Der Mensch ist aus dem Tierreich hervorgegangen und mit höheren Tieren genetisch verwandt. Seine körperliche Existenz bedingt, dass er der Natur Mittel für die Fristung seines Lebens entnehmen muss. Aufnahme von Stoffen und Kräften aus der Natur und Ausscheidung von Exkrementen machen den Rhythmus seiner leiblichen Existenz aus, Erzeugung von Nachkommen und deren Aufzucht sichern, als natur- und gesellschaftsbedingte Prozesse, die Kontinuität der Menschengattung in der Folge der Generationen. Das Leben in der Gruppe hat solidarische Elemente zum Inhalt, die in Keimform auch bei höher entwickelten Tieren anzutreffen sind. Mutter-Kind-Beziehungen im Tierreich finden ihre Fortsetzung in der Gattung Mensch. Alles das und noch mehr sind Existenz- und Verhaltensformen, die der Mensch aus der Natur übernommen, von ihr geerbt hat. Er gibt ihnen eine spezifisch menschliche, eine soziokulturelle Dimension, deren natürliche Abkunft zwar nicht unmittelbar sichtbar, jedoch als Basis menschlicher Verhältnisse und Tätigkeiten rekonstruierbar ist. Zu fragen ist, wie weit die Fortsetzung des Natürlichen im Menschlich-Gesellschaftlichen reicht und ob die Natur eine wesentliche formierende Macht der Gesellschaft verkörpert, wie einige neuere Philosophen annehmen.
Natur und menschliches Dasein
Die Gesellschaft ist eine spezifische Existenzform der Materie auf hoher Entwicklungsstufe, die Menschengattung ist durch die Leiblichkeit der Individuen in den Rhythmus der Selbsterhaltung und -reproduktion der natürlichen Organismen einbezogen. Die Vermittlung des Individuums mit der außermenschlichen Natur geschieht nach Gesetzen, die das Dasein und das Verhalten aller Lebewesen regeln. Geburt und Tod, Aufnahme und Ausscheidung von Stoffen hat der Mensch mit allen Lebewesen gemeinsam. Das Spezifisch-Menschliche ist die Art und Weise, wie er die Mittel zum Leben gewinnt: durch materielle Produktion, durch werkzeuggestützte, vernunftgesteuerte Arbeit. Dieser Beziehung liegt ein natürliches Verhältnis zugrunde; jedes Lebewesen ist Glied eines Naturzusammenhangs und durch seinen Platz und seine Funktion in ihm zur Existenz befähigt. Als Naturwesen vermitteln sich die Organismen mit der äußeren Natur und nehmen an deren Erhaltung durch ihre Selbstreproduktion teil. Ohne das wäre die lebende Natur nicht möglich, da sie das geordnete Ganze aller lebenden (und nicht lebenden) Existenzen bildet, deren Dasein an lebende und nicht lebende Materie und die aktiven Beziehungen zu ihnen geknüpft ist. Das gilt auch für den Menschen, der ein Leibwesen ist und lebende wie nicht lebende Materie zur Daseinsvoraussetzung hat. Die Vermittlung mit ihr macht seine leibliche – natürliche – Existenz aus, ohne welche die menschliche Gesellschaft nicht möglich wäre. Die Natur ist das dem Menschen gegenüber Ursprüngliche, sie hat existiert, lange bevor es Menschen, eine menschliche Gesellschaft gab; der Mensch ist aus ihr hervorgegangen, ist ein Abkömmling, ein Produkt der Natur. Dies im geschichtlichen Sinne der Hervorbringung des Menschen durch eine natürliche, vom Menschen nicht angezielte Entwicklung, wie auch im substantialen Sinne, als beständige Daseinsbedingung des Menschen als lebender Organismus.
Die Natur ist das außermenschliche und das dem Menschen innewohnende Sein, das sich nach objektiven Gesetzen als materieller Zusammenhang selbst hervorbringt, selbst organisiert und seine evolvierende Ordnung nach materiellen Formgebungen erzeugt und reproduziert. Die funktionale Stimmigkeit und „Zweckmäßigkeit“ des natürlichen Geschehens ist nicht Ergebnis des Wirkens eines höheren Wesens, eines Gottes, sondern der Natur selbst eigen – ein „Wunder“, das nur aus ihm selbst, seiner objektiven Bewegung und Entwicklung verstanden werden kann, zu seiner Erklärung keiner außer- oder übermenschlichen Instanzen bedarf.
