, für die sie den Konsens der großen Massen mit Gewalt gefordert oder durchgesetzt hat (wie der Krieg) oder weil breite Massen (besonders von Bauern und intellektuellen Kleinbürgern) urplötzlich von der politischen Passivität zu einer gewissen Aktivität übergegangen und Forderungen stellen, die in ihrer unorganischen Komplexität eine Revolution darstellen. Man spricht von ‚Autoritätskrise’[16], und das eben ist die Hegemoniekrise oder die Krise des Staates in seiner Gesamtheit.“[17]
VIII.
Die auf Lenin zurückgehende und von Stalin modifizierte Traditionslinie in Bezug auf den Sozialismus und die kommunistische Bewegung wurde erst ernstlich – jedoch auf ganz unterschiedliche Weise und mit ganz unterschiedlichen Folgen – von Chruschtschow und Gorbatschow korrigiert.
Chruschtschow hat nach Stalins Tod und dann besonders auf dem XX. Parteitag der KPdSU mit großem persönlichem Mut die Verbrechen Stalins offengelegt und einige von Stalin betriebenen Fehlentwicklungen korrigiert. Darin besteht sein historisches Verdienst. Begründet wurde dies jedoch mehr propagandistisch als realitätskonform als eine Rückkehr zu Lenins Prinzipien und Normen. Aus vielen Gründen blieb dieses Vorhaben unzureichend. In der KPdSU und zum Teil in anderen kommunistischen Parteien gab es einen beträchtlichen Widerstand gegen die Kritik an Stalin. Noch heute sehen orthodoxe Kommunisten in Chruschtschow einen Erzrevisionisten, der den Niedergang des Sozialismus einleitete. Wesentlich für die Grenzen der Enthüllungen war auch, daß er die Verbrechen und Fehler Stalins lediglich auf einen Personenkult zurückführte und die systembedingten Ursachen für die verhängnisvolle Rolle Stalins, wie es Palmiro Togliatti forderte, ignorierte. Hinzu kamen ein Mangel an theoretischer Bildung und an strategischem Denken, ein Hang zur Willkür, zum Voluntarismus und auch wiederum zum autoritären Führungsstil.
Die internationale Bewegung, die durch die Enthüllungen und Korrekturen unmittelbar betroffen war und dadurch einen großen Verlust an politischer Moral erlitt, wurde hinsichtlich des Kurswechsels nicht konsultiert, ja nicht einmal vorher informiert. Sie blieb in traditioneller sowjetischer Weise lediglich Adressat der höchst brisanten Entscheidungen.
Als Gorbatschow das Szepter in der UdSSR übernahm, war eine grundsätzliche Reformierung des sowjetischen Systems in seiner internationalen Dimension längst überfällig. Für Korrekturen schien es bereits zu spät zu sein. Die von ihm zunächst deklarierte Beschleunigung des sozialistischen Aufbaus und die Perestroika begründete auch er ebenfalls mit einer Rückkehr zu Lenin, der jedoch keine Rezepte für die zu lösenden Probleme des realen Sozialismus in den 80er Jahren hinterlassen hatte. Den anstehenden Aufgaben war Gorbatschow offenkundig nicht gewachsen. Er destabilisierte die sowjetische Ordnung, ohne sie mit Reformen auf erforderliche Weise zu stabilisieren. Hinsichtlich der anderen sozialistischen Länder und der kommunistischen Parteien nahm er einen Kurswechsel vor. Lange Jahre zuvor war in Moskau bestimmt worden, wie gedacht werden und welche Politik von den anderen Parteien betrieben werden mußte. Erinnert sei an den sogenannten Prager Frühling von 1968. Und noch, als westliche Parteien mit ihrem Eurokommunismus in den 70er Jahren die KPdSU aufforderten, über ein neues Denken zu diskutieren, erhielten sie eine entschiedene, rechthaberische Abfuhr. Selbst Gorbatschow hatte anfangs der SED- und DDR-Führung untersagt, gegenüber der BRD und gegenüber China eine Politik zu betreiben, die nicht von Moskau ausdrücklich sanktioniert war. Plötzlich hatte er sie im Zuge seiner Perestroika sich selbst überlassen, als seien sie für seine neue Politik nur noch Ballast. Er hatte nicht begriffen, daß die Mißachtung der anderen sozialistischen Länder und kommunistischen Parteien wesentlich dazu beitrug, das Ende der internationalen kommunistischen Bewegung, das Scheitern der sozialistischen Ordnungen in Osteuropa und schließlich das Ende der Sowjetunion zu besiegeln.
