Von der Antike zur Renaissance
Zu den bedeutendsten in der DDR erbrachten philosophischen Leistungen gehört das Werk von Hermann Ley „Geschichte der Aufklärung und des Atheismus”. Erschienen sind zwischen 1966 und 1989 insgesamt neun umfangreiche Bücher. Dem Band 1 folgten die Bände 2 bis 5 jeweils in zwei Teilbänden.[1] Angesichts des Vordringens konservativer philosophischer Strömungen in der Gegenwart, nicht zuletzt auch angesichts der Dominanz der pseudomodernen Theorie der Postmoderne mit ihrer Destruktion des großen philosophischen Erbes der Menschheit, ist das Werk von Hermann Ley, das die philosophischen Leistungen der Vergangenheit in großartiger Weise erschließt, für die Gegenwart und für die Zukunft von anhaltender Bedeutung.
Biographische Vorbemerkung
Hermann Ley wurde am 30. November 1911 in Leipzig geboren. Einer Zahnarztfamilie entstammend, wurde Hermann Ley 1927 Mitglied der SPD. Wenig später wegen Solidarität mit der Sowjetunion aus dieser ausgeschlossen, trat er der KPD bei. Ab 1930 studierte Ley an der Universität Leipzig Naturwissenschaften (Grundrichtung Zahnmedizin). Hier war er Leiter der kommunistischen Studentenfraktion. In der Zeit der faschistischen Herrschaft war Ley wegen illegaler Tätigkeit mehrere Jahre inhaftiert, u. a. im Zuchthaus Waldheim. Nach 1945 war Ley Kultursekretär der KPD bzw. der SED in Leipzig. Bis 1948 war er stellvertretender Chefredakteur der „Leipziger Zeitung”, die auch in den westlichen Besatzungszonen Verbreitung erlangte. 1948 habilitierte sich Ley mit einer Arbeit zu erkenntnistheoretischen Problemen der Begriffsbildung in Ökonomie und Naturwissenschaften. Im gleichen Jahr wurde er als Professor für theoretische Pädagogik an die Universität Leipzig berufen, ab 1950 war er Professor für dialektischen und historischen Materialismus an der Technischen Hochschule Dresden. In dieser Zeit seines Wirkens an der TH Dresden publizierte Ley bereits wichtige Arbeiten zur Philosophiegeschichte, so eine Broschüre zum Avicenna-Jahr und das bedeutende Werk „Studie zur Geschichte des Materialismus im Mittelalter“[2]. 1956 bis 1962 war Hermann Ley Vorsitzender des Staatlichen Rundfunkkomitees der DDR. 1959 übernahm er zugleich den Lehrstuhl für philosophische Fragen der Naturwissenschaften am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 1962 bis 1968 leitete er dieses Institut als Direktor, anschließend bis zu seiner Emeritierung im Jahr 1977 weiter den genannten Lehrstuhl. Auf dem genannten Fachgebiet wirkte Ley in der DDR in höchstem Maße inspirierend. Eine sehr große Zahl von Publikationen zu philosophischen Fragen der Naturwissenschaften und Technik, zu Problemen der materialistischen Dialektik, zur Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Philosophie, besonders auch mit der bürgerlichen Technikphilosophie, wie auch zu philosophiegeschichtlichen Themen entstammten seiner Feder. Darüber hinaus war Ley Betreuer einer großen Anzahl von philosophischen Dissertationen und Habilitationen. Über Jahrzehnte führte Hermann Ley die Arbeit an der „Geschichte der Aufklärung und des Atheismus“ fort. Eine schwere Erkrankung und der Tod am 24. November 1990 verhinderten den Abschluss der auf 6 Bände geplanten Arbeit. Vom letzten, sechsten Band konnte der Autor noch das erste Kapitel im Manuskript fertig stellen.
Grundideen des Gesamtwerks
Hermann Leys „Geschichte der Aufklärung und des Atheismus” ist eine herausragende Leistung marxistischer Philosophiegeschichtsschreibung von internationalem Rang. Die Arbeit umfasst die Geschichte atheistisch orientierten Denkens vom alten China, Indien und in den vorderasiatischen Stromkulturen bis zum Vorabend der Französischen Revolution. Das Werk ist der bürgerlichen Interpretation der Geschichte der Philosophie, die von der Dominanz idealistisch-religiösen Denkens im gesamten Geschichtszeitraum ausgeht, konträr entgegengesetzt. Sie macht das mehr oder weniger breite Vorhandensein materialistisch und atheistisch orientierten Denkens in offener oder verhüllter Form in der Klassengesellschaft als Ausdruck der Kämpfe progressiver sozialer Klassen oder Schichten gegen die bestehenden Unterdrückungsverhältnisse und des Ringens um die wissenschaftliche Erkenntnis der Natur und auch um Einsicht in soziale Zusammenhänge deutlich. Bereits die 1957 veröffentlichte Arbeit des Autors „Studie zur Geschichte des Materialismus im Mittelalter“ hatte gegen die geläufige Konzeption einer homogen idealistisch und religiös geprägten Tradition des Mittelalters veranschaulicht, dass materialistisches und antireligiöses Denken als Interessenausdruck der Volksmassen und der progressivsten Schichten des Städtebürgertums in diesem Zeitraum eine beträchtliche Verbreitung erlangte. Wenn auch hier die materialistischen Positionen gelegentlich einige Überzeichnungen erfuhren, so machte dieses Buch doch den Umfang der weltanschaulichen Opposition gegen die Feudalgesellschaft und ihre Theoretiker deutlich. Bereits diese Arbeit zeugte von der außerordentlich großen Sachkenntnis des Autors.