Nach Auffassung von P. Davies besteht eine fundamentale Eigenschaft der Natur in der steten Entfaltung organisierter Komplexität im Universum. In weit vom Gleichgewicht entfernten, offenen, nichtlinearen Systemen mit einem hohen Maß an Rückkopplung existiert „eine Tendenz zur spontanen Selbstorganisation. Solche Systeme sind alles andere als ungewöhnlich, sie sind in der Natur die Norm.“[1] Es ist nicht die Natur schlechthin, die Materie als solche, die ihre dynamische, evolvierende Ordnung hervorbringt, sondern es sind ihr innewohnende spezielle System- und Funktionszusammenhänge, die ihr Dasein ausmachen und es im Prozess der Erhaltung und Bewegung, der Selbstreproduktion substantialisieren.
Komplexität und Selbstorganisation bilden materielle Existenzformen der Natur, sie sind der Materie wesenseigen, ihr nicht von außen eingegeben. Die Selbstorganisation der Natur impliziert nicht ihre fortschreitende Vervollkommnung; der Natur ist kein Ziel prosperierender Selbstentfaltung vorgegeben, ihr gehören auch zerstörerische Widersprüche an, die zu Katastrophen, Vernichtung und Rückentwicklung führen können. Vernunft und Zielbestimmtheit sind keine Elemente des Naturprozesses und -seins, sondern besitzen soziale Qualität.
Gesetze und Notwendigkeiten der organischen Natur (Mutation, Selektion, Rekombination usw.) haben die Sicherung des Daseins der Organismen zum Inhalt. Auch sie sind der Materie eigen und, trotz der staunenswerten funktionellen Ordnung, als Form der Selbstorganisation, durch natürliche Prozesses entstanden und sich entwickelnd. Eine scharfe begriffliche Trennung von Natur und Gesellschaft (Kultur) ist problematisch, da heutzutage anthropogene Veränderungen der Natur in großem Maßstab stattfinden und durch neue Technologien die Natur, die Umwelt des Menschen tiefgreifend verändert wird.
Mit dem Terminus „Natur“ wird ferner der Charakter, die Eigentümlichkeit des Individuums bezeichnet, die ihm biologisch (genetisch) gegeben ist, stärker aber noch von der sozialen Umwelt sowie vom personalen Selbst abhängt. Schließlich ist „Natur“ cum grano salis auch die dem menschlichen Sozialleben und seiner geschichtlichen Entwicklung innewohnende tendenzielle Notwendigkeit (Gesetzmäßigkeit), die, letztlich in der Ökonomie wurzelnd, durch menschliches Handeln nicht beliebig aufgehoben werden kann.
Eine ausdifferenzierte objektive Systemordnung bestimmt das materielle Sein auf allen Stufen, in allen Formen seiner Existenz: als tote Materie, als lebende Materie und als gesellschaftliches Dasein. Die Ordnung des gesellschaftlichen Lebens ist kein von anderen streng getrennter Seinsbereich, sondern ein verändertes Derivat der natürlichen Ordnung, die alles Sein durchwaltet. Zu fragen ist, wie weit die Wirkung dieser Ordnung auf das gesellschaftliche Leben reicht und ob die systemische Funktionalität der Gesellschaft, an menschliche Tätigkeit gebunden, ein Produkt und Konstituens der Gesellschaft selbst oder aber ein Reflex der Natur ist. Die Ordnung der Natur ist in ihrer jeweiligen Form ein Integral von Entwicklung, in ihrer Besonderheit nicht von Anbeginn der Welt an gegeben. Analog besitzt die Ordnung des gesellschaftlichen Lebens historischen Charakter, wandelt sich mit den geschichtlich sich verändernden objektiven und subjektiven Bedingungen, insbesondere dem Charakter und Entwicklungsstand der Produktivkräfte. Offenbar ist die Systemordnung des gesellschaftlichen Lebens eine spezielle Form von Selbstorganisation, die das menschliche Dasein und Handeln reguliert und organisiert. Die Geschichte der Menschengattung ist eine objektive, mit tendenzieller Notwendigkeit wirkende Form von Selbstorganisation und Selbstreproduktion und in diesem Sinne ein Entwicklungsprodukt der Natur.