IX.
Nach 1989 vollzog sich in Folge des Scheitern der sozialistischen Ordnungen in Europa und des Zerfalls der UdSSR ein Epoche-Umbruch. Alle pro-sozialistischen Kräfte erlitten eine historische Niederlage, die sie vor neue Aufgaben stellt, für die es aus der Vergangenheit keine Rezepte gibt. Wie zu Lenins Zeiten muß fast alles neu durchdacht und konzipiert werden.
Hilfreich ist in methodischer Hinsicht Lenins Herangehensweise: Gründliche Analyse und Einschätzung der veränderten Lage, der kapitalistischen Realität, der Klassenkräfte, der Kräfteverhältnisse, der strategischen Erfordernisse und Möglichkeiten usw.
Alle vergleichbaren Parteien sind in einem widerspruchsvollen, längst nicht abgeschlossenen Prozeß hiermit beschäftigt. Zuweilen dominieren Meinungsverschiedenheit, Ausgrenzungen und Spaltungserscheinungen.
Welche Aufgaben und Probleme sind zu lösen? Ich nenne nur einige Stichworte.
Ausarbeitung der Strategie und Programmatik im Hinblick auf eine neue sozialistische Perspektive:
- Deutlich und überzeugend ist zu begründen, weshalb der Kapitalismus überwunden werden muß, und zwar nicht aus der Theorie, sondern als Lösung der Gegenwartsprobleme.
- Darzulegen ist, worin sich Sozialismus vom Kapitalismus unterscheidet, ohne ein Zukunftsmodell zu konstruieren.
- Entscheidend ist die Bewältigung des Widerspruchs, der in der Tatsache besteht, daß Sozialismus in der Welt dringend notwendig wäre, die dafür erforderlichen Voraussetzungen, vor allem die erforderlichen Kräfte, aber nicht vorhanden sind.
Dies erfordert, das sozialistische Ziel im Sinne einer Alternative zur kapitalistischen Gesellschaft beizubehalten und aktuell den Kampf auf die Verteidigung der sozialen Errungenschaften und auf progressive Reformen auf dem Boden dieser Gesellschaft zu orientieren.
Da es einen Epochebruch im Verhältnis zur Geschichte gibt, geht es um die Erarbeitung einer objektiven und kritischen Einschätzung unserer Geschichte, darunter vor allem um die Klärung der noch immer umstrittenen Frage nach den Ursachen des Scheiterns des realen Sozialismus in Europa, vor allem in der Sowjetunion, und schließlich auch darum, welche Lehren die Geschichte für die Bewältigung der Gegenwartsaufgaben bietet.
Da sich die marxistische Theorie in einer Krise befindet, muß sie einer kritischen Prüfung unterzogen und muß vieles neu definiert werden. Zu klären sind das Parteikonzept, das Selbstverständnis der Partei. Wie muß heute eine Partei verfaßt sein? Im Unterschied zur Vergangenheit existieren Pluralität, Meinungsströmungen, unterschiedliche Plattformen in den Parteien. Die meisten vergleichbaren Parteien sind heute nicht nur plural verfaßt, sondern ihre Stärke und ihr Einfluß besteht sogar in der pluralen Verfaßtheit. Ein Zurück zu einer monolitischen Verfaßtheit ist wohl kaum denkbar, wenn man bestrebt sein will, ein pro-sozialistisches Kräftepotential zu schaffen.