In der Einleitung zum ersten Band legt der Autor zunächst Grundpositionen seiner philosophiehistorischen Analyse dar. War für den bürgerlichen Atheismus (F. Mauthner) die Kritik an Kirche und Religion letztlich Selbstzweck, so sucht Ley atheistisch orientiertes Denken stets in seiner gesellschaftlichen Bedingtheit, als Interessenausdruck bestimmter sozialer Schichten aufzufassen und es im Kontext des Ringens um die wissenschaftliche Erklärung der Natur und um menschliche Selbstbestimmung zu erklären. Ley verweist auf die Beziehung zwischen Materialismus und Atheismus, die nicht identisch sind. Die Umprägung herrschender Gottesvorstellungen, etwa in der „Ilias“ und der „Odyssee“, geht der Ausbildung materialistischen Denkens voraus, enthält bereits Momente des Atheismus. Die aufkeimende materialistische Philosophie knüpft an die ursprünglichen Elemente des Atheismus an oder ergibt sich aus diesen. Besonders in der vorkapitalistischen Gesellschaft entwickelt sich, solange die Religion herrschende Form des gesellschaftlichen Bewusstseins ist, theoretische Einsicht und Wissen um die sozialen Zusammenhänge zumeist in unterschiedlich geprägter religiöser Form, unter religiösem Vorzeichen. Sozialer Protest unterdrückter Schichten kann sich in vielen Fällen nur so artikulieren. Materialismus tritt bereits in verdeckter Form auf, u. a. in der Form des Pantheismus. Die explizite Vereinigung von Materialismus und Atheismus gelingt wenigstens in der vorbürgerlichen Gesellschaft nur selten.
Einen weiteren Umstand, auf den Ley explizit nicht verweist, muss man hervorheben: Idealismus und Religion sind zwar wesensverwandt, doch ist der philosophische Idealismus zugleich potentiell Entwicklungsform des philosophischen Denkens. Er vermag die Grenzen des vormarxistischen Materialismus, der an einen beschränkten Stand einzelwissenschaftlicher Erkenntnis gebunden war, spekulativ zu überwinden. Er orientiert in anderer Weise selbst auf Innerweltlichkeit, auf wirkliches Wissen, auf rationellen Gehalt. So befestigt der Idealismus Platos einerseits die religiöse Grundüberzeugung, andererseits birgt seine Philosophie einen Fortschritt in der Ausbildung der Dialektik. Der platonische „Timaeus“ enthält bemerkenswerte spekulative naturphilosophische Aussagen. In der Geschichte der Philosophie werden religiöse Grundüberzeugungen verändert, ausgehöhlt, verbinden sich mit wissenschaftlicher Einsicht, oder diese wird wieder selbst als Zugeständnis an die herrschende Ideologie partiell relativiert. Wir finden sehr häufig äußerst komplizierte gedankliche Beziehungsgeflechte vor, deren Entschlüsselung Ley in seiner Arbeit meist hervorragend gelungen ist.
Gewisse Probleme bereitet der Titel der Arbeit. „Aufklärung“ bezieht sich bei Ley auf den gesamten Entwicklungsgang des menschlichen Denkens bis auf Marx, auf Akkumulation von Wissen, zunehmende Naturbeherrschung, auf Orientierung auf Innerweltlichkeit schlechthin. Eigentlich ist aber dieser Begriff auf die weltanschauliche Umbruchsituation des 18. Jh. im Vorfeld der bürgerlichen Revolutionen festgelegt. Bezug nehmend auf diese sprechen wir heute von einer „neuen Aufklärung“, bezogen auf die Notwendigkeit, die innere Mystifikation der kapitalistischen Gesellschaft und die Mechanismen der geistigen Manipulation breiter Schichten des Volks zu erfassen und zu durchschauen, die bürgerlichen Denkhorizonte zu durchbrechen. An der überkommenen Begrifflichkeit sollte unseres Erachtens festgehalten werden.
