Euro-Kapitalismus: Privatisierung, Militarisierung

Militarisierung der Europäischen Union

Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik im Konventsentwurf über eine Verfassung für Europa

September 2004

Der Entwurf des Vertrags über eine Verfassung für Europa (VVE-E)[1] wurde von der Konferenz der Staats- und Regierungschefs der EU am 18. Juni in Brüssel verabschiedet. Das Machtgezerre[2] zwischen den Großen, Mittleren und Kleinen in der EU ist vorläufig beendet. Damit ist der VVE jedoch noch nicht unter Dach und Fach. Nach Art. IV-8 kann er erst in Kraft treten, wenn die Ratifikationsurkunden aller 25 Mitgliedstaaten (MS) der EU in Rom vorliegen. Es ist wenig wahrscheinlich, dass Parlamente von MS die Ratifikation verweigern. Aber ablehnende Volksentscheide in Ländern, wo das Volk gefragt wird, könnten dazwischen funken. Das brächte den Verfassungsprozess ins Stocken, wenn nicht sogar für absehbare Zeit zum Scheitern.

Das Ende der EU wäre damit nicht verbunden. Den Gegnern des VVE-E und Befürwortern einer Volksabstimmung kann nicht vorgeworfen werden, sie würden die Fortexistenz der EU aufs Spiel setzen. Erstens wäre die Ablehnung des VVE-E nicht mit dem Austritt des betreffenden Staates aus der EU verbunden oder gleichzusetzen. Die bisherigen Verträge würden in diesem Fall weiter gelten. Ihre Aufhebung ist nach Art. IV-2 erst dann vorgesehen, wenn der VVE in Kraft getreten ist. Zweitens ist im Entwurf einer Erklärung für die Schlussakte für diesen Fall aller Fälle eine salomonische Vorsorge getroffen: „Haben nach Ablauf von zwei Jahren nach der Unterzeichnung des Vertrags über die Verfassung vier Fünftel der Mitgliedstaaten den genannten Vertrag ratifiziert und sind in einem oder mehreren Mitgliedstaaten Schwierigkeiten bei der Ratifikation aufgetreten, so befasst sich der Rat mit der Frage.“ Was würden die Regierungschefs auf der Krisensitzung des Europäischen Rats (ER) wohl unternehmen? Sie würden die renitenten Länder zur Wiederholung der Volksabstimmung drängen. Als Alternative bliebe der erstmalig in einem EU-Vertrag statuierte Austritt aus der EU.[3]

Wie dem auch sei und werde: Die Artikel im VVE-E über das auswärtige Handeln der Union, über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) und über die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) wurden durch den EU-Gipfel – bis auf die Bestimmungen über die „erweiterte“ Zusammenarbeit – nicht geändert. Die Annahme des Entwurfs durch den ER im Dezember 2003 war ja nicht an diesen Artikeln, sondern an Machtproben gescheitert. Über die GASP und GSVP war man sich schon damals unabhängig von der unterschiedlichen Haltung zum Irak-Krieg einig, auch mit den „Abweichlern“ Polen und Spanien. Die herrschenden Kräfte in EU-Europa werden diese militärorientierte Linie – wahrscheinlich mit Erfolg – durchzusetzen versuchen, ob mit oder ohne Verfassung. Erste EU-Militäreinsätze sind durchgeführt und weitere geplant. Der Aufbau einer Rüstungsagentur und einer Eingreiftruppe ist im vollen Gange. Der Kurs auf Entzivilisierung und Militarisierung der EU ist nicht neu, sondern in den bisherigen EU-Verträgen von Maastricht (1992), Amsterdam (1997) und in dem gegenwärtig verbindlichen EU-Vertrag von Nizza vom 26. 2. 2001[4] (EUV) vorgebildet. Mit der in Brüssel verabschiedeten Europäischen Sicherheitsstrategie „Ein sicheres Europa in einer besseren Welt“ werden Kernaussagen des VVE-E schon vorab und in Kontinuität mit früheren Verträgen und Beschlüssen in Anwendung gebracht.

Überblick

Die etwa 50 außenpolitisch relevanten Artikel sind – wie der Entwurf insgesamt – schwer durchschaubar, mit wechselseitigen Verweisen versehen und verschwommen formuliert.

Im Teil I sind außenpolitische Ziele der EU vom Grundsatz her definiert. Nach Art. I-7 strebt die EU löblicher Weise den Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskonvention an. Der Teil enthält die prinzipiellen Regelungen der Zuständigkeit der EU und deren Ausübung. Er bestimmt die Unionsorgane, darunter die neue Institution des Außenministers der Union. Nach Art. I-56 sollen „besondere Beziehungen“ zu den Nachbarstaaten entwickelt werden, „um einen Raum des Wohlstands und der guten Nachbarschaft zu schaffen, der auf den Werten der Union aufbaut und sich durch enge, friedliche Beziehungen auf der Grundlage der Zusammenarbeit auszeichnet“.

Der Teil II erhebt die Charta der Grundrechte der EU vom 7. 12. 2000 in den Rang von Verfassungsrecht.[5] Eine Einklagbarkeit der Grundrechte ist damit nicht verbunden. Von direkter außenpolitischer und völkerrechtlicher Relevanz sind in dieser Charta Art. 1 Würde des Menschen, Art. 2 Recht auf Leben, Art. 3 Recht auf Unversehrtheit, Art. 4 Verbot der Folter oder erniedrigender Strafe oder Behandlung, Art. 5 Verbot der Sklaverei und der Zwangsarbeit, Art. 6 Recht auf Freiheit und Sicherheit, Art. 18 Asylrecht, Art. 19 Schutz bei Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung, Art. 21 Nichtdiskriminierung, Art. 22 Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen, Art. 45 Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit und Art. 46 Diplomatischer und konsularischer Schutz.

Von besonderer Bedeutung ist der Teil III über „die Politikbereiche und die Arbeitsweise der Union“, weil er die allgemeinen Bestimmungen des Teils I auf den konkreten neoliberalen, undemokratischen und militaristischen Punkt bringt und den Teil I negativ konterkariert. Es ist auch der umfangreichste Teil. Er enthält einen Titel IV über die „Assoziierung der überseeischen Länder und Hoheitsgebiete“. Im Titel V werden unter der Überschrift „Auswärtiges Handeln der Union“ alle wesentlichen Politikbereiche mit Außenbezug zusammengefasst. Er ist unterteilt in acht Kapitel: Allgemein anwendbare Bestimmungen, Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, Gemeinsame Handelspolitik, Zusammenarbeit mit Drittstaaten und humanitäre Hilfe, Restriktive Maßnahmen, Internationale Übereinkünfte, Beziehungen zu internationalen Organisationen, Drittländern und Delegationen der EU und Anwendung der Solidaritätsklausel. Ich behandle im Folgenden die Artikel mit direkten außen-, sicherheits- und verteidigungspolitischen Inhalten.