„Biologische Faktoren bestimmen nicht die soziokulturelle Entwicklung selbst, sondern nur deren allgemeine Grund- und Randbedingungen.“[2] Das gilt allgemein für die Einwirkung der Natur auf die Gesellschaft, für die Konstitution der Gesellschaft aus Naturzusammenhängen. Allerdings sind die gesellschaftlichen Naturverhältnisse keine biologischen Tatbestände, sondern werden durch Arbeit zur Aneignung und zum Verbrauch der Natur formiert, es sind gesellschaftliche an die Natur gebundene Verhältnisse. Da der Mensch nach der Seite seiner leiblichen Existenz ein Naturwesen ist, sind gesellschaftliche Verhältnisse naturvermittelte Verhältnisse. Die Sprache ist eine soziokulturelle Errungenschaft des Menschen, sie unterscheidet sich grundlegend von tierischen Verständigungsarten. Doch ist sie biologisch im menschlichen Gehirn verankert; ohne anatomische Voraussetzungen des Sprachvermögens gäbe es keine Sprache. Sie hat sich in der Auseinandersetzung der gemeinschaftlich handelnden Frühmenschen mit der Natur und der eigenen Gruppe herausgebildet und ist eine Einheit biologischer und sozialer Existenzialien mit Dominanz des Sozialen. Das Natürliche erlangt in der Gesellschaft soziale Bedeutung und Funktion, die Gesellschaft streift ihre Naturwüchsigkeit ab. Über der Naturgebundenheit erhebt sich die Dimension des Sozio-Kulturellen, der vom Menschen mit rationaler Zielsetzung hervorgebrachten, durch Arbeit geschaffenen Wirklichkeit.
Die Gesellschaft ist ein geordnetes Geflecht von Beziehungen, Institutionen und Tätigkeiten, die Menschen zur Fristung und Gestaltung ihres Daseins miteinander eingehen. Während in der außermenschlichen Natur nur materielle Relationen und Kräfte wirken, sind die der Gesellschaft eigenen Zustände, Ereignisse und Prozesse an menschliches Bewusstsein geknüpft, das sich in der Verfolgung besonderer und allgemeiner Interessen von Individuen bekundet, die rational oder/und emotional handeln. Die Gesellschaft als ein Konstrukt vielfältiger, im Verlauf der Geschichte an Wirksamkeit und Differenziertheit zunehmender Einzel- und Gruppenaktionen bedarf zu ihrer Erhaltung objektiver Regelsysteme, die von menschlichem Belieben unabhängig sind und sich kraft eigener Bewegungsimpulse durchsetzen – hierin Naturprozessen ähnlich. Die Gesellschaft besitzt einerseits besondere soziokulturelle Ordnungszusammenhänge, die in der Natur nicht auftreten. Andererseits ist sie Verlängerung der Natur, eine besondere Weise, in der universelle Zusammenhänge zur Wirkung kommen, die als materielle Existenzformen Natur und Gesellschaft gleicher Weise zugehörig sind. Daraus leitet sich die Frage her, ob Gesellschaftsgesetze Besonderungen allgemeiner Naturgesetze sind, oder ob sie von Naturgesetzen und natürlichen Bewegungsformen in dem Sinne getrennt und unterschieden sind, dass sie spezifisch menschengemäße, durch menschliches Handeln verwirklichte Zusammenhänge darstellen. Die Gesellschaft ist nicht bloß das Besondere des Allgemeinen der Natur, der Materie, sondern ein Dasein von eigener Art, das zwar eine natürliche Abkunft und Grundlage besitzt, ansonsten aber sich nicht, wie Adorno und Horkheimer unterstellen, als Naturprozess vollzieht, sondern von Menschen hervorgebracht und intentional gestaltet wird.
Gesetze natürlicher Entwicklung – z.B. natürliche Auslese – sind einer speziellen Bewegungsform der Materie zugehörig und nicht in derselben Weise in der Gesellschaft gegeben, wenn es in dieser auch ähnliche Zusammenhänge und Prozesse gibt. Wesensformen der Gesellschaft existieren zwar nicht in der Natur, doch gibt es universelle Ordnungsrelationen systemischer Art, die insofern Gesellschaft und Natur kennzeichnen, als beide sich selbst organisierende und reproduzierende Existenzweisen materiellen Seins sind. Allgemeines und Besonderes durchdringen sich; das Besondere ist auch Allgemeines, geht aber nicht in der Unterordnung unter das Allgemeine auf. Die Gesellschaft bewegt und entwickelt sich nach Gesetzen des sozialen Lebens, der Geschichte, nicht nach Gesetzen der Biologie (vgl. die diesbezügliche Auffassung St. Goulds).
Aufgaben, die Gesellschaften lösen müssen und die den Sinn ihres Daseins und Wirkens ausmachen, sind die „Gewinnung ihres Lebensunterhaltes, die Sorge für die Nachkommenschaft und die Erhaltung des Lebensraumes.“[3] Jedes sozioökonomische System ist durch eine spezifische Art der Nutzung natürlicher Ressourcen und der menschlichen Arbeitskraft und damit durch eine ihm eigene besondere – allerdings stets allgemeine Züge aufweisende – Form intentionaler Rationalität bestimmt.[4] Die Bindung an die Natur prägt zufolge der leiblichen Existenz und damit verbundener organischer Bedürfnisse der Individuen die menschliche Gesellschaft. Sie bildet ein segmentiertes Systemganzes, dessen Bewegung und Entwicklung neben besonderen auch allgemeine Merkmale aufweist. Im Ergebnis objektiver Tendenzgesetze geraten (Einzel-)Gesellschaften in krisenhafte Phasen, deren Überwindung im Fortschreiten zu effektiveren Formen der Naturaneignung oder, falls das nicht geschieht, im Untergang, in welchen Formen auch immer, besteht (Überfälle anderer Gemeinwesen sind selbst bei überwundenen Krisen als Möglichkeit eingeschlossen).