In seinen einleitenden Bemerkungen geht Ley auf das Wesen der Religion und des Atheismus ein. Gründet sich Religion auf das Unverständnis der Naturwirklichkeit, auf die Furcht vor fremden, undurchschaubaren Naturmächten, auf das Nichtbegreifen der eigenen gesellschaftlichen Beziehungen und dient es als geistiges Bindungsinstrument der herrschenden gegenüber den unterdrückten Klassen und Schichten, so liefert das Aufkeimen der technischen und Naturwissenschaften die notwendige Erkenntnis, um die phantastische Widerspiegelung der Wirklichkeit durch religiös interpretierte Kosmogonien aufzuheben. Die Erfahrung der sozialen Kämpfe führt zum Durchbrechen der religiösen Mystifikationen. Ley betont, dass es keine mechanische Parallelität zwischen dem Verschwinden der Religion, der Entwicklung der Produktivkräfte und des wissenschaftlichen Bewusstseins sowie der Intensität des Klassenkampfes gibt. Der Doppelcharakter der Religion befähigt sie zu Funktionen, die sich widersprechen. Unter dem Vorzeichen der Religion kann gesellschaftsveränderndes Handeln entstehen, können reale Lebensbedürfnisse der Menschen artikuliert werden. Heute zeigt sich dies im besonderen im religiös begründeten Streben nach friedlicher Gestaltung der menschlichen Lebensverhältnisse. Ley geht auf Positionen des theologischen Humanismus ein, wie sie sich u. a. im Wirken des Theologen Karl Barth fanden. Er betrachtete Religion als existentielle Verpflichtung des Menschen vor sich selbst und vor Gott. Der Bezug auf innerweltliche Wirkung erscheint für ihn als gelebtes Bekenntnis. Auch innerhalb des philosophischen Idealismus sind Differenzierungen notwendig. Enthält Kierkegaards Theologie und sein Existentialismus eine Religiosität, die aus der Erzeugung von Angstvorstellungen eine Grundbefindlichkeit macht, die als unaufhebbar erscheint, wenn sie sich auch gegen doktrinäres Christentum wandte, so gehen in den von Ley genannten Existentialismus Gadamers und Bollnows Elemente der Aufklärung ein. Der Autor bemerkt, dass sich in der protestantischen ökumenischen Bewegung wie in den durch das Zweite Vatikanische Konzil ausgelösten Gedanken über das spezifische Anliegen hinausgehende Regungen äußern, die das gemeinsame sittliche Anliegen von Gläubigen und Nichtgläubigen berühren. In unserer Zeit einer gesellschaftlichen Restauration sucht eine konservativ geprägte Religiosität auf’s neue Raum zu gewinnen. Übergreifend ist das gemeinsame Interesse von Gläubigen und Atheisten an der Sicherung der Lebensgrundlagen der Menschheit, an der Bewahrung des Friedens und an der Gestaltung menschenwürdiger Existenzbedingungen für alle Völker dieses Planeten.
Das Begreifen der Progression des menschlichen Denkens und des Ringens um menschliche Selbstbestimmung, der damit verbundenen vielfältigen Kämpfe und Auseinandersetzungen in der Geschichte der Menschheit liefert Inspirationen, um heutige und künftige soziale Kämpfe erfolgreich zu bestehen. Auch für heutiges Geschichtsverständnis ist Leys Werk unverzichtbar.
Frühe Formen materialistisch-atheistischen Denkens
Im ersten Band untersucht Ley zunächst die Ansätze materialistischen und atheistischen Denkens sowie Momente der Gesellschaftskritik im alten China, Indien sowie in den altorientalischen Stromkulturen. Der Hauptteil des ersten Bandes ist dem Vordringen materialistisch-atheistischer Weltanschauung in Griechenland im 5. und 4. Jh. v. u. Z. gewidmet.
Ley zeigt in einer fundierten Analyse, dass mit dem Übergang von den altorientalischen Despotien zur intensiven Sklavenwirtschaft ein gesteigertes Mehrprodukt entsteht, durch das größerer Raum für geistige Tätigkeit möglich wurde. Der enge Kontakt zu den vorderasiatischen Kulturen, die Entwicklung von Handwerk, Schifffahrt und Handel schufen die Bedingungen für rationale Welterklärung, wesentlich frei von mythologischer Überformung. Dies galt besonders für den ionischen Siedlungsstreifen. Zum ersten Mal entwickelte sich klar die soziale Organisation und die Produktionstätigkeit ohne priesterlichen Einfluss.
Ley analysiert die Positionen von Thales, Anaximander und Anaximenes, ihre unterschiedliche Beantwortung der Frage nach dem Urstoff oder Urgrund der Dinge. Er setzt sich hier mit den Ansichten von Werner Jaeger und sich ihm anschließenden Theoretikern auseinander, wonach der Mythos verschwinde, weil Geld als allgemeines Äquivalent entstehe und Musterbild eines Allgemeinen und Abstrakten werde. Allgemeine und abstrakte Kategorien seien nur das extrapolierte Modell der gesellschaftlichen Beziehungen, auf denen die Polis beruhe.[3] Derartige Auffassungen eliminieren den Wahrheitsgehalt des philosophischen Denkens, der auch in seinen frühen Formen enthalten war. Ähnlich versucht Jaeger, etwa bei Anaximander das Überschreiten der Sinnenwelt hin zur Sphäre des Abstrakten mit der phantastischen Spiegelung der Wirklichkeit durch die Religion gleichzusetzen, womit Wissenschaft zu einer Art von Religion werde. In dieser Weise wird auch die Dialektik Heraklits ihrer einzelwissenschaftlichen Gehalte entkleidet. Das Ineinander von urwüchsigem Materialismus und elementarer Dialektik bei den frühgriechischen Philosophen kommt bei Ley treffend zur Geltung. Er erörtert präzise, wie die spontane und zugleich gedanklich tiefe Dialektik Heraklits Vorleistung für philosophisches Denken über Jahrtausende wurde. Der Gedanke von der Einheit und dem Kampf der Gegensätze erlangt bei Heraklit aus der Verallgemeinerung von Natur-, gesellschaftlichen und allgemeinen Lebenserfahrungen eine konzise Form. Auch der Gehalt des Logosbegriffs Heraklits wird untersucht.