Ziele der EU

In der Präambel und in Teil I Titel I VVE-E sind friedenspolitische Ziele festgeschrieben, die unterstützt werden müssen und auf die sich Friedensbewegte berufen können. Nach der Präambel will die EU – ähnlich wie in der EUV-Präambel[6] – „auf Frieden, Gerechtigkeit und Solidarität in der Welt hinwirken“. In Art. I-3,1 wird als eines der Ziele der Union festgeschrieben, „den Frieden ... zu fördern“. Abs. 4 beginnt missionarisch und europazentristisch: „In ihren Beziehungen zur übrigen Welt schützt und fördert die Union ihre Werte und Interessen.“ Die Werte und Interessen der EU sind die maßgeblichen Beweggründe für ihre Beziehungen zur „übrigen Welt“. Dann wird bestimmt: „Sie [die EU – G. S.] trägt bei zu Frieden, Sicherheit, nachhaltiger Entwicklung der Erde, Solidarität und gegenseitiger Achtung unter den Völkern, freiem und gerechtem Handel, Beseitigung der Armut und Schutz der Menschenrechte, insbesondere der Rechte des Kindes, sowie zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen“. Das ist ein Fortschritt gegenüber dem EUV, in dem solche Ziele nicht formuliert sind. Was das Völkerrecht betrifft, so vermisst man eine Bestimmung über dessen Vorrang vor dem EU-Recht, die dem Art. 25 GG oder dem Art. 10 der italienischen Verfassung nachempfunden wäre.[7]

Ähnlich wie Art. I-3 formuliert Art. III-193 die Ziele und Grundsätze des auswärtigen Handelns der EU. Auch hier werden die Achtung des Völkerrechts und die Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen (VN) beschworen Ein ausdrücklicher Bezug auf das Verbot der Androhung und Anwendung von Gewalt in den internationalen Beziehungen nach Art. 2, Ziffer 4 der VN-Charta fehlt jedoch ebenso wie ein Verbot des Aggressionskriegs und seiner Vorbereitung. Auf das Verhältnis zu den VN wird noch zurückzukommen sein. Merkenswert ist die Orientierung des auswärtigen Handelns der EU auf das Ziel, „eine Weltordnung zu fördern, die auf einer verstärkten multilateralen Zusammenarbeit und einer verantwortungsvollen Weltordnungspolitik beruht“. Das Bekenntnis zur Multilateralität ist als Kontrast zum Unilateralismus der USA zu begrüßen; die zu fördernde Weltordnung ist der imperiale globalisierte Kapitalismus.

Die allgemeinen Bekenntnisse zu Frieden und Sicherheit im VVE-E dürfen nicht unterschätzt, aber hinsichtlich praktischer politischer Tragweite und juristischer Bindungskraft auch nicht überschätzt werden. Die EU verpflichtet sich mit ihnen zu nichts, wozu ihre MS nicht schon weitaus konkreter durch die VN-Charta verpflichtet sind. Diese Bekenntnisse werden in den Einzelbestimmungen des VVE-E nicht konkret untersetzt, sondern eher unterlaufen und ins Gegenteil verkehrt und vor allem durch die auf den Ausbau der militaristischen Komponente gerichtete Praxis der EU hintertrieben.

In Art. I-40,2 VVE-E wird festgestellt, dass die GSVP den besonderen Charakter der Sicherheits- und Verteidigungspolitik bestimmter MS nicht berührt. Man vermisst aber Konkretes: Nichts über die besondere Verantwortung der europäischen ständigen Mitglieder des VN-Sicherheitsrats und Atomwaffen-Mächte Frankreich und Großbritannien, nichts zur Achtung des neutralen bzw. blockfreien Status einer Reihe von MS, nichts über die Bedeutung der Friedensverträge von 1947 mit heutigen und zukünftigen EU-MS und des österreichischen Staatsvertrags, nichts über den 2+4-Vertrag über Deutschland, nichts über die Fortgeltung der Prinzipien aus der Schlussakte der KSZE von 1975 und der Charta von Paris für ein neues Europa von 1990[8]. Entsprechende Verweise in einer EU-Verfassung wären keineswegs überflüssig oder belanglos, sondern würden dazu beitragen, die EU in einer europäischen Friedensordnung zu verorten.

Zuständigkeit der EU in der Außen-, Sicherheits- und
Verteidigungspolitik

Nach Art. I-11 ist die EU „dafür zuständig, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik einschließlich der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik zu erarbeiten und zu verwirklichen“.[9] Diese Formel wird in Art. I-15 wiederholt und ergänzt. Die Zuständigkeit erstreckt sich danach auf „alle Bereiche der Außenpolitik sowie auf sämtliche Fragen im Zusammenhang mit der Sicherheit der Union, einschließlich der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik, die zu einer gemeinsamen Verteidigung führen kann“. Mit der Orientierung auf „Verteidigungspolitik“ und „Verteidigung“ ist die EU als Militärunion konstitutionell verankert.

Das ist ein verhängnisvoller Weg, der jedoch keineswegs zwangsläufig ist. Die internationale Rolle und Glaubwürdigkeit der EU hängen nicht von ihren militärischen Fähigkeiten und deren Einsatz ab, sondern von ihrem zivilen Beitrag zu Frieden und Sicherheit. Die Militarisierung der EU ist zur Erreichung der proklamierten Ziele unnötig, sie wird internationale und innerstaatliche Konflikte einer Lösung nicht näher bringen. Sie führt zu neuem Wettrüsten auf Kosten sozialer Belange in den MS und der Unterstützung der EU für Entwicklungsländer. Im übrigen soll eine EU-Militärmacht die nationalen Streitkräfte keineswegs ablösen. Der Verfassungsauftrag zur Militarisierung liegt nicht im Interesse der europäischen Völker, sondern dient dem Profit- und Machtstreben der in der EU politisch und ökonomisch herrschenden Kräfte. Ein europäisches militärisches „Gegengewicht“ gegen die Weltmachtpolitik der USA kann angesichts der uneinholbaren militärischen Übermacht der USA ohnehin nicht geschaffen werden. Soweit diese Militarisierung „Kampf­einsätze“ und andere Militäraktionen außerhalb des in Kapitel VII der VN-Charta festgelegten Bereichs vorsieht oder ermöglicht, stellt sie eine Verletzung völkerrechtlicher Verpflichtungen der MS dar. Eine zivile EU, die auf den Krieg und die Anwendung militärischer Gewalt bewusst verzichtet, wäre nach meiner Meinung ein wichtiger Schritt zu einer Welt ohne Krieg und ohne Waffen. Eine unerreichbare Utopie?