Der Entwicklungstrend sozialer Einheiten geht von einfachen, wenig Energie verbrauchenden Stammessystemen zu großen, hyperkomplexen, Nationen überschreitenden, Energie und Rohstoffe aufzehrenden Gemeinwesen (Globalisierung). Heute ist durch drohende Erschöpfung der natürlichen Ressourcen eine Krise der Existenz der Menschengattung eingetreten, deren Lösung globale Rationalität mit reguliertem ökonomischen Wachstum erheischt. Notwendig sind Veränderungen in der materiellen Basis der Gesellschaft als Resultat sinnhafter kollektiver, von sozialen Bewegungen getragener Aktivitäten. Die progressive Umgestaltung des politischen Überbaus ist Bedingung.
Der Entwicklungszusammenhang von Natur und Gesellschaft beinhaltet historisch veränderliche Formen der Naturaneignung mit überwiegend progressiver Gesamttendenz. Es treten unterschiedliche historische Typen der Ausnutzung der Natur, der Gestaltung des Naturverhältnisses durch materielle Produktion auf, die in frühen geschichtlichen Epochen meist auf die Erhaltung der natürlichen Umwelt des Menschen Bedacht nahmen, im Kapitalismus jedoch eine exzessive Ausbeutung natürlicher Ressourcen unter dem Zwangsdiktat der Profitmaximierung bewirken. Während in den vorkapitalistischen Produktionsweisen regenerative Ressourcen (Holz, Wind, Wasser) überwogen, baut der industrielle Kapitalismus vorwiegend auf nichterneuerbare fossile Energieträger und Rohstoffe, was zu irreparablen Schädigungen der Natur führen kann und die Notwendigkeit einer sukzessiven Umstellung der Energie- und Rohstoffbasis moderner Volkswirtschaften begründet.
Natürliche Grundlagen menschlichen Verhaltens
Der Mensch ist als Leibwesen in den Stoffwechsel des Organismus mit seiner Umwelt eingebunden. Ohne Stoffaufnahme und -ausscheidung könnte er, wie alle Lebewesen, nicht existieren. Biotische und abiotische Umweltfaktoren wirken auf Existenz und Entwicklung der Organismen ein. Makro- und Mikroklima sowie Energie- und Nahrungslieferanten aus der Umwelt sind für den einzelnen Organismus ebenso Existenz sichernd wie Anpassung an Umweltbedingungen. Das Dasein der Organismen ist Realisierung ihres Genotyps, dessen Funktionsweise sich in aktiver Auseinandersetzung mit der Umwelt vollzieht. Ein lebendes System organisiert sich als offenes System selbst, seine Ordnung der Struktur und Funktion ist nicht von der Umwelt aufgezwungen, sondern wird in bestimmten Grenzen vom System selbst erzeugt, woraus seine relative Autonomie resultiert. Diese Fakten kehren, mit wesentlichen Veränderungen, in der leiblichen Existenz des Menschen wieder.
Bestimmte Züge des menschlichen Verhaltens (Sozialverhalten, Pflegeverhalten usw.) beruhen auf biotischen Anlagen, wenn sie auch nicht direkt darauf zurückgeführt werden können. Das Soziokulturelle ergänzt und überlagert das Natürliche im menschlichen Dasein und Verhalten und ist deren vorrangig prägende Macht. Das biologische Erbe der Evolution des Menschen führt zu Differenzierung, aber auch Einschränkung der Bandbreite sozialer Systeme und Verhaltensregeln.[5] Gemeinsamkeiten verschiedener Kulturen verweisen auf genetische Grundbedingungen, stärker freilich noch auf Übereinstimmungen im Sozialen, Ökonomischen und Politischen. Es gibt biologische Faktoren, die nach heutigem Wissen nicht von gesellschaftlichen Umständen beeinflusst werden (Reifung des Nervensystems).[6] Das bedeutet indes nicht, dass man dem genetischen Determinismus, wie ihn die Soziobiologie vertritt (E. O. Wilson), folgen sollte, dem zufolge soziale Interaktionen weitgehend durch Gene bestimmt sind. Das menschliche Verhalten ist ein Ergebnis von Außen- und Binnendetermination, bei dem die Vielfalt gesellschaftlicher Umstände, individueller physischer und psychischer Voraussetzungen, Intentionalität des Handelns, Biographie und biologische Faktoren komplex zusammenwirken.
