„Die wahrhafte Widerlegung muß in die Kraft des Gegners eingehen und sich in den Umkreis seiner Stärke stellen; ihn außerhalb seiner selbst anzugreifen und da Recht zu behalten, wo er nicht ist, fördert die Sache nicht.“ (G. W. F. Hegel)[1]
Renate Wahsner wirft im Heft 77 dieser Zeitschrift[2] Hans Heinz Holz vor, die von ihr in Anlehnung an Kants Transzendentalphilosophie formulierten grundlegenden Anforderungen an eine moderne dialektisch-materialistische Philosophie nicht zu beachten: „Gegen die These, daß die Gesamtheit aller möglichen Erfahrungen niemals Gegenstand wirklicher Erfahrung ist, gibt es das Argument, daß das Gegebene ja immer schon das Gegebene eines Gesamtzusammenhangs ist, wir das Ganze nicht erst basteln müssen, sondern uns nur eines je bestimmt zugrunde liegenden Ganzen philosophisch innewerden müssen. Dies ist wohl wahr. Aber das Innewerden ist echte Arbeit, erfordert mithin Kreativität, nicht nur Widerspiegelung. Daß wir und das, was uns ‚gegeben’ ist, stets in einen Gesamtzusammenhang stehen, aus dem wir gar nicht herauskönnen, heißt nicht, daß wir ihn stets schon erkannt haben, er uns im Sinne von ‚allseitig bestimmt’, ‚uns voll bewußt’ gegeben ist. Es ist gerade unsere Arbeit, diesen vorhandenen Gesamtzusammenhang zu erkennen. Erfinden oder dichten dürfen wir ihn nicht.“ (S. 149)
Für Wahsner und Holz ist es unstrittig, dass es eine Theorie des Gesamtzusammenhangs gibt, also eine Philosophie, die die Welt als Einheit begreift. Der Streit geht wesentlich darum, wie man zu einer solchen Theorie gelangt und welche Einheit darin zustande kommt: Was ist dieses Innewerden? Ist es „kreatives Arbeiten“, wodurch wir das Ganze für uns gedanklich konstruieren, oder „dichten“ wir uns nur per Widerspiegelung eine Theorie über das Ganze, wie Wahsner Holz unterstellt? Trifft Wahsner mit dieser Kritik die von Holz entwickelte Widerspiegelungstheorie? Diesen Fragen ist nachzugehen.
Übereinstimmung und Gegensatz beider philosophischer Konzepte
Für Holz ist eine dialektisch-materialistische Theorie des Gesamtzusammenhangs identisch mit einem Modell desselben. Bereits 1987 schreibt er über den Modellcharakter der Philosophie: „Die Rede, daß ein metaphysisches (dialektisches; A. H.) Modell eine transempirische Wirklichkeit abbilde, kann nicht rein eigentlich gemeint sein. Das würde nämlich bedeuten, daß diese Wirklichkeit Stück um Stück, Zug um Zug, wenn auch in verkleinertem Maßstab und unter Vergröberung ihrer Binnenstruktur, von dem Modell wiedergegeben, im Modell reproduziert wäre. In diesem Sinne sprechen wir etwa von einem Schiffsmodell oder von einer Modelleisenbahn; ein Mensch kann Modellbauer sein und setzt dann seinen Ehrgeiz darein, das Vorbild, nach dem er sein Modell baut, möglichst getreu abzubilden. Gerade so verhält es sich nicht mit einem metaphysischen Modell, denn die transempirische Wirklichkeit ist ja als abzubildendes Vorbild nicht erfahrbar, das metaphysische Modell kann also seinem Wesen nach nicht ‚getreu’ sein.“[3] Den Gesamtzusammenhang, in dem wir leben, können wir uns gedanklich nicht basteln, denn es fehlt uns ein Vorbild, nach dem wir das Modell nachbauen könnten. Es fehlt, weil der Gesamtzusammenhang nicht erfahrbar ist. Holzens Überlegung kann daher geradezu als Bestätigung des Wahsnerschen Vorwurfs gelesen werden, Holz setze wegen dessen Unerfahrbarkeit einfach einen Gesamtzusammenhang. Man kann aber ebenso Holzens Überlegung als Bestätigung der Wahsnerschen Kritik nehmen: Eine Theorie des Gesamtzusammenhangs ist nicht einfach eine unmittelbare Übertragung des Realganzen in das philosophische Denken. Und zwar kritisiert Holz ein solches Vorgehen für eine dialektisch-materialistische Philosophie, indem er dieselben Argumente entwickelt wie Wahsner: Die Welt als ganze sei kein Erfahrungsgegenstand und die Philosophie könne „niemals die Ansichbeschaffenheit der Welt wiedergeben, (…) Objektivität nicht absolute Subjektunabhängigkeit bedeuten. (…) Eine Identität von Objektivität und Ansichsein der Welt ist nicht möglich.“ (S. 144) Um eben genau dieser Kritik zu genügen, ist der Dialektische Materialismus bei Holz ein Modell des Weltganzen. Einen hier noch nicht genauer bestimmten Anteil am Erfassen des Weltganzen als solchem hat das Erkenntnissubjekt auch in Holzens Widerspiegelungstheorie.