Die sich aus der Zuständigkeit der EU ergebenden Verpflichtungen der MS sind in Art. I-15 sehr allgemein formuliert: Die MS „unterstützen die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Union aktiv und vorbehaltlos im Geiste der Loyalität und der gegenseitigen Solidarität und achten die Rechtsakte der Union in diesem Bereich. Sie enthalten sich jeder Handlung, die den Interessen der Union zuwiderläuft oder ihrer Wirksamkeit schaden könnte“. Ähnlich wolkig sind die Formulierungen in Art. III-195,2. Daraus lässt sich eine Verpflichtung einzelner MS konstruieren, GASP-Entscheidungen der EU selbst dann zu tolerieren, wenn sie dem Völkerrecht und dem Verfassungsrecht des betreffenden MS widersprechen. Die konkreten Folgerungen aus der Zuständigkeit für „Verteidigung“ werden an anderer Stelle des VVE-E gezogen.

Diese nichts- oder vielsagenden Verpflichtungen deuten schon darauf hin, dass es im Bereich der GASP und der GSVP im wesentlichen bei der intergouvernementalen, also zwischenstaatlichen, Zusammenarbeit bleibt, was stärkere Integration auch auf diesem Gebiet nicht ausschließt.

Verhältnis zur den Vereinten Nationen

Nach Art. III-193 setzt sich die EU in ihrem auswärtigen Handeln „insbesondere im Rahmen der Vereinten Nationen für multilaterale Lösungen bei gemeinsamen Problemen ein“. Das ist sicherlich eine gewisse Abgrenzung vom Unilateralismus der USA. Nach Art. III-229 führt die EU „jede zweckdienliche Zusammenarbeit mit den Vereinten Nationen ... herbei“. Diejenigen MS, die zugleich Mitglieder des SR (Sicherheitsrat) der VN sind, sollen sich nach Art. III-206 untereinander abstimmen, die übrigen MS „auf dem Laufenden“ halten und „für die Standpunkte und Interessen der Union“ eintreten.[10] Im übrigen gilt die Pflicht nach Art. II-206 zur Koordinierung des Handelns der MS in internationalen Organisationen und auf internationalen Konferenzen auch für die VN.

Eine eindeutige Ein- und Unterordnung der EU in und unter die VN, wie sie im NATO- Vertrag (Art. 1 und 7) zu finden ist, fehlt im VVE-E. Es bleibt offen, ob sich die EU als regionale Abmachung oder Institution nach Kapitel VIII der Charta betrachtet. Um Zweifeln vorzubeugen: Der VVE-E ist eine völkerrechtliche Übereinkunft und unterliegt als solche nach Art. 103 der Charta dem Vorrang der Verpflichtungen aus der Charta. Niemand kann sich auf die EU-Verfassung berufen, um die VN-Charta zu umgehen.

Es fällt auf, dass der VVE-E sich in den Artikeln, in denen die Charta der VN genannt wird, auf deren Grundsätze, also auf Art. 2 der Charta, nicht aber auf die Charta insgesamt bezieht (Art. I-3 und II-193). So heißt es in Art. I-3, die EU trägt bei „zur strikten Einhaltung und Weiterentwicklung des Völkerrechts, insbesondere zur Wahrung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen“. Die Verpflichtung der EU auf diese Grundsätze ist zweifellos bedeutsam, denn diese völkerrechtlich verbindlichen Grundsätze stellen das Grundgerüst der völkerrechtlichen Friedensordnung dar. Aber warum wird eine Verpflichtung auf die Charta insgesamt und ohne Einschränkung vermieden? Im Kontext mit der zunehmenden Militarisierung der EU muss man diese schon im EUV enthaltene Beschränkung nur auf die Grundsätze der Charta für bedenklich halten und beanstanden, dass die EU zwar die Grundsätze der Charta allgemein anerkennt, sich aber nicht auf die Begrenzung des Einsatzes militärischer Mittel auf den Handlungsrahmen des Kapitels VII der Charta festlegen will, also sich die Anwendung militärischer Gewalt ohne Rücksicht auf das Kapitel VII vorbehält, zumal dieses Kapitel nicht erwähnt wird.

Auflassung für Aggressionskrieg und Militärintervention

Die Option der EU zum Einsatz militärischer Mittel außerhalb der zulässigen Selbstverteidigung wird in den Artikeln I-40 und III-210ff. eindeutig und konkret festgeschrieben. Die Orientierung auf Militäreinsätze und damit die Anerkennung des Kriegs als Mittel der Politik ist nicht neu. Sie wird seit dem Amsterdamer Vertrag von 1997 betrieben.[11] Sie erhält nun aber Verfassungsrang. Der Übergang zum „Doppelcharakter“ der EU als Zivil- und Militärunion wird abgeschlossen und eine neue, durch weltweite militärische Einsätze der EU gekennzeichnete Entwicklungsphase eingeleitet.

Während nach Art. I-15,1 die gemeinsame Verteidigungspolitik zu einer gemeinsamen Verteidigung führen „kann“, wird in Art. I-40,2 deutlicher bestimmt: Die Gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik „führt zu einer gemeinsamen Verteidigung, sobald der Europäische Rat einstimmig darüber beschlossen hat.“ Kollektive Selbstverteidigung der EU gegen einen Angriff von außen nach Art. 51 der Charta ist mit dem hier verwendeten Verteidigungsbe­griff nicht gemeint. Von Selbstverteidigung im Sinne der Charta ist abgesondert nur in Art. I-40,7 die Rede. Dort wird bestimmt, dass „im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet“ eines MS die anderen MS „gemäß Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen alle in ihrer Macht stehende militärische und sonstige Hilfe und Unterstützung“ leisten. Hier und nur hier werden der EU Aufgaben der Selbstverteidigung im Sinne der Charta zugeordnet.

