Berichte

Wahlalternative, Wahlalternative?

Bundeskonferenz der „Wahlalternative 2006", Berlin, 20. Juni 2004

September 2004

Der Vorstoß, die erste Bundeskonferenz der Initiative „Wahlalternative 2006“ vom 6. Juni auf den 20. Juni 2004 zu verschieben und damit die Wahlergebnisse der Europaparlamentswahlen abzuwarten, erhöhte die Brisanz dieser Zusammenkunft in der Berliner Humboldt-Universität.

Die Alles in Allem fünfstündige Konferenz im vollbesetzten Audimax eröffnete Sabine Lösing, Mitglied des Arbeitsausschusses Wahlalternative. Lösing betonte zunächst das breite Interesse an einer politischen Vertretung der außerparlamentarischen Opposition. Die Demonstrationen vom 1. November 2003 und 3. April 2004 und die knapp 10.000 Registrierungen auf der Internet-Seite der Wahlalternative (www.wahlalternative.de) sowie der Aufbau von regionalen Basisgruppen bestätigten das gesellschaftliche Bedürfnis nach einer (Wahl-)Alternative, die sich im politischen Spektrum als Interessenvertretung der ArbeitnehmerInnen verstünde. Die PDS sei im Westen nicht angekommen und trage dort, wo sie mitregiere, auch die neoliberalen Maßnahmen mit. Da die SPD ihre Funktion als der politische Arm der ArbeitnehmerInnen und der Vertretung der außerparlamentarischen Opposition verloren habe, eröffne sich ein politisches Vakuum, das die Wahlalternative bestrebt sei zu füllen. Gegen die Tendenz der Marginalisierten und von der Marginalisierung Bedrohten zur Wahlenthaltung, zur CDU oder gar zum Rechtspopulismus gelte es, „die Politisierung der Gesellschaft durch die Wahlalternative zu fördern.“ Das Bündnis der Gewerkschaften mit der SPD als dem „kleineren Übel“ müsse gelöst, die „politische Lücke“ gefüllt werden. Beifall erhielt Lösing für die Forderung nach einer Wiedereinführung der Vermögenssteuer und anderer umverteilender Gesetzeswerke und ihre Absage an Regierungsbeteiligungen. Es könne nicht um die „Gründung einer neuen Partei alten Typs“ gehen, stattdessen müsse die enge Verknüpfung mit der außerparlamentarischen Opposition gewährleistet sein, wobei eine Sammlungsbewegung denkbar wäre, deren Spitze ein Wahlbündnis bilde.

Im folgenden Redebeitrag rechnete der frühere Vorsitzende der IG Medien, Detlef Hensche, mit besonderer Schärfe mit der SPD und der Regierung ab. Die herrschende Politik sei sozial unverantwortlich, volkswirtschaftlich irrsinnig, zukunftsblind und zynisch. Die SPD sei Teil eines sozialdarwinistischen „Allparteienregimes“. In der SPD existierten heute keine Kräfte für eine Erneuerung der Partei. Die häufig mit Bezug auf die „Demokratischen Sozialisten“ in den 80er Jahren vertretene These von der Unmöglichkeit von Parteigründungen links von der SPD sei Unsinn. Seine eigenen Bedenken richteten sich eher auf die Gefahr einer zu „engen als einer zu schnellen Parteigründung“. Parteien ohne gesellschaftliche Gegenmacht seien heute „zur Ohnmacht verdammt.“ Eine neue Partei müsse in den sozialen Bewegungen verankert sein und zu einer Verbreiterung des gesellschaftlichen Protests führen. Sie sei die „Fortsetzung der sozialen Bewegungen im parlamentarischen Raum.“ An eine Regierungsbeteiligung sei jedoch unter den heutigen Bedingungen nicht zu denken: „Solange man in der Gesellschaft in der Opposition ist, solange kann es im Parlament nicht anders sein! Alles andere wäre ein Widerspruch in sich.“ Es gelte, einen langen Atem zu haben und den Protest um ein politisches Projekt mit dem „Mut zur konkreten Utopie“ zu erweitern. Jenseits der „unerotischen Verbissenheit der Defensive“ gebe es zahlreiche Anknüpfungspunkte im Kampf um die „Wiederaneignung des Gemeinwesens“. Über die Verteidigung des Sozialstaates hinaus ginge es heute vor allem aber auch um ein adäquates Reagieren auf die neuen Arbeitsformen und die Durchsetzung einer „geschlechterdemokratischen Arbeitsteilung“.