Die Lehre des Anaxagoras gehört nach Ley zu dem Ensemble von Werken, das dazu beigetragen hat, griechische Kultur mit dem Athen des Perikles gleichzusetzen. Ley lenkt die besondere Aufmerksamkeit auf den Begriff des Nous als dem Schlüssel zum Verständnis der Einheit des Kosmos. Als das Feinste aller Dinge behalte es gegenüber dem Einzelnen seine Selbständigkeit. Ausführlich behandelt der Autor den Gipfelpunkt des antiken Materialismus bei Leukipp und Demokrit mit ihrer atomistischen Theorie. Die Fernwirkungen ihrer Lehre reichen bis in die Physik der Gegenwart hinein. Der Verfasser verweist auf die Leistung der griechischen Materialisten im Hinblick auf die wissenschaftliche Begriffsbildung. Er erörtert die hier begründete Theorie des materialistischen Sensualismus, die zunächst die Form der so genannten Bildertheorie annahm. Nach Demokrit bewegen sich die Atome aus sich selbst, so dass die Annahme eines ersten Anstoßes, die bei Anaxagoras vorhanden war, entfällt. Ley hebt hervor, dass sich die Naturwissenschaft bis in die Gegenwart an die Anregungen und den Optimismus gehalten habe, die in der Antike gegeben wurden und die sich besonders in ihrer Atomistik manifestierten.
Unverständlich bleibt, warum der Autor die Lehren der Sophisten, die den Menschen selbst zum Gegenstand der Untersuchungen machten und die bedeutende religionskritische Impulse auslösten, weitgehend unberücksichtigt lässt. Bei Plato richtet sich die Aufmerksamkeit Leys im Wesentlichen nur auf die Aspekte, in denen atheistisches Denken diffamiert wird und deren Repräsentanten zum Gegenstand von Verfolgungen werden. Die Relevanz des Begriffsidealismus, der Raum für das Erfassen spezifischer Denkstrukturen geschaffen hat, womit erst das Problemfeld von Gesetzen, Wesen und Erscheinung usw. in das Blickfeld geraten kann, wird nicht beleuchtet. Dies hat aber vermittelt auch Bedeutung für das Begreifen religionskritischer Argumentation. Auch die naturphilosophischen Spekulationen des „Timaeus“ werden nicht behandelt. obwohl seine späteren Umformungen bis auf Schelling wirkten und sich in diesen progressive Ideen manifestierten. Die knappe Erörterung der Lehren des Aristoteles konzentriert sich auf den Antagonismus zu Plato und den „entlegenen Idealismus“ (Lenin) dieses größten griechischen Denkers. Eine Skizze des aristotelischen Gedankengebäudes, besonders der „Metaphysik“, fehlt, womit der spätere Bezug auf linksaristotelische Lehren dem Leser unverständlich bleiben kann.
Ausführlich erörtert Ley die Ansichten Epikurs, den Marx den größten unter den griechischen Aufklärern nannte. Wiederaufnahme des Materialismus und der Atomistik sowie Proklamation einer von Furcht freien hedonistischen Lebensführung seien Kernelemente seiner Weltanschauung. Ley notiert: „Diese konsequent auf das Ausschalten aller übernatürlichen Faktoren gerichtete, insbesondere auch jede beabsichtigte Zwecksetzung eliminierende Naturerklärung beherrscht trotz der als epikureische Theologie gedeuteten esoterischen Empfehlung, Gott als unvergängliches und glückseliges Wesen zu nehmen, die gesamte Weltanschauung.“ (1, 311) Epikurs Lehre von der Deklination der Atome, die Raum nicht nur für das Verständnis der Dialektik von Notwendigkeit und Zufall, sondern vor allem für das Begreifen menschlicher Selbstbestimmung schaffen, wird von Ley allerdings in nicht einsichtiger Weise bereits auf Demokrit vorprojiziert.
Der Auflösungsprozess der griechischen Polis reflektiert sich, wie der Verfasser zeigt, im Besonderen im Stoizismus. Mit ihr verbindet sich das Hervortreten der individuellen Selbständigkeit. Ley verweist auf aufklärerische, atheistische und pantheistische Komponenten der Stoa, obgleich hier die Darstellung nicht umfassend genug ist und es auch an Ausgewogenheit zu mangeln scheint.
Im nachfolgenden Abschnitt „Atheismus und atheistische Skepsis in Rom“ ist der Teil zu Lukrez und seinem Lehrgedicht „De rerum natura“ besonders hervorhebenswert. Dieses erhielt seine Eigenschaft als Katalysator progressiver Gedankengänge über Jahrtausende. Im Anschluss an Epikur gebe Lukrez mit sinnlicher Gestaltungskraft seiner Abneigung gegen den Glauben Ausdruck und entwickele seine materialistische Theorie über die Dinge der Natur und über den Menschen. Die Diesseitigkeit der Weltanschauung des Lukrez birgt einen tiefen Humanismus. Die Erkenntnis mache den Menschen zur freien Persönlichkeit, die nicht im All versinke. Nichts werde aus nichts durch göttliche Schöpfung, alles bilde sich ohne die Hilfe der Götter. Die Naturkausalität erkläre durch ihr bloßes Dasein den Schöpfungsgedanken als Fehlkonstruktion. Nachdrücklich wendet sich Ley gegen eine Theologisierung Lukrez’ und seiner Vorgänger, wobei seinen materialistisch-pantheistischen Auffassungen der Terminus „Religion“ beigegeben wird.
Ausführlich geht der Verfasser auf die weltanschaulichen Positionen Ciceros ein. Cicero vertrete keine idealistische Skepsis, sondern bringe das Äußerste, was aus dem Altertum an konzentrierter atheistischer Propaganda überliefert wurde. Weitere Ausführungen sind u. a. Sallust, Vergil, Horaz und Lukian gewidmet. Von Gewicht sind die Feststellungen Leys zu Alexander von Aphrodisias, der die entelechetischen Formen des Aristoteles stärker in die Materie integriert, womit wesentliche Inspirationen für die sarazenische Philosophie und den europäischen Linksaristotelismus geschaffen werden. Auch die folgenreiche Lehre vom aktiven Intellekt ist mit seinem Namen verbunden.