Wesentlich ist die objektiv gegebene biologische Möglichkeit zum Erwerb und Gebrauch von Sprache, der die Schaffung und Aneignung gegenständlicher Bedeutungen zugrunde liegt, die jedoch i. A. keine individuellen Unterschiede der personalen Beschaffenheit und Entwicklung begründet. Anatomische Faktoren (menschlicher Stimmtrakt) sind Bedingungen von Spracherwerb und -nutzung, führen aber nicht von sich aus zur Sprache, die eine soziokulturelle Errungenschaft des Menschen ist. Eine Korrelation zwischen Genom und Sprache besteht nicht.[7] Tier-„Sprachen“ (Bienensprache) sind starre Codesysteme, deren Grundbestandteile angeboren sind und im Unterschied zur menschlichen Sprache nicht durch Überlieferung weiter gegeben werden.[8]
Das Menschliche ist umgeformtes, überformtes Natürliches mit eigener Spezifik, es ist von sozialem Wesen. Das begründet das Vermögen des Menschen als Gattung wie als Individuum, sich kritisch-reflexiv zu seinem Verhalten in Beziehung zu setzen und Naturimpulse aufzufangen, zu modifizieren und an ihre Stelle menschlich-gesellschaftliche Antriebe zu setzen. Zwar ist menschliches Verhalten genetisch beeinflusst, doch lässt es sich nicht darauf zurückführen, wie auch Verhaltensunterschiede zwischen Individuen nicht linear genetisch determiniert sind. Das evolutive Erbe der Menschheit besteht – neben so allgemeinen Verhaltensformen wie aufrecht Gehen, Lächeln und Weinen – aus psychologischen Mechanismen, nicht jedoch aus bestimmten einzelnen Verhaltensmustern.[9] Instinktgeleitetes quasi-solidarisches Verhalten gibt es in Ansätzen auch bei Tieren, die Menschen aber haben kooperatives Primatenverhalten zu einem nur ihnen eigenen Sozialverhalten weiterentwickelt, das durch Bewusstsein, soziale Interessen und Moralnormen gesteuert wird.
Gene werden durch Lernen, durch Erfahrung habitualisiert, wozu es Ansätze bei Tieren gibt. Deren Verhalten ist jedoch überwiegend genetisch programmiertes Instinktverhalten. Erfahrungsbedingtes Lernen hängt davon ab, was das einzelne Lebewesen individuell erlebt hat. Durch dessen Verarbeitung können neue Verhaltensweisen entstehen; hier existiert eine gewisse Analogie von menschlichem und tierischem Verhalten. Der grundlegende Unterschied zwischen Mensch und Tier besteht darin, dass Tiere durch Nachahmung an Objekten lernen, während der Mensch Wissen durch Sprache und Schrift weitergibt, unabhängig von direktem Vor- und Nachmachen. Der Mensch löst sich aus der Unterordnung unter die unmittelbare Subjekt-Objekt-Beziehung und baut rationale und emotionale Beziehungen zur Umwelt auf. Kooperation und Konkurrenz in tierischen Populationen finden auf völlig veränderter, sozialer Grundlage ihre Fortsetzung in menschlichen Gemeinschaften. Daraus lässt sich jedoch nicht unmittelbar auf das Verhalten in und zwischen Menschengruppen schließen, da es sich hierbei um gesellschaftliche Beziehungen handelt, die ihnen eigene Antriebskräfte besitzen.
Das Verhalten von Menschen ist an Selbstregulation geknüpft, die aus Gruppenbindung und der Selbstreflexion des Individuums hervorgeht. Die Umwelt beeinflusst das Verhalten, dieses aber verändert durch Arbeit in ihren unterschiedlichen Formen, gebunden an kognitive Prozesse, die Umwelt, so dass ein reziproker Determinismus resultiert.[10] Seine Substanz ist Handeln, das durch seinen aktiven, zielgerichteten Charakter über Verhalten hinausgeht bzw. es einschließt und Selbstdetermination des Menschen bedingt. Zwar ist Handeln auch Resultat gesellschaftlich vermittelter Außensteuerung, Reflex von Herrschafts- und Klassenverhältnissen, doch schließt es, günstige Umstände vorausgesetzt, durch Selbstbezüglichkeit des Individuums und der Gruppe potentiell relative Autonomie der Entscheidungen ein.