Der im übrigen verwendete Verteidigungsbegriff des VVE-E ist ein anderer. Er umfasst auch Kriege nach dem Muster der Aggressionen gegen Jugoslawien, Afghanistan und Irak und schließt militärische Eingriffe zum Schutz von EU-Interessen und zur Begegnung „neuer“ Bedrohungen ein. Richtung und Inhalt dessen, was man unter einer solchen Verteidigung versteht, wird schon aus Art. I-40,1 hinreichend deutlich: Auf die „auf militärische Mittel gestützte Fähigkeiten zu Operationen“ kann sich die EU „bei Missionen außerhalb der Union“, also überall auf der Welt, stützen und zwar „zur Friedenssicherung, Konfliktverhütung und Stärkung der internationalen Sicherheit gemäß den Grundsätzen der Charta“. Das ist eine verschleiernde Umschreibung verschiedenartiger militärischer Optionen, die völkerrechtswidrige Aggressionshandlungen, bei denen man sich bekanntlich immer auf die Grundsätze der Charta beruft, jedenfalls nicht ausschließt.

In Art. III-210,1 wird der Verfassungsentwurf noch deutlicher. Dieser Artikel ist aus meiner Sicht die Kernbestimmung der Militarisierung der EU. Bei der Durchführung von „Missionen“ kann auf „zivile und militärische Mittel“ zurückgegriffen werden und diese Missionen umfassen „Kampfeinsätze im Rahmen der Krisenbewältigung einschließlich Frieden schaffender Maßnahmen und Operationen zur Stabilisierung der Lage“ sowie „Unterstützung für Drittstaaten [also von Staaten außerhalb der EU – G.S.], bei der Bekämpfung des Terrorismus in ihrem Hoheitsgebiet“. Welche Art von Krisen durch Kampfeinsätze „bewältigt“ werden sollen, bleibt offen. Mandate des VN-Sicherheitsrates dafür werden nicht vorausgesetzt. Ebenso wenig wird auf das Selbstverteidigungsrecht gegen einen bewaffneten Angriff nach Art. 51 der Charta Bezug genommen. Der VN-Sicherheitsrat und die Kapitel VII und VIII der Charta kommen in den einschlägigen Bestimmungen des VVE-E überhaupt nicht vor. „Präventive“ Verteidigung ist damit nicht ausgeschlossen, ja als eine zulässige Option möglich.

Ich verkenne nicht, dass zuerst die zivilen Mittel genannt werden. Aber die militärischen Mittel werden voraussetzungslos als gleichrangige Option offen gehalten und mit den zivilen vermischt. Völkerrechtliche Kriterien und spezielle Voraussetzungen für die Anwendung militärischer Gewalt werden nicht formuliert. Gefährlich ist gerade, dass zivile und militärische Reaktionen zur Verfolgung unterschiedlicher Ziele zur freien Auswahl nebeneinander gestellt sind. Die VN-Charta trifft dagegen genaue Unterscheidungen zwischen Maßnahmen friedlicher Streitbeilegung, sowie friedlichen und militärischen Sanktionsmaßnahmen und definiert die jeweiligen Voraussetzungen für deren Anwendung.

Eigene militärische Fähigkeiten und Strukturen der EU

Die EU betreibt die Schaffung von gegenüber der NATO eigenständigen militärischen Strukturen und Fähigkeiten für Kampfeinsätze vor allem durch schnelle Eingreiftruppen. Sie will ohne geographische Einschränkung auch auf militärischem Gebiet autonom – ob im Gefolge der USA, im Verbund mit der NATO oder allein – handeln können. Die formal fortbestehende Westeuropäische Union, die laut Art. 17 EUV „integraler Bestandteil der Entwicklung der Union“ sein soll, hat offenbar ausgedient.

„Gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen“ werden zwar als Bestandteil der GSVP in Art. III-210,1 genannt. Eine konkrete Verpflichtung, auf kontrollierte, darunter nukleare, Abrüstung und auf Konversion hinzuarbeiten, ist das nicht. Im Gegenteil. Das Hauptanliegen des VVE-E ist die Aufrüstung der EU. Es wird zur verfassungsrechtlichen Pflicht der MS gemacht, ihre „militärischen Fähigkeiten“ zu „verbessern“ und diese der EU zur Verfügung zu stellen. Dazu wird ein dem MR unterstelltes „Europäisches Amt für Rüstung, Forschung und militärische Fähigkeiten“[12], also ein Aufrüstungsamt anstelle eines Amtes für Abrüstung, Rüstungsbegrenzung und Konversion vorgesehen (Art. I-40,3). In Art. III-212 werden die Aufgaben dieses Amts näher umrissen. Es geht um die Ermittlung von Zielen für die Rüstung, um Beschaffungsverfahren, um multilaterale Projekte, um Rüstungsforschung und um Stärkung der industriellen und technologischen Basis der Rüstung. Mit diesen Bestimmungen werden gesamteuropäische und weltweite Abrüstungsbemühungen unterlaufen und ins Gegenteil verkehrt. Man muss die Bestimmungen über die „Verbesserung“ der militärischen Fähigkeiten und über das Amt im Kontext mit Art. III-342 lesen, wonach sich die MS der EU in Punkto Auskunftserteilung, Herstellung von Waffen, Munition und Kriegsmaterial und Handel ihre eigene Entscheidung vorbehalten.

Für die militärischen Kommandostrukturen gibt es keine Regelung im Entwurf. Dem steht offenbar der Argwohn der USA entgegen und es fehlt noch der in Art. I-40,2 vorgesehene Beschluss des ER über die Gemeinsame Verteidigung. Fest steht, dass ausschließlich der MR über „Missionen“, also auch über Kampfeinsätze beschließt. Laut Art. III-208 ist ein dubioses, durch den Vertrag von Nizza geschaffenes Politisches und Sicherheitspolitisches Komitee vorgesehen. Es ist mit beträchtlichen Kompetenzen ausgestattet. Es „überwacht“ die Durchführung der vereinbarten Politik. Unter der Verantwortung des MR und des Außenministers nimmt es „die politische Kontrolle und strategische Leitung von Krisenbewältigungsoperationen“ wahr und kann vom MR ermächtigt werden, „für den Zweck und die Dauer einer Krisenbewältigungsoperation ... geeignete Maßnahmen hinsichtlich der politischen Kontrolle und strategischen Leitung der Operation zu erlassen“. Der ebenfalls schon in Nizza geschaffene Militärausschuss und der Militärstab finden keine verfassungsrechtliche Verankerung.