Von der Gnosis zur sarazenisch-arabischen Philosophie
Der zweite Band behandelt den gesamten Zeitraum vom Niedergang des römischen Weltreichs bis zu den Bauernkriegen. Einige Passagen gehören eigentlich noch zum Umfeld der Antike. Das große Verdienst von Hermann Ley besteht hier darin, dass er entgegen den geläufigen Konzeptionen einer wesentlich religiös geprägten Geistesentwicklung die starken Impulse sozialoppositionellen Denkens, die im Mittelalter vorhanden waren, sichtbar macht und auch seine pantheistischen Gehalte, die auch an den Materialismus heranführen, verdeutlicht. Zweifellos hinterlässt der Zusammenbruch der Sklavenhaltergesellschaft einen tiefen Weltpessimismus, der sich in religiös bestimmter Weltanschauung bei herrschenden und beherrschten Klassen und sozialen Schichten äußert. Zugleich verkörpert der Pantheismus mehr oder weniger eine Absage an die dominierenden pessimistischen Anschauungen des Christentums und bemüht sich um die Aussage, dass der Mensch die Natur beherrschen könne und die gesellschaftlichen Verhältnisse im Interesse der Menschen verändert werden können.
Zunächst diskutiert Ley die Positionen der Gnosis. Ley strebt eine differenzierte Bewertung der Gnosis an, in der auch eine sozialoppositionelle Sichtweise zur Geltung komme. Entschieden wendet sich Ley gegen die Auffassung, wie sie von E. Topitsch vertreten wurde, wonach Gnosis und Eschatologie als Gegenpol zur Wissenschaft seit 600 n. u. Z. eine Tradition metaphysischen Spekulierens begründen, die bis in die deutsche Klassik und Romantik reiche und in Vorwissenschaftlichkeit befangen bleibe. Demgegenüber wird den scholastischen Doktrinen Wissenschaftlichkeit zugeordnet. Besonders geht Ley auf Marcion ein, der das Entstehen der Welt aus dem Nichts bestreitet. Im Gegensatz zu dem rächenden Schöpfergott sei für ihn die Gottheit eine Verkörperung des Guten. Der Flucht zu einem guten Gott entspräche die Abneigung gegen die geschichtliche Realität. Ley vermerkt, dass unter unterentwickelten sozialen Bedingungen auch mythische Vorstellungen äußerster Verworrenheit in bessere Erkenntnis der Wirklichkeit münden können. Bei der Erörterung der Kritik Augustins an der Häresie stellt Ley fest: „Obwohl das Christentum als Religion der Armen und Bedrängten entstanden war, vermochte Augustin, Sklaverei und Unfreiheit den Anschein des Unerheblichen zu geben, über das sich ein gesicherter Heilsweg in Gedanken zu erheben erlaube.“ (2/1, 88) Der Philosophie komme die Aufgabe des Trostes für die Bedrängten und Unterdrückten zu, sie seien die Besseren, denen die Ehre zukomme.
Den Übergang zum europäischen Mittelalter beleuchtet Ley anhand der Auffassungen von Boethius, Dionysius Areopagita und Scotus Eriugena. Für die häretische Tendenz der pseudo-dionysischen Schriften sei maßgebend, dass Religion und Kirche der Vergottung des Menschen dienen sollen. Die Gottheit ist deshalb das Gute. Diese Konzeption ist mit der folgenreichen negativen Dialektik verbunden. Die linke Mystik des Dionysius wirkt der christlich platonischen Abwertung der Materie und des Menschen entgegen. Alles Licht und alle geistige Gnade strahle vom Vater des Lichts auf den Menschen aus. Neuplatonismus schlägt in Pantheismus um. Der Pantheismus des Dionysius führt hier, wie Ley hervorhebt, zu einem materiell aufgefassten Paradies, das nicht jenseitiger Art ist. Als idealistischer Pantheismus und unter Anklang an Plato wird bei Scotus Eriugena die Welt der Ideen zu Gott gemacht. Auf die Quelle des Lichts bezogen, seien Mensch und Realität der vollen Teilhabe versichert, die sich aus der Aufhebung des emanativen Gefälles ergibt. Jeder Einzelne könne die Gottheit in sich fühlen und sich entsprechend verhalten. Ley betont die antidualistische Struktur der scotistischen Philosophie. Scotus gebe sogar gelegentlich an, bei der Beziehung auf den in allem befindlichen Gott handle es sich um die Einheit der Natur. Sie sei als totales Ganzes aufgefasst.
Der Hauptteil des ersten Teils des zweiten Bandes ist der sarazenisch-arabischen Philosophie gewidmet, die auf dem Boden der progressiven Wirtschafts- und Gesellschaftsentwicklung in diesem Kulturraum entstand. Ley macht deutlich, dass sich innerhalb des Islam, unbeschadet aller Separation der Territorien, ein kühner und frondierender, doch das staatliche Leben der bedeutendsten Herrschaftsbereiche bestimmender Humanismus verbreitete. Ley behandelt das Sabäertum, Kindi, Farabi, die Bewegung extremer Häresie bei den Ismailiten. Farabi mache die niedere Welt zur höheren. Die Hinwendung zum Diesseits verweist auf ein Netz von Ursachen in den Einzeldingen, die Gegenstand der Untersuchung werden. Folgerichtig entwickelt er die Theorie eines zum Materialismus neigenden Sensualismus.