Bei aller Pluralität bedarf es Formen und Prinzipien der Konsensbildung in strategischen und programmatischen Fragen und zum Zwecke einheitlicher Handlungsfähigkeit.
Ein dringend zu lösendes Problem betrifft den Internationalismus unter heutigen Bedingungen. Sozialistische bzw. kommunistische Parteien müssen sich als Teil einer internationalen Bewegung begreifen und programmatische Positionen zur Internationalisierung, zur europäischen Integration, zur Globalisierung erarbeiten und um deren Durchsetzung kämpfen.
Viele der ökonomisch, sozial, politisch, ökologisch und kulturell zu lösenden Aufgaben können nur noch in ihrer internationalen Dimension gelöst werden. Ein historischer Fortschritt ist die Formierung einer europäischen Linkspartei, die mit dem Appell vom 10./11. Januar 2004 in die Wege geleitet wurde.
Welches sind Prinzipien eines neuen Internationalismus im Unterschied zur bisherigen kommunistischen Bewegung? Vor allem plurale Verfaßtheit der internationalen Bewegung bzw. einer gemeinsamen Linkspartei, Gleichberechtigung und Autonomie jeder Partei, demokratische Konsensbildung, Offenheit, kritische Solidarität.
[1] W. I. Lenin, Womit beginnen? In: Werke Bd. 5, S. 8.
[2] Vgl. ders., Was tun? Ebd., S. 436.
[3] Ebenda, S. 48.
[4] Rosa Luxemburg, Organisationsfragen der russischen Sozialdemokratie, in: R. Luxemburg, Gesammelte Werke, Bd. 1, Berlin 1974, S. 433.
[5] W. I. Lenin, Bedingungen für die Aufnahme in die Kommunistische Internationale (1920), in: Werke, Bd. 31, S. 197.
[6] Ders., Der „linke Radikalismus“, die Kinderkrankheit im Kommunismus, in: Werke, Bd. 31., S. 5f.
[7] Ders., Geschichtliches zur Frage der Diktatur (Notizen), in: Werke, Bd. 31, S. 339.
[8] Ders., Der „linke Radikalismus“, a.a.O., S. 29.
[9] Isaak Deutscher, Stalin. Eine politische Biographie, Berlin 1990, S. 507.
[10] Siehe dazu ausführlich aufgrund neuester Quellen: Stalin wollte ein anderes Europa. Moskaus Außenpolitik 1940 bis 1968 und die Folgen. Eine Dokumentation von W. K. Wolkow. Hrsg. H. Neubert, Berlin 2003. (Vgl. auch die Besprechung in Z 55, September 2003, S. 208 ff., Anm. d. Red.)
[11] Antonio Gramsci, in: Scritti politici, Bd. 3, S. 232-238. Deutsch in: Antonio Gramsci – ein vergessener Humanist? Eine Anthologie, Berlin 1991, S. 69-76.
[12] Ders., Quaderni del carcere. A cura di Valentino Gerratana, Bd. II, Turin 1975, S. 866. Die deutsche, ein wenig abweichende Übersetzung in: ders., Gefängnishefte, Bd. 4, S. 874.
[13] Ders., ebd., Heft 13, § 36, in: Gefängnishefte, a.a.O., Bd. 7, S. 1606 f.
[14] So in den von Gramsci redigierten Thesen zum III. Parteitag der KPI 1926, zit. nach: ders., Scritti politici, Bd. 3, a.a.O., S. 297.
[15] Ders., Quaderni del carcere, Bd. III, a.a.O., S. 2010 f.
[16] Im italienischen Original „crisi di autorità“ (Quaderni, Bd. III., a.a.O., S. 1603), was hier wohl soviel wie „Krise der Macht“ bedeutet.
[17] A. Gramsci, Gefängnishefte, a.a.O., Bd. 7, S. 1577 f.