Aber auch den umgekehrten Fall des Sprechens von einem Modell, in dem das Subjekt der uneingeschränkte Gestalter des Modells des Gesamtzusammenhangs ist, wehrt Holz für eine präzise Bestimmung des Modellcharakters von Philosophie als Theorie des Gesamtzusammenhangs ab: „Rein uneigentlich sprechen wir dagegen (von einem Modell; A. H.), wenn wir sagen, daß die Zeusstatue des Phidias den Gott abbilde, ein Abbild des Zeus sei; (…) auch die Griechen sprachen rein uneigentlich, weil Zeus weder von einem Menschen geschaut noch als in menschlicher oder irgendeiner Gestalt abzubilden gedacht werden konnte, ohne daß sein wesentliches Anderssein als Gott, das heißt also so und so vielgestaltig vom Mythos beschriebener Gott, vernachlässigt worden wäre. Das Schiffsmodell ist das Schiff, wenn auch verkleinert. Die Statue meint den Zeus, wenn auch ganz anders.“[4] Das Weltganze ist, wie der griechische Gott Zeus, auch nach dieser Modellvorstellung nicht empirisch gegeben; es kann nur gedacht werden. Insofern könnte auch hier Wahsners Vorwurf des bloßen Setzens eines Gedankens von einem Gesamtzusammenhang Recht gegeben werden, wonach Holz ein Modell des Gesamtzusammenhangs denkt, wie Phidias die Zeusstatue aus dem Marmor haut. Doch dann kann man nicht sagen, dass dieses Modell das Weltganze ist; man kann lediglich sagen, es meint das Weltganze, was es an sich ist, wisse man nicht. Dem könnte Wahsner wiederum zustimmen, denn in ihrer Argumentation gegen Holz schreibt sie: „Erfinden oder dichten dürfen wir ihn (den Gegenstand; A. H.) nicht.“ (S. 149) „Der Gegenstand (…) muß nach Kant auf irgendeiner Weise gegeben werden können, wenn eine Erkenntnis objektive Realität haben, sich also auf einen Gegenstand beziehen und Bedeutung und Sinn haben soll. Das Dasein kann man nicht logisch deduzieren. Andernfalls wären die Begriffe leer, und man hätte zwar gedacht, in der Tat aber durch dieses Denken nichts erkannt, sondern bloß mit Vorstellungen gespielt.“ (S. 139) Eine Theorie des Gesamtzusammenhangs, die ausschließlich auf der Leistung eines Erkenntnissubjekts basiert, wird einem dialektisch-materialistischen Konzept vom Weltganzen nicht gerecht. Dies ist auch Holzens Position. Irgendeinen hier noch nicht genauer bestimmten Anteil am Erfassen des Weltganzen als solchem hat die Wirklichkeit auch in Holzens Widerspiegelungstheorie.
Das dialektisch-materialistische Modell, so Holz in einem dritten Anlauf, „hält sich genau zwischen beiden Weisen des Darstellens oder Abbildens. Es ist – in einem viel emphatischeren Sinne als das Schiffsmodell – das, was es darstellt; denn erst das Modell macht die transempirische Wirklichkeit zu dem, was sie ist – außerhalb der Modellvorstellung ist sie ganz und gar unbestimmbar. Aber es meint ja etwas außer ihm Seiendes, das ganz anders ist als es selbst.“[5] In der Philosophie erscheint überhaupt erst die Totalität, die z. B. ein Gott oder eine Idee sein kann (weshalb sie Idealismus genannt wird), die aber auch Sein oder Welt sein kann (weshalb von Materialismus die Rede ist). Dass die Welt eine Einheit ist, als Zusammenhang ihrer Vielfalt existiert und eben nicht allein als unendliche Vielfalt von Seienden bzw. als Regionalzusammenhänge von Seienden, das zeigt sich ausschließlich im philosophischen Modell. „Insofern drücken metaphysische Modelle zwar die Totalität aus, aber so, daß sie das Ausgedrückte nicht als Eindruck zuvor aufnehmen, sondern es im Ausdrücken erzeugen.“[6] „Das Modell ist zugleich auf eigentliche und uneigentliche Weise Abbild seines Gegenstandes, es hält sich zugleich in der Identität und in der Andersheit von Sein und Bedeutung, und weil eben zugleich das eine wie das andere gilt, gilt weder das eine noch das andere rein.“[7] Ja, wir Menschen bilden den Gesamtzusammenhang nach, indem wir wie der Modellbauer eine Theorie vom Weltganzen Stück für Stück, Zug um Zug konstruieren. Ja, wir Menschen schaffen uns ein Vorbild, von dem wir wie beim Gestalten einer Zeusstatue meinen, dass es das Weltganze sei. Beides tun wir nicht mit zwei unterschiedlichen Denkmethoden (etwa entweder analytisch oder synthetisch), sondern wir Menschen tun dies auf eine Art, in der beide Weisen, den Gesamtzusammenhang zu denken, in eine Methode zusammenfallen: Diese Denkungsart ist vorbildend und nachbildend zugleich: „Der metaphysische Modellbegriff oszilliert mit Notwendigkeit zwischen der Bedeutung von Vorbild (…) und Nachbildung (…).“[8]
Bei diesen Gedanken schrillen bei Wahsner alle Alarmglocken. Für sie ist das keine Philosophie, nicht einmal mehr Metaphysik; für sie wird das Weltganze von Holz darum bloß gesetzt: „Wem die Begründung eines materialistischen Systems kein Problem ist, wer eine ‚natürliche Welteinstellung zugrunde legt’, der sollte nicht Philosophie betreiben.“ (S. 156) Doch kann sie, um Holzens Widerspiegelungstheorem substanziell zu kritisieren, so argumentieren? Es ergibt sich in der Auseinandersetzung mit Wahsners Positionen gegen Holz folgende Situation: Wahsner wirft Holz vor, er berücksichtige nicht das Erkenntnissubjekt. Holz entgegnet diesem Vorwurf, indem er – siehe Modellvorstellung Nr. 1 – feststellt, dass ohne Arbeit des Subjekts ein philosophisches Modell des Weltganzen bloß der (stets scheiternde) Versuch einer 1:1-Abbildung des Weltganzen sei. In der Argumentation gehen hier also beide konform. Wahsner wirft Holz zweitens vor, dass seine Theorie des Gesamtzusammenhangs bloßes subjektives Konstruieren sei. Holz wehrt dies ab, indem er offenlegt, dass ein reines Konstruieren des Weltganzen, wie man darüber spekuliert, wie Zeus aussehe, nicht den Charakter des Modells entschlüsselt. Auch hier argumentieren beide gleich.