Von besonderem Gewicht sind die Ausführungen zu Ibn Sina (Avicenna). Dieser schätze in den Naturwissenschaften das Experiment, er vertrete folgerichtig die selbständige Existenz der Materie und die Gesetzmäßigkeit des Naturwirkens, die Unabhängigkeit des materiellen Geschehens von überirdischen Einflüssen, mithin nehme er die Ewigkeit der Welt an. Ferner wende er sich gegen idealistische und skeptische Gedankengänge, die die Erkennbarkeit der Wirklichkeit bestreiten. Avicenna gebe zu verstehen, dass er die Annahme einer intelligiblen Welt der platonischen Ideen verlasse. Die aristotelische Trennung von Materie und Form verliert ihren zentralen Rang. Die Absage an Plato und Plotin wird dadurch verstärkt. Die Materie besitze in sich selbst schöpferische Kraft und erzeuge ständig neue Formen, wozu es keines äußeren Anstoßes bedürfe. Avicenna verbindet Theorie und Praxis, Denken und Handeln, logisches Folgern und das Wirken aller erfassbaren Erscheinungen der materiellen Wirklichkeit auf den Menschen. Eine übernatürliche Offenbarung sei dazu nicht nötig.
Nach Ausführungen zu Biruni, zu Salomon Ibn Gabirol (Avicebron), Schahrastani, Ibn Tofail behandelt Ley die Ansichten von Ibn Ruschd (Averroes). In ihm erlangt die arabische Philosophie ihren Höhepunkt. Wie er hervorhebt, zeichnet sich Ibn Ruschd durch eine große Folgerichtigkeit bei der Ausschaltung des Dualismus von Materie und Form, von neuplatonischen Elementen und allen religiösen Gedankengängen aus. Die Formen der aristotelisierenden Sprechweise sind Strukturen und Gesetzmäßigkeiten geworden, in der Materie vorhandene Beziehungsgefüge. Die Seele entsteht und vergeht mit dem Körper. Auch der menschliche Intellekt ist ein Produkt der Materie. Er kann sich in jedem menschlichen Individuum entfalten. Ibn Ruschd eignet dem Menschen und seinem Intellekt wie der Materie Ewigkeit an. Damit vernichtet er die theologische Lehre von der Vergeltung und den ewigen Strafen, da keine Einzelseele übrig bleibe, an der die irdische Kirche ihre jenseitige Strafandrohung verwirklichen könnte. Der Averroismus ist, wie Ley im Weiteren eindruckvoll belegt, für die europäische Philosophie des Mittelalters und über diese hinaus von überragender Bedeutung. Es ist Ley ausgezeichnet gelungen, die historisch vorwärtsweisenden Gedankengänge der arabischen Philosophie jener Zeit zu verdeutlichen. Ebenso tritt bei ihm die Differenz dieser Lehren zu den philosophischen Positionen der europäischen Antike und Spätantike hervor.
Abälard, Roger Bacon, die linke Mystik und der Übergang zur Renaissance
Der umfangreiche zweite Halbband des zweiten Bandes setzt mit dem europäischen Neubeginn im Frühfeudalismus ein. Ley verbindet den geistigen Fortschritt in jener Zeit mit der Entwicklung des Städtebürgertums, nicht mit den Klosterschulen. Die erste klassische nominalistische Philosophie besitzt das mittelalterliche Europa, wie Ley hervorhebt, in Roscellin. Dessen bedeutendsten Schüler Abälard widmet Ley eine ausführliche und gut gelungene Untersuchung. Durch Abälard wird der Nominalismus eine „aufklärerische Macht”. Seine theologisch-philosophische Lehre habe eine Wirkung erzeugt, die bis in die Renaissance reicht. Ley notiert zu Abälard: „Nominalismus, Verweisen auf selbständiges Denken und Schließen angesichts der Autoritäten, Konfrontation von Glauben und Wissen zugunsten des letzteren sind die geistigen Grundlagen, die im Neuplatonismus … zu einer häretischen Umfunktionierung hinleiten.”(2/2, 27) Abälard kritisiert die theologischen Dogmen mit den Mitteln des Begriffs und hebt sie in dem ihm eigenen gedanklichen Gebiet auf. Er habe den geistigen Angriffen auf die Kirche die Grundlage einer einheitlichen Weltanschauung gegeben, deren Ausarbeitung sich allerdings erst vorbereitete, ließ der Kirche aber auch Gedanken zufließen, durch die sie sich weiter behaupten konnte.
Im Weiteren geht Ley auf die Lehren der Katharer und Waldenser als Ausdruck der Massenbewegungen der unteren und mittleren Schichten verschiedener Völker im 12. und 13. Jh. ein. Deren Zusammenhang mit der Ideologie des Hussitentums und der Bauernkriege wird indes nicht hinreichend deutlich. Instruktive Studien widmen sich der Schule von Chartres, dem Einfluss von Übersetzungen aus dem Griechischen und Arabischen sowie Almarich von Bena und David von Dinant. Der bei letzteren zutage tretende neue Aristotelismus reflektiert neue Erscheinungen in der Ökonomie der Feudalgesellschaft (erweiterte Ware-Geld-Beziehungen, neue Rolle der Stadt, Arbeitsteilung).