Der Redebeitrag der Studierendenvertreterin Nele Hirsch setzte sich mit den Erwartungen der Studierenden an die Wahlalternative auseinander. Die (Berliner) Studierendenstreiks hätten sich vorderst gegen die Einführung von Studiengebühren und die Kürzung universitärer Mittel gewandt. Es ginge aber letztendlich um mehr: Die Studierenden sollten sich als Teil einer breiten Bewegung verstehen. Gegen die Desillusionierung der Studierenden sollte die Wahlalternative als Forum für konstruktive Diskussionen dienen. Im Kampf für die zweifelsohne möglichen Alternativen zur Heteronomie der Profitlogik forme der Bildungsbereich einen Teil des größeren Rahmens. Von der Wahlalternative erwarte man eine „Offenheit der Bewegung“.

Peter Wahl (attac) erinnerte in seinem Redebeitrag daran, daß attac der zentrale Akteur der Kritik am Neoliberalismus sei. Wenn es darum gehe, ein neues Projekt im Sinne einer „gesamtemanzipatorischen Perspektive“ aufzubauen, sei attac „zentral betroffen“. Allerdings sei die erst kürzlich mit Blick auf die Wahlalternative entwickelte formale Beschlußlage attacs dahingehend, daß man erstens in der außerparlamentarischen Opposition bleibe, zweitens sich weder an Wahlen noch an Wahlbündnissen beteilige, und daß man sich drittens gegenüber allen Parteien auf eine grundsätzliche Neutralität verpflichte, wobei den individuellen Mitgliedern parteipolitische Aktivitäten freilich nicht verboten seien. Es gelte aus den Erfahrungen der Parteiassimilationen (der Grünen und der PDS), die zu einem „tiefen Mißtrauen gegenüber der Parteipolitik“ geführt haben, zu lernen: die Anpassungsentwicklung der SPD z.B. habe bereits in Weimar ihren Anfang genommen. Man habe es im Kern mit systemischen Anpassungszwängen zu tun. Der Erfolg einer Partei hinge von ihrer Anpassung an die parlamentarischen Mechanismen und die Rituale der Medien ab. Den anvisierten „innovativen Parteitypus“ könne man nur verwirklichen, wenn erstens seine Repräsentanten in den sozialen Bewegungen verankert seien, zweitens man (die Grünen-Entwicklung reflektierend) nichthierarchische Strukturen aufbaue und das Entstehen von Berufspolitikern verhindere und es drittens einen Verzicht auf Entscheidungsmodi wie das Prinzip der absoluten Mehrheit gebe. Bei attac verfahre man deshalb nach dem Prinzip der Konsensbildung. Die sozialen Bewegungen dürften für die Wahlalternative „nicht als Durchlauferhitzer funktionieren.“

Schließlich begründete Anny Heike („Initiative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“) die Geburt der IASG als eine unmittelbare Reaktion auf die Politik der Regierung. Die SPD habe mit der Agenda 2010 ihrer eigentlichen Klientel die Angst um den eigenen Arbeitsplatz und den Druck auf Arbeitslose beschert. Daß die sich immens auf das Leben der Bevölkerung auswirkende EU-Verfassung (Institutionalisierung der neoliberalen Wirtschaftslehre) von – angesichts der Größe der Partei der Nichtwähler – wenig legitimierten Regierungen beschlossen werde, zeige die Tiefe der Demokratiekrise. Heute bedürfe es „früher oder später eines politischen Armes“, allerdings sei es geboten, einen „neuen Typus von Partei“ zu schaffen, der in einem großen, breiten Bündnis wurzele. Hierzu bedürfe es der Generierung der Sehnsucht nach einer anderen Gesellschaft in der Bevölkerung. Die IASG werde zur Verwirklichung der politischen Vision deshalb im Juli 2004 ein demokratisches Programm entwickeln und im Dezember eine Entscheidung für oder gegen eine Parteigründung fällen.

Der anschließende Block setzte sich aus mehreren Arbeitsgruppen zu einem breiten Spektrum von Themengebieten zusammen (Steuerpolitik – Axel Troost; Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik – Heiko Glawe; Niedriglohn und prekäre Beschäftigung/Mindestlohn und Existenzgeld – Gerd Pohl; Arbeitspolitik – Alexandra Wagner; Sozialpolitik/Perspektive Bürgerversicherung – Johannes Steffen; Bildung und Ausbildung – Berit Schröder/Nele Hirsch).