Wie aber ist es mit dem dritten Fall, des Sowohl-Vorbildens-als-auch-Nachbildens? Diesen kennt Wahsner nicht; sie tut so, als wäre das von Holz vorgeschlagene Modell eine simple Setzung wie beim Naturvolk der Crew-Indianer, bei denen jedes Stammesmitglied wusste, dass es selbst eine Krähe und die Erschafferin der Welt eine „Urkrähe“ ist. Wie immer man zu Holzens Theorie steht, Wahsners komplett an der theoretischen Problematik vorbeigehende Kritik sollte jedenfalls aufmerksam machen. – Was ist nun dieses Holz vorschwebende Modell, das vom Erkenntnissubjekt gesetzt und zugleich von der Welt vorgegeben wird?
Philosophie als Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs
Sein Modell des Weltganzen entwickelt Holz eng an Friedrich Engels’ Überlegungen zu einer „Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs“ (MEW 20/307) und der Abgrenzung derselben von einer „Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang“. Die modernen Naturwissenschaften haben, so Engels, Erkenntnisse über den Zusammenhang der Welt erbracht: „Erstens die Entdeckung der Zelle als der Einheit, aus deren Vervielfältigung und Differenzierung der ganze pflanzliche und tierische Körper sich entwickelt, so daß nicht nur die Entwicklung und das Wachstum aller höheren Organismen als nach einem einzigen allgemeinen Gesetz vor sich gehend erkannt, sondern auch in der Veränderungsfähigkeit der Zelle der Weg gezeigt ist, auf dem Organismen ihre Art verändern und damit eine mehr als individuelle Entwicklung durchmachen können. – Zweitens die Verwandlung der Energie, die uns alle zunächst in der anorganischen Natur wirksamen sogenannten Kräfte, die mechanische Kraft und ihre Ergänzung, die sogenannte potentielle Energie, Wärme, Strahlung (Licht, resp. strahlende Wärme), Elektrizität, Magnetismus, chemische Energie, als verschiedene Erscheinungsformen der universellen Bewegung nachgewiesen hat, die in bestimmten Maßverhältnissen die eine in die andere übergehn, so daß für die Menge der einen, die verschwindet, eine bestimmte Menge einer andern wiedererscheint und so daß die ganze Bewegung der Natur sich auf diesen unaufhörlichen Prozeß der Verwandlung aus einer Form in die andre reduziert. – Endlich der zuerst von Darwin im Zusammenhang entwickelte Nachweis, daß der heute uns umgebende Bestand organischer Naturprodukte, die Menschen eingeschlossen, das Erzeugnis eines langen Entwicklungsprozesses aus wenigen ursprünglich einzelligen Keimen ist und diese wieder aus, auf chemischem Weg entstandenem, Protoplasma oder Eiweiß hervorgegangen sind.“ (MEW 21/294 f.) Die Entdeckung der Zelle, die Erforschung der Thermodynamik und das Verständnis der Natur als Evolution verändern den Charakter der Erfahrungswissenschaften.
„Dank diesen drei großen Entdeckungen und den übrigen gewaltigen Fortschritten der Naturwissenschaft sind wir jetzt so weit, den Zusammenhang zwischen den Vorgängen in der Natur nicht nur auf den einzelnen Gebieten, sondern auch den der einzelnen Gebiete unter sich im ganzen und großen nachweisen und so ein übersichtliches Bild des Naturzusammenhangs in annähernd systematischer Form, vermittelst der durch die empirische Naturwissenschaft selbst gelieferten Tatsachen darstellen zu können.“ (MEW 21/295) Die Erfahrungswissenschaften sind nun selbst in der Lage, ihr jeweiliges Forschungsgebiet inhaltlich zu systematisieren und es in einen systematischen Zusammenhang mit den anderen Forschungsgebieten zu bringen. Als philosophische Disziplin fällt also die Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang weg: „Dies Gesamtbild zu liefern, war früher die Aufgabe der sogenannten Naturphilosophie. Sie konnte dies nur, indem sie die noch unbekannten wirklichen Zusammenhänge durch ideelle, phantastische ersetzte, die fehlenden Tatsachen durch Gedankenbilder ergänzte, die wirklichen Lücken in der bloßen Einbildung ausfüllte. (…) Heute, wo man die Resultate der Naturforschung nur dialektisch, d. h. im Sinn ihres eignen Zusammenhangs aufzufassen braucht, um zu einem für unsere Zeit genügenden ‚System der Natur’ zu kommen, wo der dialektische Charakter dieses Zusammenhangs sich sogar den metaphysisch geschulten Köpfen der Naturforscher gegen ihren Willen aufzwingt, heute ist die Naturphilosophie endgültig beseitigt. Jeder Versuch ihrer Wiederbelebung wäre nicht nur überflüssig, er wäre ein Rückschritt.“ (ebd.) Holz stellt 1986 hierzu fest: „Damit wird die Naturphilosophie alten Stils (…) im eigentlichen Sinne gegenstandslos: Der Gesamtzusammenhang ist kein Gegenstand einer eigenen, besonderen Disziplin mehr.“[9] Die empirischen Wissenschaften erweitern daher ihren Wirkungskreis und drängen die Philosophie zurück.