Ausführlich untersucht Ley Roger Bacon und die englische Empiristenschule, von der große Inspirationen auf Naturwissenschaft und Naturphilosophie ausgingen. Ley würdigt Bacon als den „genialsten Kopf Europas“ (2/2, 146) um die Mitte des 12. Jahrhunderts. Detailliert erörtert werden die Auseinandersetzungen, die sich aus den Verurteilungsdekreten des Pariser Episkopats von 1270 und 1277 ergaben. In den verurteilten Lehrsätzen wurde ein Bekenntnis zum Atheismus festgestellt. Urheber der Debatte waren Boethius von Dacien und Siger von Brabant. Ihre Thesen waren das vorläufige Ergebnis der Verschmelzung der eigenständigen europäischen philosophischen Entwicklung und der arabischen Wissenschaften.
Die entgegengesetzten Fronten der Debatte repräsentierten Siger von Brabant und Thomas von Aquino. Der von Siger vertretene lateinische Averroismus barg monistische Tendenzen, während Thomas einen aristotelischen Dualismus rechter Prägung verfocht. An erster Stelle der Angriffe der Kirche stand die Lehre vom aktiven Intellekt, mit der die Idee der Gleichberechtigung aller Schichten des Volks entgegen der Hierarchie der Feudalordnung verfochten wurde und die allen Menschen das Bewusstsein diesseitiger schöpferischer Kraft verlieh. Der Verfasser veranschaulicht überzeugend, dass sich in Siger von Brabant der Aufstieg der neuen Welt und das ganze Lager des Antifeudalismus und der Heterodoxie gegen die kirchliche Reaktion verkörperten. Ley zeigt, wie bei Siger von Brabant aus der Ablehnung einzelner sinnwidriger Gedankengänge kirchlicher Dogmen die philosophische Lehre wird, dass die Welt aus sich selbst besteht, ihre eigene Zeugungskraft unerschöpflich ist und es vom Menschen abhängt, wie er sich in ihr einrichtet.
Gegen Siger brachte die kirchliche Reaktion mit der thomistischen Doktrin ihre Ideologie in eine Form, an der sie bis in die Gegenwart festhält. Ley beleuchtet hier in eindrucksvoller Weise den Kampf der philosophischen Grundrichtungen im 13. Jh. und seine fortwährende Aktualität. Eingehend würdigt Ley Duns Scotus und dessen heterodoxen Kodex. Karl Marx zufolge zwang Duns Scotus die Theologie, den Materialismus zu predigen. Nach Ley bleibt in den überlieferten atheistischen Sentenzen von Duns Scotus kein Raum für den Glauben. Bei ihm finde sich in subtiler und eindringlicher Form eine philosophische Darstellung innerweltlicher Realität, wie sie sich in kaum einer anderen Schrift der damaligen Zeit nachweisen lässt. Bei Duns Scotus werde versucht, in die philosophische Sprache und Doktrin eine schöpferisch blühende Materie als Grundlage des philosophischen Denkens einzuführen.
Von besonderer Bedeutung sind die Ausführungen zu Meister Eckhart, den Ley bereits in seiner „Studie zur Geschichte des Materialismus im Mittelalter” umfassend behandelt hat. Meister Eckhart akkumuliere den rationalen Gehalt linker Mystik. Innerhalb des Neuplatonismus erfolge eine Umfunktionierung der Materie und des sozialen Handelns. Kennzeichen der linken Mystik sei die Gottförmigkeit, worunter die Demokratisierung des Himmels verstanden wird. Der einfache Mensch verfüge auf Grund seiner Natur über die höchsten denkmöglichen Fähigkeiten. Die Unerschaffbarkeit des Erkennens sei mit der Ewigkeit des Intellekts identisch. Eckhart artikuliert die Sterblichkeit der Einzelseele und die Würde der menschlichen Persönlichkeit. Gott sei das Sein in der Fülle, von der alle empfangen und borgen, an der sie teilhaben und teilnehmen, aber sein Ort ist überall und nirgends. Als das eine und umfassende Sein besitzt er weder Mängel noch Fehler. Die Gottförmigkeit des Menschen hat, wie Ley hervorhebt, vor allem gesellschaftliche Bedeutung. Es ist die mittelalterliche Formulierung einer Art naturrechtlicher Gleichheit des Menschen. Eckhart vollzieht eine theoretische Rehabilitierung des Menschen und seines Verstandes. Der Unterschied von kirchlichen Laien und Klerus ist mit diesem Ausbau der negativen Theologie praktisch verschwunden. Gesicherte Erkenntnis könne im Grunde nur von den Ungelehrten und Armen erworben werden.[4]
Im Weiteren analysiert Ley die Positionen des politischen Averroismus an Hand der Auffassungen von Marsilius von Padua und Johannes von Jandun. Bei ihnen wird die Lehre vom aktiven Intellekt ins Politische gewendet. Daran schließen sich Erörterungen zu Wilhelm von Ockham an. Mit John Ball und Wat Tyler behandelt Ley im Folgenden die Ideologie des englischen Bauernaufstandes. Bei ihnen wird aus der Gleichheit der Menschen ohne Bezug auf Gott die Berechtigung praktischer revolutionärer Aktionen abgeleitet. Einem Abschnitt zu Wiclif folgt ein Kapitel zur Hussitenbewegung und ihrer Ideologie, die leider wichtige vorhandene Literatur unberücksichtigt lässt.