Das sind Verhaltensweisen, die das biologische Erbe hinter sich lassen; sie sind mit sozialer Interaktion verbunden, bei der sich die Handelnden intentional aufeinander beziehen. Allerdings schließt das kognitive Element die Existenz und Wirkung angeborener Triebe, wie sie allen höheren Säugetieren gemeinsam sind, nicht aus (Nahrungssuche, Furcht, Neugier, Fürsorge, Geselligkeit, Geschlechtstrieb usw.).[11] Im Menschen verbinden sich Biotisches und Soziales, doch ist er primär ein soziales Wesen und gestaltet sein Leben durch Rationalisierung und bewusste Verarbeitung von Erfahrungen. Angeborenes und Erworbenes bilden eine Einheit; das Schwergewicht liegt auf erworbenen, erlernten, selbst hervorgebrachten Verhaltensweisen. Ich-Stärke spielt eine herausgehobene Rolle; sie bildet sich im Laufe individueller Entwicklung, wobei – neben angeborenen Anlagen – der Einfluss der Umwelt, insbesondere in frühen Entwicklungsphasen des Individuums, Bedeutung besitzt. Doch wird die Umwelt von der Person mit beeinflusst und mit bestimmt, so dass eine scharfe Trennung zwischen Person und Umwelt verfehlt wäre.
Allgemeine Züge des Menschseins und des menschlichen Verhaltens heben den Menschen aus der lebenden Materie heraus und stellen ihn über die Tiere, mit denen ihn als einen Abkömmling der Natur manches verbindet. Das Universelle des menschlichen Daseins und Wesens macht das Anthropologische aus, das, was dem Menschen als homo sapiens sapiens schlechthin zukommt. Das Allgemeine differenziert sich in soziale und historische Typen; dass der Mensch ein geschichtliches Wesen ist, hängt mit seiner Diversifikation in Gemeinschaften zusammen, die sich in ihren sozialen, insbesondere ihren ökonomischen Lebenslagen signifikant unterscheiden. Der Mensch organisiert sich in sozialen Interaktionssystemen, deren Wurzel – vielfach vermittelt – in den Eigentums- und Austauschverhältnissen liegt, die durch den Stand der Produktivkräfte beeinflusst werden. Daher existieren zwar einerseits allgemeine Wesenszüge des Menschen, die in allen Geschichtsepochen und sozialen Aktionseinheiten auftreten, andererseits differenziert sich das Allgemeine in strukturell und evolutiv Besonderes, was Unterschiede zwischen den historischen Individualitätsformen und den gesellschaftlichen Formationen begründet. Menschliches Verhalten ist, trotz seiner Abkunft von natürlichen Voraussetzungen, sozial und individuell bestimmt.
Anthropologisches
In der Natur existieren Gesetze, die das Dasein der Lebewesen regeln, ihrer Erhaltung, Veränderung und Entwicklung als Populationen und als Individuen zugrunde liegen. Es besteht „Zweckmäßigkeit“ – Angepasstheit – in Struktur, Funktionen und Verhalten der Organismen, die die Selbstreproduktion der lebenden Natur begründet. In der Gesellschaft lassen sich Gesetze ähnlicher Art, analog Naturgesetzen, nicht ausmachen. In ihr wirken bewusstseins- und interessenvermittelte Aktivitäten von Gruppen und Individuen, die nicht in der gleichen Weise funktional für die Gesellschaft sind wie die Naturgesetze für das überwiegend instinktgeleitete Verhalten tierischer Organismen. Die Gesellschaft, obwohl ein Abkömmling der Natur, ist das Andere der Natur, wird nicht von ihr beherrscht. Ihr Dasein schließt einerseits Selbsterhaltung und Entwicklung durch Arbeit, durch Kultur im weitesten Sinne ein, andererseits Selbstgefährdung durch Machtkämpfe und Kriege – Vorgänge, die nicht in der Natur angelegt, sondern sozialen Ursprungs und Charakters sind. Die Gesellschaft der Gegenwart ist auf Erarbeitung und Durchsetzung Länder übergreifender Werte, Interessen und daraus folgender Praxen angewiesen, soll ihr Dasein auf Dauer gesichert sein. Das zu erreichen, ist noch ein weiter, komplizierter Weg.
Die Entstehung des Menschen aus Naturbedingungen stellt eine Chance wie auch eine Bedrohung für GÄA – die Erde, die Natur – dar. Die Vereinzelung und soziale Gegensätzlichkeit menschlicher Subjektivität lässt Interessen hervorgehen, die ein gefährliches Gegeneinander von Aktivitäten bis zur Vernichtung menschlicher und natürlicher Existenzen bewirken können. Daher muss eine auf Bewahrung von Natur und Gesellschaft gerichtete humane Kraft entstehen, deren Kern progressive soziale Bewegungen bilden, die die zerstörerischen Mächte bändigen und überwinden.
