Vom 20. bis 23. Mai fand in Kassel der 27. Kongress der Bundeskoordination Internationalismus statt, zu dem über 800 TeilnehmerInnen angereist waren, um das „Ende der Bescheidenheit zu feiern“ und unter dem zentralen Begriff der „Aneignung“ über „Alltag, Neoliberalismus und Widerstand“ zu diskutieren.
Das Auftaktpodium am Donnerstag Abend beschäftigte sich mit der Frage, ob der Neoliberalismus in eine Krise geraten oder sogar an sein Ende gelangt sei. Das Reflektieren über die Stabilitätsfaktoren und Dynamiken des Neoliberalismus sollte so die Bedingungen emanzipativen Handelns klarer machen, um eine politische Praxis zu formulieren, die die „Risse im neoliberalen Gebälk zu Brüchen“ werden lässt. Alessandro Pelizzari (attac Schweiz und Uni Fribourg) sah die sozialen Bewegungen mit ihren großen Mobilisierungen gegen den imperialistischen Raubzug im Irak sowie gegen Sozialabbau im Aufwind. Er konstatierte eine Strukturkrise des weltweiten Kapitalismus, seit die früheren VertreterInnen des reformistischen Projekts zu den zentralen AkteurInnen der kapitalistischen Enteignungsökonomie geworden sind. Die anderen TeilnehmerInnen des Podiums äußerten sich demgegenüber etwas skeptischer, was die Beurteilung der Krise des Neoliberalismus angeht.
So betonte Katharina Pühl (b-bookz/Berlin) den prekären aber zugleich außerordentlich stabilen Charakter des neoliberalen Herrschaftsprojekts, mit dem sich neue Herrschaftstechniken herausbildeten, die durch eine Neumischung von Flexibilisierung und Retraditionalisierung (beispielsweise der Geschlechterverhältnisse) einst kritische Konzepte wie „empowerment“ ihrer kritischen Komponente beraubten und über diese Einbindung dem Neoliberalismus zu neuer Stabilität verhälfen. Nicola Bullard (Focus on the Global South/Bangkok) sah zwar in der Peripherie kleine Gruppen, die von einem konkreten Punkt ausgehend (beispielsweise der drohenden Privatisierung der Elektrizität) sich politisierten, international vernetzten und so gegen das neoliberale Projekt Widerstand leisteten, das sich in den Ländern des globalen Südens noch brutaler und auch schon viel länger als in den Metropolen bemerkbar mache. Jedoch könnte die Gründung der G20 dem Neoliberalismus neue Legitimität geben und zu seiner Konsolidierung beitragen, da sie nicht den gesamten neoliberalen Prozess in Frage stelle, sondern nur eine gerechtere Teilhabe der Länder des Südens fordere. Christoph Görg (Uni Frankfurt/M.) sah mit einer gewissen Funktionskrise noch keine Legitimationskrise des Neoliberalismus einhergehen, da dieser sich mittlerweile nicht mehr als Chance zur Veränderung zum Besseren (Reformstau), sondern als Sachzwang zu legitimieren vermöge. Ein Großteil der sozialen Bewegungen hierzulande stelle die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen nicht in Frage und beschränke damit seinen Horizont (selbst), wenn er über Alternativen nachdenke, wie auf dem eine Woche zuvor stattfindenden Perspektivenkongress in Berlin. Görg betonte, dass es gefährlich sei, jede Krise vorbehaltlos als Chance wahrzunehmen, da Krisendynamiken viele Dimensionen hätten, deren politische Auswirkungen nur schwer abgeschätzt werden könnten. Wohl einig waren sich die TeilnehmerInnen des Podiums darüber, dass die emanzipatorischen Teile der globalen Widerstandsbewegungen noch kein politisches Projekt vorschlagen könnten, das im Gegensatz zu neokeynesianischen Vorschlägen „nachhaltig“ und insofern auf der Höhe der Zeit wäre, von den Bedürfnissen der Menschen aus systemtransformierende Vorschläge zu machen. Ob dieser Wunsch nach radikaler Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, der die KongressteilnehmerInnen einte, eher als radikaler Minimalkonsens (Pelizzari) oder eher als solidarischer Konflikt (Pühl) formuliert werden sollte, blieb unbeantwortet.