In dem folgenden Hauptabschnitt des zweiten Bandes behandelt Ley den Übergang zur Renaissance. Von bedeutendem Gewicht sind die Ausführungen zu Nikolaus von Kues, der sich von der linken Mystik, so von Eckhart, inspirieren ließ, ferner durch David von Dinant und durch die Philosophie Wilhelm von Ockhams wesentlich angeregt wurde. Die averroistische Tradition ist für ihn wichtiger Bezugspunkt. Toleranzgedanke und Humanitätsidee sind für Kues Wesenselemente seiner Weltanschauung. Ley würdigt seine Ideen auf naturwissenschaftlichem Gebiet, mit denen er zu einem Vorläufer des Kopernikus wurde, und besonders seine Leistungen auf dem Gebiet der Dialektik. Ley notiert: „Der kusanische Pantheismus steigert die Heterodoxie des aktiven Intellekts zu einer Unifizierung des Seins, zu einem dialektischen Monismus. Die monistische Perspektive enthält das posse fieri, das der Wirklichkeit weder vorausgeht noch nachfolgt. Einer echten Entwicklung ist Raum gegeben. Die Setzung eines erschaffenen, von seinem Urheber unterschiedenen Universums sei bloßer Sprachgebrauch.” (2/2, 423) Hoch würdigt Ley Kues’ Position zur Stellung des Menschen im Zusammenhang des Kosmos, wobei dieser an Eckharts Auffassung von der deificatio anknüpft. In seiner individuellen Tätigkeit erfährt der Mensch, dass er gottgleich, gleichsam ein zweiter Gott ist.
Im Weiteren behandelt Ley die Schule von Padua und ihr Wirken, ferner die Staatstheorie von Niccolo Machiavelli. Erörterungen zur Renaissance in Italien, zum Alexandrinertum und zu Abravanels Antikritik und Erasmus von Rotterdam schließen sich an. Hervorzuheben sind Leys Feststellungen zur Leistung und Grenze der italienischen Renaissance: „Die italienische Renaissance hat ein progressives Denken, das teilweise hinter Siger, Boethius von Dacien und Averroes zurückbleibt. Der heterodox interpretierte Aristoteles aber gebiert theoretisch gegen die herrschende idealistische Scholastik schließlich das Experiment, die mathematische Physik und die wissenschaftliche Technik.” (2/2, 512) Die bereits radikal verweltlichte Aufklärung des Atheismus eines Siger von Brabant trete bis in den englischen und französischen Materialismus zurück. Averroistisches und areopagitisch-neuplatonisches Denken verschmelzen, bleiben gesondert bestehen, entfalten sich in Zweige, die sich durch Eckhart, Duns Scotus, Ockham, später mit Soner und Ruarus bezeichnen lassen.
Einer Erörterung der Dunkelmännerbriefe schließt sich eine ausführliche Abhandlung über die Entwicklung der theologischen Positionen Martin Luthers bis 1525 an, der am Anfang des eigentlich bürgerlichen Selbstverständnisses steht. Die Strukturen reformatorischen Denkens werden eingehend erörtert. Das Einbeziehen der Reformation zeugt von der Breite der Konzeption Leys. Menschliches Selbstverständnis und menschliche Selbstvergewisserung in der Sicht Luthers sind für Ley wichtige Indikatoren progressiver Gedankenentwicklung. Mit der lutherischen Reformation, deren gesellschaftsumwälzende Dimension Ley verdeutlicht, gewinnt das Individuum eine qualitativ neue Stellung im Geschichtszusammenhang. Das Selbstvertrauen des Menschen, seine innere Befindlichkeit werden bestimmende Komponenten. Ley betont: Nach Luther soll sich die Existenz des Gläubigen auf die Selbstverwirklichung im Leben richten. Sie sei nicht von außen auferlegt, nicht Sache Gottes, sondern des Menschen. Luthers Intention gehe auf eine Verbesserung des Menschen, dessen Natur nicht als unveränderlich, aber ebenso wenig als unabhängig von dem sie bedrängenden Geschehen aufgefasst ist. Die Reformation gestatte durchzusetzen, was das Individuum der Renaissance und die Strömung des Humanismus nicht vollenden. Der Luther des reformatorischen Anfangs sei gesteigerte Renaissance und praktischer Humanismus. „In der tiefen Entfremdung einer in ihren Ergebnissen unergründlichen Welt beharrt Luther auf der menschlichen Arbeit und erkennt ihre Rationalität.” (2/2, 656) Abschnitte über reformatorische Kunstströmungen und über Thomas Müntzer beschließen den zweiten Band.
(Teil II folgt in Z 82, Juni 2010)
[1] Bd. 1, Berlin 1966, 569 S.; Bd. 2/1, 1970, 391 S.; Bd. 2/2, 1971, 823 S.; Bd. 3/1, 1978, 632 S.; Bd. 3/2, 1980, 677 S.; Bd. 4/1, 1982, 518 S.; Bd. 4/2, 1984, 540 S.; Bd. 5/1, 1986, 712 S.; Bd. 5/2, 1989, 573 S.
[2] Berlin 1957.
[3] Eine ähnliche Auffassung vertritt heute R. Wahsner, die den Naturbegriff der frühen griechischen Antike direkt aus der Entstehung der Beziehungen von Warenproduzenten ableitet. Vgl. R. Wahsner, „Die Materie der Erkenntnis kann nicht gedichtet werden“, in: Z 77 (März 2009), S. 146 f.
[4] Im Vorfeld der Fichte-Jubiläen 2012 und 2014 wäre es sicher von Interesse, die Aufnahme Eckhartscher Impulse in den Spätfassungen der Wissenschaftslehre Johann Gottlieb Fichtes unter dem Gesichtspunkt der Langzeitwirkung sozialoppositionellen Denkens in der deutschen Philosophieentwicklung näher zu untersuchen.