Solidaritätsklausel

Mit enormer Unbestimmtheit der Begriffe jongliert eine außerhalb von GASP und GSVP im VVE-E angesiedelte „Solidaritätsklausel“. Danach „mobilisiert“ die EU „alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel“, auch militärische Mittel, um „terroristische Bedrohungen im Hoheitsgebiet von Mitgliedstaaten abzuwenden; die demokratischen Institutionen und die Zivilbevölkerung vor etwaigen Terroranschlägen zu schützen; im Falle eines Terroranschlags einen Mitgliedstaat auf Ersuchen seiner politischen Organe innerhalb seines Hoheitsgebiets zu unterstützen“ (Art. I-42). Damit werden – neben militärischer Katastrophenhilfe – präventive und reaktive Militäreinsätze gegen Terrorismus innerhalb der EU sanktioniert. Polizeiliche und militärische Aufgaben werden vermischt. Bereits nicht näher definierte „Bedrohungen“ und der Schutz vor „etwaigen“ Terroranschlägen sind für Militäreinsätze ausreichend. Diese Klausel kann als Einstieg in die Möglichkeit kollektiver militärischer Reaktionen auf „Krisen“ innerhalb einzelner MS dienen. Zu ihrer Anwendung soll der MR einen Beschluss fassen (Art. III-231).

Europäische Sicherheitsstrategie

Der im Entwurf enthaltene Verfassungsauftrag zur Militarisierung der EU korrespondiert mit der neuen Europäischen Sicherheitsstrategie vom 12. 12. 2003[13]. Diese ist zwar kein bloßer Abklatsch der Präventivkriegsstrategie der USA. Unterschiede sind unverkennbar und nicht unwichtig. Die EU-Strategie betont die Rolle multilateraler Systeme und Institutionen, vor allem der VN und ihrer Charta, und des Völkerrechts. Aber am Ende treffen sich beide Strategien. Auch die EU will „unser herkömmliches Konzept der Selbstverteidigung“ überwinden, weil „die erste Verteidigungslinie oftmals im Ausland liegen“ wird. Nach der Strategie ist der Einsatz militärischer Mittel außerhalb der Selbstverteidigung nach Art. 51 der Charta und ohne einen Beschluss des SR nach Kapitel VII möglich. „Jede dieser [neuen] Bedrohungen erfordert eine Kombination von Instrumenten“, nämlich von militärischen und zivilen. Es wird „ein frühzeitiges, rasches und wenn nötig robustes Eingreifen“ angekündigt, und das unter dem Namen „Strategie-Kultur“. Die Unterscheidung zum Konzept des Präventivschlags Bushs verwischt sich. Auch die Rüstungsverpflichtungen des Verfassungsentwurfs sind in der Europäischen Strategie enthalten.

Transatlantische Beziehungen

Das Verhältnis der EU zur NATO und die transatlantischen Beziehungen, deren einer Pfeiler die EU sein soll, werden im VVE-E nicht näher definiert. Ein ausdrückliches Bekenntnis zu den transatlantischen Beziehungen und zur „strategischen Partnerschaft“ zwischen NATO und EU fehlt. Das ist umso bemerkenswerter, als es einen Titel „Die Union und ihre Nachbarn“ mit einem Artikel I-56 gibt, wonach die EU „besondere Beziehungen zu den Staaten in ihrer Nachbarschaft“ entwickelt.

In Art. III-229, der die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen regelt, ist die NATO im Unterschied zur UNO, dem Europarat, der OSZE und der OECD nicht ausdrücklich genannt. Die NATO taucht im VVE-E nur in Art. I-40,7 auf. Die Zusammenarbeit mit der NATO bei der Durchführung von Kampfeinsätzen und anderen militärischen „Missionen“ bleibt verfassungsrechtlich ungeregelt. Das Fehlen entsprechender Verfassungssätze ist nach meiner Meinung latenter Ausdruck der Widersprüche zwischen den USA und Teilen der EG. Die USA wollen eine starke europäische Militärkomponente, aber unter ihrer Führung. Die Europäer wollen militärisch eigenständig handeln können, vermeiden aber verfassungsrechtliche und damit schwer veränderbare Festschreibungen der Konsequenzen für das transatlantische Verhältnis.

Zur Beruhigung wird außerhalb des Verfassungsvertrags, zuletzt in der Europäischen Sicherheitsstrategie und in der Erklärung des ER zu den transatlantischen Beziehungen vom Dezember 2003, der NATO und der Vorherrschaft der USA die nötige Achtung gezollt. Der erste Satz der Erklärung lautet: „Die transatlantischen Beziehungen sind unersetzlich. Die EU bekennt sich weiterhin uneingeschränkt zu einer konstruktiven, ausgewogenen und zukunftsgerichteten Partnerschaft mit unseren transatlantischen Partnern.“ Im übrigen bestehen Vereinbarungen zwischen der EU und der NATO, die die ständige Zusammenarbeit gewährleisten und regeln.

Keine Vergemeinschaftung von GASP und GSVP

In der GASP und noch mehr in der GSVP herrscht nach dem VVE-E auch in Zukunft das Prinzip der Einstimmigkeit der Regierungen der MS.[14] Das ist immerhin besser als die Möglichkeit, bestimmte MS durch Mehrheitsbeschluss zur Beteiligung an Militäraktionen zu zwingen. GASP und GSVP sind nach wie vor nicht „vergemeinschaftet“. Die MS zeigen trotz der beschworenen gemeinsamen Werte und Ziele wenig Bereitschaft, in diesem Kernbereich der Souveränität auf Hoheitsrechte zu verzichten und sie auf die EU zu übertragen. Die Weichen werden schon bei der Definition der Beziehungen zwischen der Union und den MS in Art. I-5 gestellt: Die Union „achtet die grundlegenden Funktionen des Staates, insbesondere die Wahrung der territorialen Unversehrtheit, die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und den Schutz der inneren Sicherheit“ (Art. I-5,1 Satz 2). Bemerkenswert ist, dass die Wahrung der territorialen Unversehrtheit der MS vorsichtshalber ganz außerhalb von GASP und GSVP postuliert ist. Beim Schutz ihrer territorialen Unversehrtheit wollen sich die MS nicht auf die EU verlassen, sondern die Sache in den eigenen Händen behalten.