Philosophie fällt damit für Engels nicht weg: „Sobald an jede einzelne Wissenschaft die Forderung herantritt, über ihre Stellung im Gesamtzusammenhang der Dinge und der Kenntnis von den Dingen sich klarzuwerden, ist jede besondre Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang überflüssig. Was aber von der ganzen bisherigen Philosophie dann noch selbständig bestehn bleibt, ist die Lehre vom Denken und seinen Gesetzen – die formelle Logik und die Dialektik. Alles andre geht auf in die positive Wissenschaft von Natur und Geschichte.“ (MEW 19/207) Diese Rückdrängung der Philosophie auf eine Wissenschaft des Denkens bedeutet aber zugleich auch eine Präzisierung des Zwecks dieser wissenschaftlichen Disziplin: „Die empirische Naturforschung hat eine so ungeheure Masse von positivem Erkenntnisstoff angehäuft, daß die Notwendigkeit, ihn auf jedem einzelnen Untersuchungsgebiet systematisch und nach seinem innern Zusammenhang zu ordnen, schlechthin unabweisbar geworden ist. Ebenso unabweisbar wird es, die einzelnen Erkenntnisgebiete unter sich in den richtigen Zusammenhang zu bringen. Damit aber begibt sich die Naturwissenschaft auf das theoretische Gebiet, und hier versagen die Methoden der Empirie, hier kann nur das theoretische Denken helfen. Das theoretische Denken ist aber nur der Anlage nach eine angeborne Eigenschaft. Diese Anlage muß entwickelt, ausgebildet werden, und für diese Ausbildung gibt es bis jetzt kein andres Mittel als das Studium der bisherigen Philosophie.“ (MEW 20/330)
Mit den von Engels genannten drei wichtigen Erkenntnissen in den Erfahrungswissenschaften verändern sich die Erfahrungswissenschaften – aber auch die Philosophie. Diese ist nun eine Wissenschaft des Denkens und zwar mit der Aufgabe, den empirischen Wissenschaften nach deren Bedarf die theoretischen Mittel in die Hand zu geben, damit sie selbst ihre jeweiligen wissenschaftlichen Gebiete und die Gebiete insgesamt in einen systematischen Zusammenhang bringen können. Philosophie ist daher nicht einfach die Wissenschaft des Denkens, sondern die des systematisierenden Denkens oder, was dasselbe ist, des Denkens des Gesamtzusammenhangs. Ohne ein systematisierendes Totalitätsdenken wären die Erfahrungswissenschaften gar nicht in der Verfassung, die notwendigen Systematisierungsaufgaben zu erfüllen. Philosophie ist daher „für die theoretische Naturwissenschaft ein Bedürfnis, weil sie (die Bekanntschaft mit dem geschichtlichen Entwicklungsgang des menschlichen Denkens, sprich: die Philosophie; A. H.) einen Maßstab abgibt für die von dieser (der theoretischen Naturwissenschaft; A. H.) selbst aufzustellenden Theorien.“ (MEW 20/331) Ohne den durch Erkenntnisgewinn entstehenden Bedürfnissen der Erfahrungswissenschaften diese Systematisierungsaufgaben zu erfüllen, kann Philosophie das Denken des Gesamtzusammenhangs nicht entwickeln: „Die Systematisierung der Naturwissenschaft, die jetzt mehr und mehr nötig wird, kann nicht anders gefunden werden als in den Zusammenhängen der Erscheinungen selbst.“ (MEW 20/520) Engels schwebt hier ein System der Wissenschaften vor. Im Idealfall könnte jede Erfahrungswissenschaft mit dem philosophischen Denken im Hintergrund in Abstimmung mit den je anderen ihr Verhältnis zu allen Erfahrungswissenschaften bestimmen; so entstünde ein System des Wissens und damit eine für den historischen Moment gültige Bestimmung der Welt, also des Gesamtzusammenhangs. In diesem System fallen Erfahrungswissen und Theoriewissen zusammen. Die Erfahrungswissenschaften sind theoriegeladen und die Theoriewissenschaft ist erfahrungsgeladen. So gesehen, kann man von einer einzigen Wissenschaft sprechen, die sich in verschiedene Disziplinen ausdifferenziert.
Vor diesem Hintergrund wird es also wichtig, genauer zu erfahren, was die Philosophie, die Theoriewissenschaft, das Denken des Gesamtzusammenhangs ist. So sehr beide Wissenschaftsarten in das System der Wissenschaften zusammenfallen, so sehr werden beide von Engels unterschieden – wie Holz feststellt: „Theorie wird hier ausdrücklich von Empirie unterschieden, sie (die Theorie; A. H.) ist ‚Anwendung des Denkens auf empirische Gebiete’ (MEW 20/330). Von den Naturwissenschaften gilt, daß sie ‚ohne Denken nicht vorankommen und zum Denken Denkbestimmungen nötig haben’ (MEW 20/480). Die Denkbestimmungen oder Kategorien sind nach Engels’ Auffassung offenkundig nicht einfach abgezogen aus der Empirie, sondern haben einen (noch zu klärenden) eigenen Status.“[10] Wäre die Philosophie auch eine Erfahrungswissenschaft, zöge sie also ihre Kategorien und Denkbestimmungen von den Erfahrungswissenschaften ab, dann wäre Philosophie lediglich der Ort eines verallgemeinernden Erfahrungsaustausches, wie man dieses oder jenes systematisch, also in Zusammenhang, denken könnte. Sicherlich wäre es dadurch der Philosophie möglich, größere Zusammenhänge zu denken, doch der Gesamtzusammenhang aller Zusammenhänge käme ihr gar nicht in den Sinn. Es gäbe ihn einfach nicht, weil ja nur gegebene Zusammenhänge miteinander nach bestimmten, von der Philosophie dann aufgestellten Regeln zusammenhängend gedacht werden könnten.