Der Mensch ist auch in dem Sinne ein „Mängelwesen“ (Gehlen), dass er noch nicht über kollektive Strategien verfügt, die die Existenz gefährdenden Widersprüche seines Daseins lösen helfen. Die „Natur des Menschen“ sei unveränderlich, verkünden Anthropologen, in ihr seien Gut und Böse eng miteinander verflochten.[12] Doch ist es nicht die Natur des Menschen, aus der Gutes und Böses hervorgehen, sondern es sind gesellschaftliche Verhältnisse und deren Akteure, die in den Menschen einerseits positive, förderliche, andererseits negative, destruktive Ideologien und Aktivitäten entstehen lassen. Der Mensch ist zwar ein Entwicklungsprodukt der Natur, doch ist er, genauer gefasst, Resultat gesellschaftlicher Lebensbedingungen, die sein Bewusstsein und sein Handeln beeinflussen – allerdings nicht zwanghaft, sondern als Tendenz, mit Wahrscheinlichkeit. Darin gründen Chancen eines Übergangs der Menschheit in humane soziale Lebensformen mit allseitig entfalteter Kultur – einer Gesamtheit von sozial intendierten Beziehungen, Institutionen und Aktivitäten, die auf Erhaltung und Entwicklung der Gesellschaft mit dem Fokus der Individualität des Menschen und den Schutz der Natur setzen. Kultur ist an verbreitete geistige und sittliche Autonomie der Individuen gebunden, an Freiheit des Denkens, Wollens und Handelns, gegründet auf vernünftige Einsicht in das, was dem Menschen, der Gesellschaft, der Natur dient.
Leben, Leib, Seele und Geist sind Grundbegriffe der Anthropologie. Auffällig ist, dass ein wesentlicher Grundbegriff fehlt, der das Menschliche im Unterschied zum Tierischen kenntlich macht, nämlich Arbeit. Sie ist die Basis des historisch sich entwickelnden Menschseins; in der Arbeit wurzeln jene Potenzen, die zu Humanität, Freiheit und Frieden führen können, wenn die gesellschaftlichen Bedingungen es ermöglichen und erzwingen. In der Arbeit, sofern sie humanen und demokratischen Normen folgt, vermag der Mensch seine kreativen Fähigkeiten zu entfalten und den Grund für fortschrittliche gesellschaftliche Verhältnisse zu legen. Die potenzielle Macht des Menschen über seine Verhältnisse ist das, was ihn über eine bloß naturhafte Ordnung des Daseins hinaushebt. Arbeit, Gemeinschaft, Humanität und Vernunft bilden den anthropologischen Fokus des Menschen gegenüber der toten und der lebenden Natur.
„Naturverfallenheit“[13]
Der lebenden Natur wohnt eine funktionelle Ordnung in der Einheit von Anpassung und Entwicklung inne, sie bildet ein auf objektiven Gesetzen, Trends, Tendenzen, Kontingenzen – auf Notwendigkeiten und Zufällen – beruhendes sich selbst reproduzierendes System – eine Mannigfaltigkeit von Systemen. Mit der Gesellschaft tritt etwas grundlegend Neues in das Dasein der Welt. Das Verhalten der Menschen wird nicht primär durch natürliche, biotische Voraussetzungen bestimmt, es ist an Bewusstsein gebunden. Das menschliche Fühlen, Denken und Wollen vermittelt zwischen objektiven Bedingungen und Handeln, es besitzt Eigenmacht und selbstständige Geltung, die als Integral der Arbeit die Gesellschaft als das Andere der Natur hervorgehen lässt Die Vorstellung von einem unaufhebbaren „Naturzwang“[14], die die kritische Theorie der Frankfurter Schule exponiert, wird dem von der Natur verschiedenen Wesen der Gesellschaft nicht gerecht.