Nach Art. I-39 bestimmt der ER, also das Gremium der Staats- und Regierungschefs, „die strategischen Interessen der Union und legt die Ziele ihrer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik fest“ und zwar durch Konsens. Der MR in der Zusammensetzung der Außenminister „gestaltet diese Politik“ in diesem Rahmen. Die einzelstaatlichen Exekutiven entscheiden also nach den Machtinteressen und den gegeben Kräfteverhältnissen. Die MS stimmen einander ab, konsultieren einander, befleißigen sich konvergenten Handelns, sind untereinander solidarisch – so lauten die Floskeln der „Besonderen Bestimmungen“ für die Durchführung der GASP (Art. I-39). Die „Besonderen Bestimmungen“ über die Durchführung der GSVP sind noch deutlicher auf das Entscheidungsrecht der Regierungen orientiert (Art. I-40).

Im Bereich von GASP und GSVP gelten besondere Entscheidungsverfahren, die die Dominanz der Regierungen sichern. Die Grundsatzentscheidungen werden vom ER durch Europäische Beschlüsse getroffen. Ein Europäischer Beschluss hat als „gesetztes Recht“ der EU Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten (Art.I-10,1). Ein solcher Beschluss geht also auch dem deutschen Grundgesetz vor. Er ist „ein Rechtsakt ohne Gesetzescharakter, der in allen seinen Teilen verbindlich ist“ (Art. I-32,1). Zu Fragen der GASP erfordert ein Europäischer Beschluss im ER (Art. I-20,4) und in der Regel auch im MR Einstimmigkeit (Art. I-39,7). Für den MR sind Ausnahmen vorgesehen, wo die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit erfolgt (Art. III-201,2). Sie betreffen Durchführungsbeschlüsse zu bereits einstimmig verabschiedeten Europäischen Beschlüssen. Wenn ein MS im MR „aus ganz wesentlichen Gründen der nationalen Politik“ erklärt, einen mit qualifizierter Mehrheit zu fassenden Beschluss abzulehnen, erfolgt keine Abstimmung, sondern es wird eine „annehmbare Lösung“ angestrebt. Wenn diese misslingt, entscheidet letzten Endes der ER und zwar einstimmig (Art. III-21). Der ER kann ohne Verfassungsänderung weitere Fälle von Beschlussfassungen des MR mit qualifizierter Mehrheit festlegen – aber wiederum einstimmig. Die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit gilt nicht für Beschlüsse „mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen“, wobei offen bleibt, worin diese „Bezüge“ bestehen.

Somit hat es „eigentlich“ jeder MS in der Hand, Beschlüsse über Militäreinsätze durch seine Gegenstimme zu verhindern. Aber abgesehen von der Durchschlagskraft realer Machtverhältnisse sind prozedurale Vorkehrungen dafür getroffen, dass die GASP und die GSVP auch bei Widerspenstigkeit einzelner EU-Staaten verwirklicht werden und die Mächtigen ihren Willen durchsetzen können.

Abgestufte Militärintegration

Vorgesehen ist ein ganzes System abgestufter außen-, sicherheitspolitischer und militärischer Integration mit wechselnder Teilnehmerschafft. Das Auswärtige Amt nennt sie „Flexibilitätsinstrumente“. „Kerneuropa“-Konstrukte und Sonderkoalitionen unter dem Dach der EU zur Durchführung von Kampfeinsätzen sind damit jederzeit möglich.

Erstens gibt es das Verfahren einer „konstruktiven Enthaltung“ (Art. III-201). Stimmenthaltung im MR steht dem Erlass eines Beschlusses nicht entgegen. Der sich enthaltende MS kann eine förmliche Erklärung abgeben, dass er den Beschluss als für die EU bindend betrachtet und seine Durchführung nicht behindern wird. Er ist dann nicht verpflichtet, den Beschluss durchzuführen. Dieses seltsame Verfahren soll offenbar Bedenkenträger und Widerspenstige neutralisieren.

Zweitens kann der MR „eine Gruppe von Mitgliedstaaten mit der Durchführung einer [GSVP-] Mission im Rahmen der Union beauftragen“ (Art. I-40,5 und III-211). Die “Fähigen” und “Willigen” können vorgeschickt werden, ohne dass alle mitmachen müssen.

Drittens sieht der VVE-E die Möglichkeit der „strukturierten“ Zusammenarbeit nach Art. I-40,6 und III-213 vor: „Die Mitgliedstaaten, die anspruchsvollere Kriterien in Bezug auf die militärischen Fähigkeiten erfüllen und die im Hinblick auf Missionen mit höchsten Anforderungen untereinander festere Verbindungen eingegangen sind, begründen eine strukturierte Zusammenarbeit im Rahmen der Union.“ Das ist ein militärisches Sonderbündnis der Fähigen und Willigen innerhalb der EU auf Dauer. Wer später zu diesem Bündnis hinzustoßen will, kann sich nicht einfach anschließen, sondern muss durch die Zustimmung des MR in der Zusammensetzung der ursprünglichen Teilnehmer in dieses Sonderbündnis aufgenommen werden (Art.III-213,2).

Viertens steht das für alle Politikbereiche gültige, aber schwerfällige Instrumentarium der „verstärkten“ Zusammenarbeit nach Art. III-322ff. auch für die GASP zur Verfügung. Die Ermächtigung zur Einrichtung einer „verstärkten“ Zusammenarbeit erteilt der MR. In diesem Punkt hat der EU-Gipfel den VVE-E geändert.[15] Es wurde klargestellt, dass die „verstärkte“ Zusammenarbeit im Rahmen der Außen- und Sicherheitspolitik und die Aufnahme weiterer Staaten nur durch einen einstimmigen Europäischen Beschluss des Rats bewerkstelligt werden kann und dass von diesem Einstimmigkeitsprinzip auch durch einstimmigen Beschluss des Rats nicht abgewichen werden kann (Art. III-325,2; Art. III-326,2 und Art. III-328).