Engels’ Unterscheidung zwischen „Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang“ und „Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs“ macht also Sinn. Holz analysiert diese Unterscheidung anhand ihrer grammatischen Struktur: „Der präpositional konstruierte Genitiv ‚Wissenschaft vom Gesamtzusammenhang’ ist ein Genitivus objectivus; er bezeichnet den Gegenstand, auf den die Theorie sich richtet; dieser Gegenstand muß ihr gegeben sein können, wenn die Theorie als eine wissenschaftliche den Anspruch auf Übereinstimmung mit der Sache erheben soll; der empirisch nicht gegebene, weil jede endliche Erfahrung übersteigende Gesamtzusammenhang ist jedoch nicht objektivierbar.“[11] Damit fällt entsprechend Engels’ Überlegungen diese Art der Philosophie, diese Weise, den Gesamtzusammenhang zu denken, weg. „Der Genitiv ‚Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs’ ist hingegen ein Genitivus producti (wie in den Formulierungen ‚der Vater des Kindes’‚der Verfasser des Buches’) genau in dem Sinne, daß der von der Theorie (der Wissenschaft; A. H.) entworfene Gesamtzusammenhang natürlich zwar von der Theorie unterschieden, ihr gegenüber selbständig ist, jedoch von der Theorie als ihr Erzeugnis hervorgebracht wird (im theoretischen Prozeß konstruiert wird).“[12] Der aufmerksame Leser weiß, dass er sich mit dem Genitivus producti an einem theoretischen Ort befindet, der schon in der Rede über ein dialektisch-materialistisches Modell des Gesamtzusammenhangs auftauchte. Das Denken in der Form des Genitivus producti ist dasselbe wie das modellhafte Erzeugen der Vorstellung des Gesamtzusammenhangs: Metaphysische Modelle drücken „zwar die Totalität aus“, wie Holz bereits zitiert wurde, „aber so, daß sie das Ausgedrückte nicht als Eindruck zuvor aufnehmen, sondern es im Ausdrücken erzeugen.“[13]
Das System der Wissenschaften, wie es Engels und Holz vorstellen, ist im Idealfall die Einheit des Wissens vom Gesamtzusammenhang, bestehend aus experimentell gesicherten Erkenntnissen der Erfahrungswissenschaften und theoretischen Systematisierungsbestimmungen der Philosophie. Von letzteren ist die Rede im Zusammenhang mit der Philosophie als Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs. Damit Philosophie überhaupt den Erfahrungswissenschaften den realen Gesamtzusammenhang systematisierende Bestimmungen liefern kann, muss sie eine Vorstellung, ein Modell des Gesamtzusammenhangs entwerfen. Wie ist ein solches Modell des Gesamtzusammenhangs im System der Wissenschaften möglich?
Philosophie als Sein-Denken
Das ausnehmend Besondere am Denken ist, dass es sich selbst zum Gegenstand machen kann: „Ich kann nicht wahrnehmen, daß ich die Wahrnehmung ‚Haus’ habe, ich kann nicht empfinden, daß ich die Empfindung ‚Zahnschmerz’ habe, ich kann nicht fühlen, daß ich das Gefühl ‚Zufriedenheit’ habe, ich habe Wahrnehmungen, Empfindungen, Gefühle, indem ich wahrnehme, empfinde, fühle. Ich kann aber denken, daß ich die Gedanken ‚Haus’, ‚Zahnschmerz’, ‚Zufriedenheit’, ‚Reflexivität’ habe, das heißt, ich kann denken, daß ich denke.“[14] Im Sich-selbst-Denken-des-Denkens erfährt das Denken über sich selbst: Denken ist immer etwas-Denken. Erst dadurch, dass es etwas denkt, denkt es. Es kann nicht nichts denken. Denken „ist ein ‚Denken-von-etwas’ und der Genitivus objectivus ist ihm inhärent“.[15]
Indem das Denken etwas denkt, denkt es zugleich, dass dieses Etwas existiert oder nicht existiert. Jemand denkt an eine Fabelfigur, an einen Kentauren etwa, und weiß eben gerade dadurch, dass der Kentaur nicht wirklich ist, dass er eine Fabelfigur denkt. Oder jemand denkt an seine Wohnung und damit zugleich ihr Vorhandensein. „Etwas wirkt auf mich als so-seiend, in seiner bestimmten Beschaffenheit, und zugleich wirkt es auf mich in dieser Beschaffenheit als ‚wirklich seiend’ (und nicht als bloß ausgedacht, imaginiert, geträumt usw.).“[16] Denken ist demnach wesentlich etwas-Denken und sein-Denken zugleich. „Denke ich an einen bestimmten (so und so beschaffenen) Gegenstand X als seienden (…), so ist der Gedanke ‚sein’ in dem Gedanken ‚Gegenstand X’ enthalten.“[17] Woher das Etwas im etwas-Denken kommt, ist unbestritten: Es sind die Gegenstände der Welt, die im etwas-Denken wie auch immer gedacht werden. Das sein-Denken hat aber einen anderen Ursprung.