Jörg Huffschmid referierte in der AG „Alternative Wirtschafts- und Finanzpolitik“ über die grundsätzliche Durchführbarkeit einer keynesianischen Wirtschaftspolitik. Das Haupthindernis für eine linke Wirtschafts- und Finanzpolitik sei das Thatchersche TINA-Prinzip („There is no Alternative“). Das wesentliche soziale Problem bestehe in der steigenden Arbeitslosigkeit. Eine politische Forderung müsse die nach einer „postfordistischen Vollbeschäftigung“ sein, und zwar nicht im Sinne eines fordistischen „Ran-ans-Fließband“, sondern im Sinne eines „Rechts auf Erwerbsarbeit und ein selbstbestimmtes Leben.“ Man befinde sich heute in einem zur Depression drängenden wirtschaftspolitischen Teufelskreis aus abnehmendem Wachstum, steigender Arbeitslosigkeit, einer sinkenden Lohnquote und einem folgerichtig sinkenden Konsum. Dies sei ein politisches Problem! Heute setze die Politik im Wesentlichen an der Wachstums- statt an den anderen beiden Schrauben an. Die Verteilungsfrage und die Arbeitslosenproblematik seien am effektivsten über eine öffentliche Beschäftigungspolitik und Umverteilungsmaßnahmen zur Stärkung der Nachfrage zu lösen. Die Wahlalternative müsse sich für ein öffentliches Investitionsprogramm und eine (vielen Zielen dienende) Arbeitszeitverkürzung stark machen. Die Reallohnspielräume seien nicht ausgeschöpft (an die Produktivitätssprünge und die Inflationsrate angekoppelt lägen die Reallöhne heute um 18% höher), Deutschland weise im Vergleich zu Japan und den USA das niedrigste Konsumniveau auf. Eine Rückverteilung vor dem Hintergrund seit Ende der 1970er Jahre steigender Profitraten sei dringend geboten. Man habe aus dem „Teufelskreis“ einen „Tugend- oder Engelskreis“ zu machen, zumal Deutschland auch vor den gegebenen internationalen Kräfteverhältnissen eine solche Option offenstehe, denn Deutschland sei als großer Wirtschaftsraum nicht nur ein bloßer Spielball des Weltmarktes. Die gegenwärtige Massenarbeitslosigkeit sei ein Skandal: Sie sei menschenunwürdig, richte durch den Ausschluß der Arbeitslosen vom Arbeitsmarkt einen immensen Schaden an, stelle durch Steuerausfälle eine enorme fiskalische Belastung dar und wirke darüber hinaus politisch destabilisierend. Die staatliche weitgehende Beseitigung dieses Problems bilde den Schlüssel zur Lösung eines Großteils der anderen Probleme.

Die anschließende Diskussion drehte sich vor dem Hintergrund der Reorganisation der Nationalstaaten zu „nationalen Wettbewerbsstaaten“ im Kern um die Realisierungschancen einer keynesianischen, nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik, wobei die breitenwirksame Ökonomisierung der Gesellschaft sich auch in der in mancherlei Hinsicht mitschwingenden Unsicherheit oder den vielfach verhaltenen Redebeiträgen zur „demographischen Entwicklung“, zur (Nicht-)Wirksamkeit von Arbeitszeitverkürzungen usw. usf. widerspiegelte.

Auf dem Abschlußpodium stimmte schließlich Irina Neszery vom Arbeitsausschuß Wahlalternative die Teilnehmenden auf die weitere Planung ein. Das breite Interesse an der Wahlalternative zeuge von der Notwendigkeit und der Sympathie des gemeinsamen Projekts „Wahlalternative Arbeit und soziale Gerechtigkeit“. Allerdings ginge es zunächst um den steten Aufbau von Orts- und Regionalgruppen, üblicherweise baue man „zuerst das Boot und schnitze dann die Galeonsfigur.“ Es müsse gelingen, die große Spannbreite an Meinungen und Vorstellungen zu übergreifen. Hierfür vonnöten seien Toleranz, gegenseitige Akzeptanz und wechselseitiges Zuhören. Die neue Partei solle keiner traditionellen Partei entsprechen, sondern zu einer, den anderen europäischen Linksparteien ähnelnden Organisation, einer (wirklich) sozialdemokratischen Partei heranreifen. Geeint sei man in der sachlichen Grundlage, die in der Bekämpfung des Neoliberalismus bestehe. Jeder Teilnehmende habe hierzu seine eigene Biographie mit im Gepäck, jetzt gehe es um die konkrete Organisierung, die darin bestehe, die (provisorische) Struktur schnellstmöglich in die Fläche auszudehnen. Hierbei seien einige Bundesländer (Schleswig-Holstein und Hamburg) bereits sehr weit, in NRW existierten bereits Koordinierungskreise, in anderen Bundesländern hinke man ein wenig hinterher. Bernd Riexinger betonte in seiner Abschlussrede, es sei jetzt gestattet, mit einem „gewissen Optimismus nach Hause (zu) fahren.“