Kaltgestellte EU-Organe

Die Kommission wird nach dem VVE-E im allgemeinen gestärkt. Im Bereich des auswärtigen Handelns hat sie Kompetenzen in der Handels- und Entwicklungspolitik, beim Abschluss internationaler Übereinkünfte und bei der Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen und Drittländern. In den Kernbereichen des auswärtigen Handelns, nämlich der GASP hat sie wenig zu sagen, ihre Rolle wird hier sogar geschmälert. In der GSVP besitzt sie praktisch keine Kompetenz. Die Zusicherungen des Art. 27 EUV („Die Kommission wird in vollem Umfang an den Arbeiten im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik beteiligt“) und des Art. 18 EUV sind im VVE-E nicht mehr enthalten. Auch den Art. 22 EUV, wonach die Kommission den Rat mit einer GASP-Frage befassen, ihm Vorschläge unterbreiten und eine außerordentliche Ratstagung beantragen kann, und den Art. 14 Abs. 4, wonach der Rat die Kommission zur Unterbreitung von Vorschlägen für gemeinsame Aktionen im Rahmen der GASP ersuchen kann, finden sich im VVE-E nicht mehr. Europäische Gesetze, für deren Vorschlag die Kommission zuständig wäre (Art. I-25, 2), sind in diesem Bereich ohnehin ausdrücklich ausgeschlossen (Art. I-39, 7 Satz 3). Das Rüstungsamt soll seine Aufgaben „erforderlichenfalls in Verbindung mit der Kommission“ versehen (Art.III-212, 2). Vom Aushandeln einer internationalen Übereinkunft, die sich „ausschließlich oder hauptsächlich auf die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik bezieht“, wird die Kommission ferngehalten (Art. III-227,3).

An dieser peripheren Rolle der Kommission auf dem Gebiet von GASP und GSVP ändert auch der delikate „Doppelhut“ des anstelle der bisherigen Troika[16] vorgesehenen Außenministers der Union nichts. Dieser Außenminister ist zwar zugleich einer der Vizepräsidenten der Kommission. Er „leitet“ die GASP und „handelt ebenso“ im Bereich der GSVP, was „Leiten“ und „Handeln“ auch immer heißen soll. In diesen Politikbereichen wird er aber nicht als Kommissionsvizepräsident tätig, sondern im Auftrag des ER und des MR (Auswärtige Angelegenheiten). Er wird vom ER mit Zustimmung des Präsidenten der Kommission ernannt. Als Vizepräsident der Kommission und „dort“ ist er mit Außenbeziehungen der Union nur insoweit betraut, als eine Zuständigkeit der Kommission besteht (Art. I-27). Und die besteht in GASP und GSVP kaum oder gar nicht.

Der Außenminister soll eine starke Stellung einnehmen. Er hat Vorschlagsrechte im ER und im MR und führt im MR (Auswärtige Angelegenheiten) den Vorsitz (Art. I-23,2) ohne Stimmrecht. Er vertritt die EU im Bereich der GASP nach außen (Art. III-197), leitet die Sonderbeauftragten und Vertreter der EU in Drittstaaten und bei internationalen Organisationen. Er soll über einen eigenen diplomatischen Dienst verfügen. Man darf gespannt sein, wie er sich mit dem neu vorgesehenen Präsidenten des ER verträgt, der nach Art. I-21,2 „auf seiner Ebene unbeschadet der Zuständigkeit des Außenministers der Union die Außenvertretung“ der EU in Angelegenheiten der GASP (nicht der GSVP) wahrnimmt. In Art. III-194 wird die Zwitterstellung des Außenministers zwischen Rat und Kommission noch einmal deutlich: „Der Außenminister der Union und die Kommission können dem Ministerrat gemeinsame Vorschläge vorlegen, wobei der Außenminister für den Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik und die Kommission für die anderen Bereiche des auswärtigen Handelns zuständig ist.“ (Art. III-194,2) Was bei dieser strengen Arbeitsteilung an „Gemeinsamkeit“ der Vorschläge übrig bleibt, ist schwer zu ermessen.

Dem Gerichtshof, der zu den Organen der Union gehört, wird ausdrücklich be­stätigt, dass er für Angelegenheiten der GASP und der GSVP nicht zuständig ist (Art. III-282,1). Die festgelegten Ausnahmen betreffen Zweitrangiges.[17]

Entmachtetes Parlament

Im Bereich von GASP und GSVP ist mit dem Entwurf ein schlimmes und völlig inakzeptables Demokratie-Defizit der EU festgeschrieben: Der Ausschluss des Europäischen Parlaments (EP) von der Mitentscheidung und Kontrolle. Diese Entmachtung des EP widerspricht den im Entwurf beschworenen Werten der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit und seinen friedensorientierten Zielen. Der Entscheidungseinfluss des EP in diesen Fragen tendiert gegen Null. Die bisherige Entmachtung des EP durch Art. 21 EUV wurde fortgeschrieben. Mit der Verfassung soll keinerlei Erhöhung des Einflusses des EP in außen- und sicherheitspolitischen Fragen stattfinden. Der Außenminister der EU muss sich im Kollektiv der Kommissionskandidaten dem Zustimmungsvotum des EP stellen (Art.I-26,2). Das ist das einzige wirkliche Entscheidungsrecht des EP. Lediglich über das Haushaltsrecht könnte vielleicht ein kleiner Einfluss geltend gemacht werden, soweit GASP und GSVP überhaupt aus dem Haushalt finanziert werden. Bei Ausgaben „aufgrund von Maßnahmen mit militärischen oder verteidigungspolitischen Bezügen“ ist das nicht der Fall. Diese Maßnahmen werden von den MS bezahlt (Art.III-215).

Ansonsten wird das EP ausdrücklich reduziert auf Anhörung und Unterrichtung. So heißt es in Art. I-39,6: „Das Europäische Parlament wird zu den wichtigsten Aspekten und den grundlegenden Weichenstellungen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik regelmäßig gehört und über ihre Entwicklung auf dem Laufenden gehalten“. Das EP hat nichts zu entscheiden, es wird lediglich gehört und auf dem Laufenden gehalten, aber nicht zu allen Aspekten, sondern nur zu den wichtigsten und nicht zu allen Weichenstellungen der GASP, sondern nur zu den grundlegenden. Das EP kann folgenlose Anfragen und unverbindliche Empfehlungen an den MR und den Außenminister richten. Statt einmal jährlich wie bisher darf es nun zweimal jährlich „über die Fortschritte bei der Durchführung“ von GASP und GSVP debattieren. (Art. III-206) Besonders augenfällig wird die Ohnmacht des EP in seinem verfassungsrechtlichen Verhältnis zum Außenminister. Dieser „hört das Europäische Parlament ... an und achtet darauf, dass die Auffassungen des Europäischen Parlaments gebührend Berücksichtigung finden“ (Art. III-205). Welch eine undemokratische und rechtsstaatswidrige Umkehrung des Verhältnisses von Legislative und Exekutive! Müsste nicht umgekehrt das EP den Minister anhören, ihn kontrollieren? „Darauf achten“ und „gebührende Berücksichtigung finden“ sind verschwommene Phrasen ohne fassbaren und verpflichtenden Inhalt. Selbst in einer solchen Einzelfrage wie dem Abschluss von Übereinkünften wird sorgfältig vermieden, dass nicht doch ein Recht des EP unterläuft. In Art. III-227,7 wird eigens festgelegt, dass beim Abschluss von Übereinkünften, die ausschließlich die GSVP betreffen, das EP nicht gehört werden muss.