Das Denken denkt sich selbst als etwas-Denken. Der ausnehmend besondere Fall im etwas-Denken besteht darin, dass das Denken in seiner Selbsterfahrung das Denken selbst als ein Etwas einsetzt. Auch das Denken als solches ist etwas. Für die Variable X im Gegenstand X wird „Denken“ eingesetzt. Das Denken denkt sich selbst jetzt rein. „Was denke ich aber, wenn ich – absehend von jedem Inhalt des Denkens – denke, daß ich denke? Ich denke nichts anderes als das Wirklich-sein meines Denkens, ich denke das Denken als seiend, ich denke den Gedanken ‚Sein des Denkens’; und das heißt: Ich denke nicht den Gedanken ‚sein’ als den Inhalt des Gedankens ‚Denken’. So gewinne ich die Einsicht, daß ich immer ‚sein’ denke, wenn ich denke – unabhängig davon, welches etwas ich denke.“[18] Alles sein-Denken kommt aus dem reinen Denken des Denkens. Dessen Gegenstand ist das Denken selbst; der Inhalt des Denken-Denkens ist das Sein des Denkens. „Und ‚sein’ ist mir unabhängig vom Seienden (…) nicht anders gegeben als im Gedanken ‚sein’, das heißt, es ist im Denken – und zwar im ‚sein’-Denken – enthalten. Reines Denken ist demgemäß nichts anderes als ‚sein’-Denken oder das Denken, in welchem das Sein enthalten ist. Die Anwesenheit des Seins im Denken kommt da und nur da zur Vorschau, wo ich mein Denken denke, also das Seiend-sein meines Denkens erfahre.“[19] Was etwas ist, wird im etwas-Denken erfahren, dass etwas ist, erfahren wir im sein-Denken. Sein ist daher das Produkt des Denkens – Genitivus producti –, aber nicht so, dass Denken Sein schafft, sondern „daß ‚sein’ nicht ohne das Denken herauskommt: Im Denken erscheint erst rein – und nicht am Seienden – das Sein.“[20]
Dieser Gedanke „sein“ entspringt durch eine Veränderung im Denken des Denkens: In der Reflexion seiner selbst macht das Denken die Erfahrung, dass es immer etwas denkt und deshalb ein etwas-Denken ist; Denken ist Denken von etwas (Genitivus objectivus). Wenn für „etwas“ „Denken“ eingesetzt wird, ist das Denken des Denkens immer noch ein etwas-Denken. Es denkt in der Logik, dass Denken einen bestimmten gegenständlichen Inhalt hat. Im Denken des Denkens denkt nun das Denken sich selbst. Das reflektierende Denken kann dann für sich auf die Idee kommen, dass es als etwas-Denken auch das Denken des Denkens für „etwas“ einsetzen kann, also das Denken des Denkens des Denkens. Und auch dieses könnte wieder als „etwas“ eingesetzt werden, sodass das Denken als etwas-Denken in eine ewige Reflexionskette gelangen würde. „Setze ich in die Variable (X vom Gegenstand X; A. H.) nun das Denken (als Gegenstand des Denkens) selbst ein, so scheint sich eine unendliche Iteration zu ergeben: Ich denke das Denken des Denkens des Denkens des Denkens … Dabei zeigt sich indessen, daß diese unendliche Reihe in sich auf zwei Glieder zusammenfällt: Denn das Denken des Denkens des Denkens ist nicht verschieden vom Denken des Denkens.“[21] Deshalb vollzieht sich hier im Denken des Denkens eine Wende. Das Denken denkt nicht mehr in der Logik des etwas-Denkens; es kann sich nicht weiter als etwas-Denken denken, wenn es sich selbst als etwas denkt. Es ist nun sein-Denken in einer Seinslogik. Das Denken wendet sich also in sich selbst um und ist in sich das Andere seiner selbst. Das reine Denken des Denkens wirkt auf das etwas-Denken: Sein des Denkens -> Denken ist etwas -> Sein des Etwas. Es wirkt modellierend und systematisierend auf das etwas-Denken zurück, sodass alles etwas-Denken zugleich auch sein-Denken ist, denn etwas kann nicht gedacht werden, ohne dabei „sein“ zu denken.
Diese Bewegung ist die Grundstruktur des Denkens überhaupt. Anders konnte, kann und wird der Mensch nicht denken können. Sie ist kein einfaches Hin und Her zwischen zwei Seiten, sondern, wie gerade skizziert, entsteht das sein-Denken aus dem etwas-Denken. Das etwas-Denken ist die Einheit des Denkens. Das etwas-Denken kann aber nur etwas denken, wenn es auch „sein“ denkt, wenn es sich in sich selbst verdoppelt, in sich selbst sein Gegenteil schafft, das sein-Denken. Nur so ist Denken Denken. Beide Seiten des Denkens bestehen daher zugleich. Als Gegenteil des etwas-Denken ist das sein-Denken ein etwas-Denken, das gerade kein etwas-Denken und daher relativ selbständig ist. Dieses sein-Denken ist das modellierende und systematisierende Denken. Es ist das Wissen des Gesamtzusammenhangs.