Dieser Einschätzung der ersten Bundeskonferenz der Wahlalternative mag mancher sich im Großen und Ganzen anschließen. Legt man die ersten Umfrageergebnisse im Anschluß an die Bundeskonferenz (von Infratest und „Panorama“) zugrunde, denen zufolge es sich mittlerweile 38% der Bundesbevölkerung (gegenüber 24% im Vorfeld von Europawahlen und Konferenz) vorstellen können, einer Partei „Arbeit und soziale Gerechtigkeit“ ihre Stimme zu geben, kann die Berliner Veranstaltung vom 20. Juni 2004 als wirklicher Erfolg gewertet werden. Auch der „Spiegel“ widmete der Wahlalternative im Anschluß an die Bundeskonferenz eine größere Beachtung, nachdem das Medienecho auf die Bundeskonferenz doch eher marginal ausgefallen war, und titelte „Neue Partei könnte SPD gefährlich werden“ (Spiegel, Online-Ausgabe vom 24. Juni 2004). Seither ist die Medienpräsenz der Wahlalternative stetig angestiegen. Alles in Allem stellen sich aber hinsichtlich der Wahlalternative einige wichtige, bisher ungeklärte Fragen, die für den Erfolg dieses Projektes gegen den Neoliberalismus von entscheidender Bedeutung sein werden und die im – zugegebenermaßen engen zeitlichen Rahmen – wenig bis gar nicht thematisiert wurden. Bezüglich des Verhältnisses zur SPD brachten die Teilnehmenden ihre tiefsitzende Wut zum Ausdruck, das ausschlaggebende Verhältnis zur PDS (vgl. hierzu den Beitrag von Florian Weis in „Z“ Nr. 58) kam aber – von einigen polemischen Bemerkungen über die Regierungsbeteiligungen der PDS einmal abgesehen – nicht zur Sprache. Ähnlich steht es um die unerläßliche Integration bereits marginalisierter gesellschaftlicher Schichten jenseits der von ihrer Marginalisierung bedrohten Gewerkschaftsklientel in die Wahlalternative. Diesbezüglich muß die Abwesenheit von ErwerbslosenvertreterInnen als ein Versäumnis und/oder Manko gewertet werden. In diesem Zusammenhang stehen auch ihrem Wesen nach hegemonietheoretische Überlegungen, ob ohne eine weitreichende(re) zivilgesellschaftliche Gegenhegemonie der Eintritt in die politische Gesellschaft ratsam ist bzw. historisch auf der Tagesordnung steht. Tatsächlich ist Joachim Bischoff zuzustimmen, wenn er vor dem Hintergrund des zahlenmäßigen Anstiegs an Wechselwählern in der Aprilausgabe des Sozialismus das dogmatische Festhalten an Gramscis Drei-Phasenmodell als „Strukturkonservatismus“ geißelt. De facto besteht die Hoffnung, daß – wie es auch Mario Candeias in einem Kommentar („Wahlalternative 2006 – Ein stark subjektiver Eindruck“, www.linksnet.de, 09.03.2004) in Aussicht gestellt hat – die Wahlalternative sich zum Katalysator der sozialen Bewegungen machen könnte. Andererseits muß die Konferenz zumindest hinsichtlich ihrer bisherigen Anziehungskraft auf Arbeitslose, Teilzeitarbeitnehmer etc. als Dämpfer gewertet werden. Ebenso beruhte eine Schwäche der Konferenz in ihrer Altersstruktur, denn der Großteil der Teilnehmenden war 40 Jahre oder älter. Die Generation der 25-40jährigen war stark unterrepräsentiert.

Die Hoffnung der SPD-Führung, die Unzufriedenheit der Parteibasis durch den Rücktritt Schröders als Parteivorsitzender und die Übergabe des Amts an Franz Münterfering senken zu können („Münte-Effekt“), hat sich als Illusion erwiesen. Das auf der ersten Bundeskonferenz der Wahlalternative konstatierte „politische Vakuum“ im Bundestag wird fortbestehen. Antworten auf die Frage allerdings, wie sich in Zukunft das Verhältnis zur – aus den Europawahlen und den Thüringer Landtagswahlen gestärkt hervor gegangenen – PDS ge­stalten soll, die sich in den letzten Sonntagsfragen bundesweit konstant oberhalb der 5-Prozent-Hürde gehalten hat, konnten auf der Tagung nicht gegeben werden. Genauso wenig wie Mittel und Wege offenbar wurden, wie es gelingen soll/kann, die unmittelbaren Opfer des Arbeitslosengeldes II für die Wahlalternative zu gewinnen. Ungeachtet dessen mag niemand bestreiten, dass die (für ein linkes Projekt gegenwärtig ungewöhnliche) gestiegene mediale Beachtung der Wahlalternative einer ihrer großen Vorzüge ist. Wegen des nicht notwendigerweise kongruenten Klientels von PDS und Wahlalternative könnte sie dazu beitragen, daß Teile derjenigen, die traditionell der SPD nahestanden, nicht der Politik als solcher enttäuscht den Rücken kehren oder sich gar mangels (subjektiver) Alternativen der CDU oder rechtspopulistischen Parteien annähern.