An den darauf folgenden Tagen wurde in drei verschiedenen Blöcken mit je eigener Auftaktveranstaltung zu Arbeit und sozialer Reproduktion, zu Privatisierung und Sozialen Rechten und Recht auf Legalisierung diskutiert. Im Mittelpunkt der Diskussionen stand meist der Begriff der Aneignung, der in den unterschiedlichen Workshops auch mit recht verschiedenen Inhalten gefüllt wurde.
Christian Zeller (Uni Fribourg) betonte vor allem die Dimension der Aneignung von der Kapitalseite her. Grund für die stattfindenden Enteignungsprozesse sei die Krisenhaftigkeit des kapitalistischen Akkumulationsregimes, welche deutlich aufzeigen würde, dass erweiterte Reproduktion für die Kapitalakkumulation nicht ausreiche. Neben den immer noch aktuellen Prozessen der ursprünglichen Akkumulation sind neue Formen der Aneignung in dem Wandel der Universitäten hin zu universitären Produktionsstätten für Unternehmen und in der Patentierung natürlicher Ressourcen zu sehen. Insbesondere für Patentwesen und Biopiraterie wollte Christoph Görg lieber von Inwertsetzung sprechen, um so die Formbestimmtheit zu betonen. So gehe es heute oft um eine Unterminierung von Formen der einfachen Warenproduktion. Leitender Gedanke ist somit die Kapitalverwertung. Strategien von unten würden für Görg am ehesten im Kampf gegen die Ausweitung des absoluten Mehrwerts, also in den Auseinandersetzungen um den Preis der Ware Arbeitskraft greifen. Hier wollte auch die Gruppe Kritik & Praxis Berlin ansetzen. Sie schlugen aus der Kritik am Stehenbleiben der Umsonst-Kampagnen auf der Verteilungsebene heraus eine neue Form der Klassenpolitik ohne StellvertreterInnenhabitus vor, die die Thematisierung von prekarisierten Arbeitsverhältnissen als neues Normalarbeitsverhältnis und die Agitation gegen neoliberale Moralkampagnen („illegal ist asozial“) in den Mittelpunkt stellt. Heutzutage sei es unerlässlich, die eigenen Konzepte ständig auf die mögliche Stabilisierung der neoliberalen Ideologie zu befragen. In Anlehnung an Foucault arbeitete Stephanie Graefe heraus, wie neoliberale Gouvernementalität sich der Anrufung eines autonomen Subjektes bediene, das in der Ich-AG eines sich selbst steuernden Subjektes auf die Spitze getrieben sei.
Thomas Seibert unterschied verschiedene Typen von politischen Kämpfen, die sich im Hinblick auf ihr Verhältnis zum Staat bzw. dem Stellenwert von Autonomie bestimmen ließen. Während Verteilungs- und Anerkennungskämpfe den Staat als Adressat hätten (müssten) und ihre Erfolge an dessen Zugeständnissen messen, seien Aneignungskämpfe unmittelbarer, in denen die Subjekte autonom handelten. Autonomie solle dabei nicht als völlige Unabhängigkeit des einzelnen Subjekts gedacht werden, sondern in dem Sinne, dass die Bewegung autonom gegenüber dem bürgerlichen Staat und seiner Institutionen handele. Aneignung könne so erst einmal als Wiederaneignung von politischen Räumen in der Fabrik, der Schule, dem Stadtteil und der Uni gedacht werden, die in Zeiten neoliberaler Verwertbarkeit zunehmend als politische Räume enteignet worden sind.