Der Gedanke ‚Sein’ ist als Ursprung des sein-Denkens Ursprung der Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs. Die Einheit der Welt besteht in ihrem Sein. Damit ist auch der Genitivus producti klarer, von dem Holz als der grammatischen Struktur der logischen Figur der Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs sprach. Die Philosophie, das sein-Denken, liefert den Erfahrungswissenschaften, dem etwas-Denken, eine Vorstellung, mit der letztere überhaupt erst in der Lage sind, Gegenstände bzw. Zusammenhänge als solche zu denken. „Die Vernunft ist aus Erfahrung genötigt, die Möglichkeit von Erfahrung transempirisch zu begründen (…).“[22] Ein Gedanke als Einheit von etwas- und sein-Denken ist daher immer die Einheit von Denken eines Endlichen und zugleich desselben Endlichen als Unendlichen, wie Engels unterstreicht: „‚Wir können nur das Endliche erkennen etc.’ Dies ist soweit ganz richtig, als nur endliche Gegenstände in den Bereich unsres Erkennens fallen. Aber der Satz hat auch die Ergänzung nötig: ‚Wir können im Grunde nur das Unendliche erkennen’. In der Tat besteht alles wirkliche, erschöpfende Erkennen nur darin, daß wir das Einzelne im Gedanken aus der Einzelheit in die Besonderheit und aus dieser in die Allgemeinheit erheben, daß wir das Unendliche im Endlichen, das Ewige im Vergänglichen auffinden und feststellen.“ (MEW 20/501) In Gedanken entwirft Holz in Anlehnung an Engels das Unendliche im Gedanken „Sein“. Das „Sein“ ist insofern ideell, aber es entsteht im Denken als Reflexion des Denkens als etwas-Denken. Insofern ist das „Sein“ reell. Im reinen Denken des Denkens entsteht daher mit dem Gedanken „Sein“ eine Vorstellung vom Gesamtzusammenhang der Welt: das Sein alles Seienden. Dieser Gedanke ist Grundlage für ein philosophisches Modell des wirklichen Gesamtzusammenhangs.
Damit sind Holzens Vorstellungen eines dialektisch-materialistischen Philosophiemodells zwar immer noch abstrakt,[23] aber ebenso schon ein wenig deutlicher geworden. Dieses Modell „ist – in einem viel emphatischeren Sinne als das Schiffsmodell – das, was es darstellt; denn erst das Modell macht die transempirische Wirklichkeit zu dem, was sie ist – außerhalb der Modellvorstellung ist sie ganz und gar unbestimmbar. Aber es meint ja etwas außer ihm Seiendes, das ganz anders ist als es selbst.“[24]
Übergang zur Kritik der Wahsnerschen Kritik
Wahsners Kritik trifft Holzens Vorstellungen einer dialektisch-materialistischen Philosophie nicht: „Davon auszugehen, daß alles mit allem verbunden ist, ist kein hinreichendes Prinzip der Konstruktion des Ganzen.“ (S. 145) Der Leser weiß nun, dass Holzens Philosophie nicht von solch einem einfachen Gedanken ausgeht; Holz ist der Gedanke „Sein“ als Selbsterfahrung des reinen Denkens des Denkens aufgrund der Reflexion des Denkens von etwas Ursprung der Philosophie und Basis einer Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs. Wenn Wahsner meint, Holz wolle „vor der wissenschaftlichen Erfahrung etwas über die Welt als Ganzes sagen“ (S. 145), dann kann der Leser nun entgegnen: Das sein-Denken entsteht in der Reflexion des etwas-Denkens und damit aus der wissenschaftlichen Erfahrung. Aber als sein-Denken ist es relativ selbständig und gibt dem Erfahrungsdenken theoretische Strukturen, um überhaupt Gegenstände denken zu können. Der Leser kann nur noch mit dem Kopf schütteln, wenn er bei Wahsner liest: Holz gebe „ein einzelwissenschaftliches Gesetz (wenn nicht gar seine persönliche Alltagsvorstellung) als Weltgesetz aus. (…) Es wird etwas, was einer spezifischen Wissenschaft entstammt, einer Wissenschaft, die die Welt unter der Form des Objekts fassen muß, ausgedehnt auf die Welt als Ganzes. Somit wird das Ganze als Objekt gefasst.“ (S. 145 f.) Der Gedanke „Sein“ entspringt keinem einzelwissenschaftlichen Gesetz und ist kein Objekt, sondern er ist der aus der Selbsterfahrung des Denkens entstandene Grundgedanke eines dialektisch-materialistischen Modells bzw. einer Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs innerhalb des Systems der Wissenschaften, der überhaupt bewusst macht, dass alle Etwase sind. Der Leser weiß nun, dass auch Holz mit seiner Modellvorstellung wie Wahsner sagen kann, dass „die Weltbetrachtung niemals die Ansichbeschaffenheit der Welt wiedergeben, (…) Objektivität nicht absolute Subjektunabhängigkeit bedeuten“ kann. (S. 144)
So könnten noch viele weitere Beispiele für eine unzutreffende Kritik gegeben werden. Die Frage, die sich vor diesem Hintergrund hauptsächlich auftut, ist: Wie kommt Wahsner zu dieser Kritik, in der gar nicht auf das eingegangen wird, was Holz an philosophischen Erkenntnissen entwickelt? Das wird der Leser in diesem Aufsatz nicht erfahren. Hier nur ein knapper Ausblick: Wahsner wird, Kant folgend, das etwas-Denken in Form der Experimentalwissenschaften analysieren, um festzustellen, was menschliches Erkennen ist. Sie kommt dabei zum Schluss, dass die gesamte Erkenntnisstruktur dieser Wissenschaften bereits vor aller Erfahrung festliegt und dass die Philosophie die Aufgabe habe, diese „apriorischen“ Strukturen zu erfassen. Dies habe Immanuel Kant im Wesentlichen bereits getan, weshalb sie, Wahsner, sich auf ihn stütze. Das Analysieren der Erkenntnisstrukturen sei darum die Hauptaufgabe der Philosophie, sodass sie wesentlich Erkenntnistheorie sei.