Die Außen- und Sicherheitspolitik gehört in den MS der EU zur Prärogative der Regierung gegenüber dem Parlament. In keiner Verfassung ist aber eine so weitgehende Entmachtung des Parlaments auf dem Gebiet der Außenpolitik, des Krieges, des Einsatzes militärischer Mittel und des Abschlusses internationaler Vereinbarungen festgeschrieben. Dass diese Entmachtung des EP zum Verfassungsgrundsatz erhoben werden soll, entwertet friedenspolitische Bekenntnisse des VVE-E in ihrer Substanz. Was ist eine Verfassung wert, kraft der er die einzige Institution, die direkt vom Volk gewählt wird, in der lebenswichtigen Frage von Krieg und Frieden nichts zu bestimmen hat?

[1] Ich beziehe mich im Folgenden auf den Entwurf des Europäischen Konvents „Vertrag über eine Verfassung für Europa“ vom 13. Juni und 10. Juli 2003. Die Bezeichnung „Verfassung für Europa“ ist anmaßend, denn Europa reicht bis zum Ural.

[2] Vgl. dazu Norman Paech, Eine Europäische Verfassung – so nicht!, in: Europäische Union in guter Verfassung?, Marxistisches Forum H. 47, Berlin, März 2004; Andreas Wehr, Wer regiert in Europa?, Z. Zeitschrift Marxistische Erneuerung 58, Juni 2004.

[3] Im geltenden EU-Vertrag ist ein Austritt aus der EU nicht vorgesehen. Der VVE-E sieht dagegen in Art. I-59 die Möglichkeit eines Austritts vor. Die Regelung ist äußerst dubios. Es soll nämlich ein Abkommen über die Modalitäten des Austritts ausgehandelt werden. Dafür ist nach Zustimmung des EP ein Beschluss des MR mit qualifizierter Mehrheit erforderlich. Was passiert, wenn die Zustimmung und der Beschluss nicht erreicht werden, bleibt offen.

[4] BGBl 2001 II 1666. Der Vertrag ist seit 26. 2. 2003 in Kraft.

[5] Die Charta wurde von der Konferenz der Staats- und Regierungschefs der EU in Nizza als politisches Dokument ohne rechtliche Verbindlichkeit verabschiedet.

[6] Dort ist von der Förderung von „Frieden, Sicherheit und Fortschritt in Europa und in der Welt“ die Rede.

[7] Nach Art. 25 GG sind die allgemeinen Regeln des Völkerrechts Bestandteil des Bundesrechts und gehen den Gesetzen vor. In Art. 10 Abs. 1 der Verfassung Italiens heißt es: „Die italienische Rechtsordnung passt sich den allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts an.“ In den Verfassungen der anderen EU-MS finden sich allerdings keine vergleichbaren Bestimmungen.

[8] In Art. 11 EUV wird noch auf diese zwei KSZE-Dokumente verwiesen.

[9] Bemerkenswert ist, dass die GASP und die GSVP zwar allgemein zur Zuständigkeit der EU erklärt werden, aber als zum Bereich mit geteilter Zuständigkeit gehörig in Art. I-13 nicht aufgeführt werden. Für GASP und GSVP gelten also besondere Zuständigkeitsregelungen.

[10] Art. 19 Abs. 2 EUV enthält einen Hinweis auf die besondere Verpflichtung derjenigen MS, die ständige Mitglieder des SR sind: Sie „werden sich bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben unbeschadet ihrer Verantwortlichkeiten aufgrund der Charta der Vereinten Nationen für die Standpunkte und Interessen der Union einsetzen“. In Art. III-206 VVE-E wurde diese Verpflichtung kurzer Hand auf alle MS, die Mitglieder des SR sind, ob ständige oder zeitweilige, bezogen und damit eine besondere Verpflichtung der ständigen SR-Mitglieder gegenüber der EU gestrichen.

12 Art. 17 Abs. 2 des EUV von Amsterdam erklärte erstmals „friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung einschließlich friedensschaffender Maßnahmen“ zum Repertoire der gemeinsamen Verteidigungspolitik der EU. Damit wurden die sogenannten Petersberg-Aufgaben in den EUV übernommen.

[12] Vgl. dazu Andreas Wehr, Europa ohne Demokratie? Die europäische Verfassungsdebatte – Bilanz, Kritik und Alternativen, Köln 2004, S. 93ff.

[13] Abgedruckt auf der Internetseite des Auswärtigen Amts.

[14] Zum Folgenden vgl. auch Daniel Thym, Die neue institutionelle Architektur europäischer Außen- und Sicherheitspolitik, Archiv des Völkerrechts Bd. 42 (2004), S. 44-66; Walter Obwexer, Der Entwurf eines Verfassungsvertrags für Europa, europa blätter 13 (2004) Nr. 1, S. 16ff. und Kaufmann-Büler in: Grabitz/Hilf, Das Recht der Europäischen Union, Kommentar I, Vor Art. 11–28 EUV.

[15] Annex 13 der vom EU-Gipfel beschlossenen Änderungen und Ergänzungen des Textes des VVE-E, abzurufen über das Internetportal der EU.

[16] Die Außenvertretung der EU nimmt bisher eine Troika wahr, gebildet aus dem Generalsekretär des Rats und Hohen Vertreters der GASP, dem für Außenbeziehungen zuständigen Kommissar und dem Außenminister des MS, der den Vorsitz innehat.

[17] Nach Art. III-282,2 ist der Gerichtshof zuständig für Klagen über die Rechtmäßigkeit von Sanktionen des Rats gegenüber natürlichen und juristischen Personen. Nach Art. III-209 obliegt ihm die Kontrolle von Zuständigkeiten in der GASP.