Der BUKO wird immer mehr zu dem politischen Raum, auf dem sich sämtliche Gruppen und Einzelpersonen, die radikale linke Politik jenseits von Parteistrukturen machen, treffen und diese theoretisch und praktisch überdenken. Der BUKO hat sich in den letzen Jahren zu antifaschistischen, antimilitaristischen, patriarchatskritischen, um die Rechte für Migrantinnen und Migranten kämpfenden und sozial-ökologisch agierenden Spektren (alternativ: zu vielen nicht primär aus der Solidaritätsbewegung kommenden Spektren) geöffnet und ist damit zur kritischen Instanz der Bewegung geworden, in der Debatten und Selbstverständigungprozesse der internationalistischen Linken kontrovers ausgetragen werden.[1] So trafen sich auch die Umsonst-Kampagnen aus zahlreichen Städten, um über ihren Versuch zu reflektieren, Aneignung in die politische Praxis zu übertragen. Dieses offensive Konzept versucht an individuellen Bedürfnissen anzusetzen und die zunehmende Nicht-Mehr-Verfügbarkeit von Waren und Dienstleistungen zu thematisieren. Damit soll an Alltagspraxen vieler Menschen wie Schwarzfahren und Klauen angeknüpft werden, um diese zu politisieren. Zum ersten Mal auf einem BUKO war am Samstag Nachmittag Gelegenheit, unter dem Motto „BUKO goes downtown“ neben dem Theaterstück der BUKO-Pharmakampagne verschiedene Aneignungsideen auch praktisch umzusetzen.
Auf dem moderierten Abschlussbuffet wurde dann versucht, die unterschiedlichen Dimensionen des Aneigungsbegriffs zusammenzubringen, was aber nicht unbedingt gelang, da sich keineR so recht dazu äußern wollte, wie der Begriff der Aneignung sich denn nun jetzt für linke politische Praxis eignet. So bleibt abzuwarten, wie sich die Aneignungsdebatte weiterentwickelt, wobei auf jeden Fall positiv zu verzeichnen ist, dass sehr viele politische Kämpfe der letzten Jahre sich unter dem Label der Aneignung wiederfinden und sich so vielleicht trotz ihrer Heterogenität und Vielfalt zusammen führen lassen.
Während auf dem BUKO wohl Einigkeit darüber herrschte, dass an den Staat lediglich appellierende oder auf seine Machtübernahme ausgerichtete Politik keine sinnvolle linke Strategie (mehr) sein kann, wird genauso ein Politikverständnis kritisiert, das lediglich den eigenen Alltag in den weniger durchkapitalisierten Nischen ins Zentrum politischen Handelns stellt, da dies nur zu oft in (systemkonforme) Selbstausbeutung übergeht, wie Alix Arnold am Beispiel der zunehmenden Entpolitisierung der besetzten Fabriken in Argentinien verdeutlichte.
Auch wenn sich die Vorstellung von Internationalismus im Sinne einer klassischer Reflexion entwicklungspolitischen Engagements verändert hat, hin zu der Perspektive, dass Internationalismus heisst, die eigenen Gesellschaften zu verändern, gelang der Blick über den bundesdeutschen Tellerrand. So gab beispielsweise eine Veranstaltung zur Einschätzung der Politik der Regierung Lula die Möglichkeit, von mehreren brasilianischen AktivistInnen verschiedener sozialer Bewegungen ihre Sicht der Dinge aus erster Hand zu erfahren. Die zweite große Podiumsveranstaltung, die osteuropäische Perspektiven internationalistischer Politik auf die Osterweiterung der EU geben sollte, blieb zwar leider bei der Bestandsaufnahme stehen, was es an globalisierungskritischen Bewegungen und linken Organisationen in Polen, Rumänien und Ungarn gibt und mit welchen Themen diese sich zur Zeit beschäftigen. Dies war dennoch eine lohnenswerte Perpektivenerweiterung für die internationalistische Linke hierzulande, die sich wohl auch weiterhin die Kritik gefallenlassen muss, dass sie sich mit sozialen Kämpfen in Lateinamerika wohl viel besser auskennt als mit denen bei ihren geografischen Nachbarn.
[1] Vgl. Christopher Vogel und Uli Brand in der Jungen Welt 15./16.5.04, Nr.111, S.10f