Der Leser wird weiterhin hier nicht erfahren, dass Wahsner den Widerspruch in Kants „Transzendentaler Analytik“ des menschlichen Erkenntnisvermögens nicht erfasst. Sie will nicht wahrhaben, dass Kant zwar dauernd von der notwendigen Einheit von Sinnlichkeit und Verstand in der Erkenntnis redet, aber eben gerade in seiner Erkenntnistheorie diese Einheit strukturell, und damit logisch, nicht zustande bringt, also nicht erklären kann. Alles zerfällt ihm in Gegensätze: Subjekt/Objekt, Natur/Gesellschaft, Sinnlichkeit/Verstand, Verstand/Vernunft etc. Was Erkennen ist, bleibt ein Problem. Darum macht Wahsner auch die weitere Entwicklung der Philosophie nach Kant nicht philosophisch, sondern nur noch als theoretische Naturwissenschaftlerin mit. Sie versteht nicht, dass der Widerspruch in Kants Philosophie – die Einheit zu predigen, den Gegensatz zu produzieren – gerade der Anstoß für das ist, was wir heute Klassische Deutsche Philosophie nennen. Hegel bringt die Diskussion der widersprüchlichen kantischen Grundlage zu einem vorläufigen Ende. Auf der Basis der Überlegungen Kants vertieft er in der Phänomenologie des Geistesden Blick in das menschliche Erkenntnisvermögen und legt die Einheit von Erkenntnissubjekt und -objekt, von Natur und Gesellschaft etc. im vernünftigen Denken des Menschen offen. Mit Hegel wird Erkenntnis als Dialektik begriffen: die Einheit von Einheit und Gegensatz. Der Wahsnerschen Erkenntnistheorie ist das fremd. Sie bleibt bei der von Kant zugrunde gelegten Subjekt-Objekt-Einheit, also im Denken des bloßen Gegensatzes.
Indem Wahsner diese philosophische Denkentwicklung philosophisch, also logisch, nicht mitmacht, kann sie auch die marxistische Grundfrage nicht stellen, wie sie von Engels formuliert worden ist. Zuerst das ontologische und dadurch das erkenntnistheoretische Verhältnis von Sein und Denken zu klären, ist ihr von der kantischen Warte aus nicht möglich. Sie muss die Grundfrage, die Basis der marxistischen Philosophie, umkehren, wofür sie keinen notwendig philosophischen Grund angeben kann – ein Charakteristikum aller von Kant her kommenden „marxistischen“ Philosophie. Deshalb zerfällt ihr wie Kant die Welt in Gegensätze. Während Holz mit seiner Theorie logisch präzise darlegen kann, wie aus Hegel heraus mit Feuerbachs, Marxens, Engels und Lenins Hegel-Kritik die Grundlage marxistischen Philosophierens als Widerspiegelungstheorie entsteht und gegründet wird, kann Wahsner philosophisch nicht erklären, warum man notwendig von Marx aus wieder zu Kant zurückkehren muss – das zweite Charakteristikum aller von Kant her kommenden „marxistischen“ Philosophie. In der ausführlicheren Variante (demnächst in „Topos. Zeitschrift für dialektische Theorie“) dieser hier vorliegenden Kritik werden also die enorme systematische und logische Schwäche des auf Kant beruhenden „Marxismus“ offengelegt: Er ist ohne philosophische Grundlage.
[1] Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Bd. 6: Wissenschaft der Logik, S. 250.
[2] Renate Wahsner: „Die Materie der Erkenntnis kann nicht gedichtet werden“, in: Z 77, März 2009, S. 138–157.
[3] Hans Heinz Holz, Was sind und was leisten metaphysische Modelle?, in: Shlomo Avineri et al., Fortschritt der Aufklärung, Köln 1987, S. 165–190, hier: S. 182. In der von Wahsner kritisierten Arbeit Holzens, „Weltentwurf und Reflexion“, wird der Modellcharakter der Philosophie im gleichen Sinne entwickelt.
[4] Ebd., S. 182 f.
[5] Ebd., S. 185.
[6] Ebd.
[7] Ebd., S. 183.
[8] Ebd., S. 183.
[9] Hans Heinz Holz: Die Wissenschaft des Gesamtzusammenhangs, in: Dialektik 12, Köln 1986, S. 50–65: hier S. 51.
[10] Ebd., S. 52.
[11] Ebd., S. 54.
[12] Ebd.
[13] Ebd.
[14] Hans Heinz Holz: Natur und Gehalt spekulativer Sätze, Köln 1980, S. 42.
[15] Ebd., S. 12.
[16] Ebd.
[17] Ebd.
[18] Ebd., S. 13.
[19] Ebd., S. 13 f.
[20] Ebd., S. 14.
[21] Ebd., S. 13
[22] Hans Heinz Holz, Natur und Gehalt spekulativer Sätze, a.a.O., S. 10.
[23] Der Leser wird in der Auseinandersetzung mit Hegel die konkrete Form des Anfangs des Modells erfassen.
[24] Hans Heinz Holz, Was sind und was leisten metaphysische Modelle?, a.a.O., S. 185.