Allerdings muss eingeräumt werden, dass es in der Gesellschaft naturähnliche Zusammenhänge und Prozesse gibt, die, von dem Bewusstsein und Handeln der Menschen entäußert, einen eigenständigen Daseins- und Entwicklungszusammenhang verkörpern und als Schicksal auf den Menschen lasten: Entfremdung, Verdinglichung. Diesen Zusammenhang hat Marx eingehend untersucht, und er spielt auch in der „Dialektik der Aufklärung“ eine Rolle, wobei freilich falsche Parallelisierungen von Natur und Gesellschaft auftreten. Nach F. Engels Worten muss das Verhältnis von Natur und Gesellschaft geschichtlich verstanden werden. Unter den Bedingungen des urgesellschaftlichen Lebens waren die Individuen fast vollständig von der ihnen fremd und unverstanden gegenüber stehenden Natur beherrscht.[15] Sie waren weit davon entfernt, die Natur zu beherrschen, „aber innerhalb der für sie geltenden Naturgrenzen beherrschten sie ihre eigene Produktion.“[16] Das war ein potenzieller Schritt zur Aufhebung der Entfremdung in der Beziehung der Menschen zur Natur. Indes lastete in der Folge gerade die ökonomische Entfremdung, wurzelnd im Privateigentum an Produktionsmitteln, wie eine Naturmacht auf den Schicksalen der Menschen
Damit verknüpfen sich Natur und Gesellschaft über die natürliche Abkunft und körperliche Ausstattung des Menschen hinaus zu einem spezifischen Systemzusammenhang. Diesen konkretisierend, analysierte Marx den Menschen nicht einseitig nur in seiner natürlichen Bestimmtheit – objektiv –, sondern auch subjektiv, als Subjekt der Geschichte, das sich dem Naturzwang fortschreitend entwindet. Marx wäre sicher nicht der These gefolgt: „Der Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts ist die unaufhaltsame Regression“.[17] Für Marx war die Geschichte der Menschheit zwar Teil der Naturgeschichte, jedoch nicht – von geschichtlichen Anfängen abgesehen – der Natur untergeordnet, sondern im Prozess der Herausarbeitung aus der doppelt bestimmten Natur: als natürliche Natur und als gesellschaftliche Natur. Aufgabe der theoretischen Analyse der Geschichte war für Marx nicht die Erklärung der Einheit, sondern der Trennung zwischen den tätigen Menschen und den natürlichen Bedingungen ihres Stoffwechsels mit der Natur.[18] Diese Trennung ist vollständig entwickelt im Verhältnis von Lohnarbeit und Kapital, wo die gesellschaftlichen Verhältnisse gleichsam als eine Naturmacht auf den Menschen lasten und die Einheit von Mensch und Natur gesprengt ist.
Die Natur als Umwelt des Menschen ist gesellschaftlich vermittelt, die Gesellschaft naturvermittelt. Die Natur als objektiv-reales Sein wie auch die Begriffe von der Natur haben einen gesellschaftlichen Hintergrund, sind ein Integral und Reflex gesellschaftlich-geschichtlicher Verhältnisse. Die Gesellschaft ist von Bedingungen materiell-stofflicher und -energetischer Art abhängig und reduziert sich nicht auf kommunikative soziale Prozesse, wie verschiedentlich behauptet wird. Die Produktion hat in ihrer gesellschaftlichen und technologischen Bestimmtheit das Verhältnis der Menschen zur Natur und ihr Verhältnis untereinander zum Inhalt. Letztlich ist die Natur, durch die körperliche und geistige Arbeit der Individuen vermittelt, die Quelle aller Gebrauchswerte, deren der Mensch zur Fristung seines Daseins bedarf.
Diese Beziehung ist historisch variabel. In traditionell-agrarischen Gesellschaften fand eine ganzheitliche Aneignung von Naturprozessen und -gegen-ständen mit der Nutzung regenerativer Ressourcen statt. In der vom Kapitalismus bestimmten Mensch-Natur-Beziehung werden einzelne Naturprozesse und -objekte isoliert auf technisch-materieller Grundlage genutzt, wobei nichterneuerbare fossile Ressourcen dominieren. Die Produktion um der Produktion (des Profits) willen als treibendes Motiv führt zu schweren Schädigungen der Natur und damit der Daseinsgrundlage des Menschen. Die Natur wird bloßes Objekt instrumenteller Nutzung durch den Menschen, was mit „Herrschaft über die Natur“[19] nicht gleichzusetzen ist. In der Stellung des Menschen zur Natur geht es nicht um Naturbeherrschung, sondern um sinnvolle Gestaltung des Verhältnisses der Menschen zur Natur. Das schließt rationelle Naturnutzung, schonenden Umgang mit den natürlichen Ressourcen und Respektierung des Eigenwerts und der Würde namentlich der lebenden Natur ein. Im Kapitalismus wird Fortschritt der technologischen Naturaneignung mit Rückschritten der Gesellschaft erkauft, wodurch Natur und Gesellschaft Schaden nehmen.
Es ist problematisch, Herrschaft in der Gesellschaft auf Herrschaft über die Natur zurückzuführen, wie Adorno es tut. „Menschliche Geschichte, die fortschreitende Naturbeherrschung, setzt die bewusstlose der Natur, Fressen und Gefressenwerden fort.“[20] Das ist eine verengte Sicht auf die Natur, deren in Jahrmillionen gereifte evolutive funktionelle Ordnung mit den von Adorno gebrauchten Termini nicht hinreichend erfasst wird. Herrschafts- und Machtverhältnisse in der Gesellschaft können adäquat nur aus dieser selbst, nicht aber aus dem Verhältnis der Menschen zur Natur oder gar aus dieser erklärt werden. Für die Strukturen und den Charakter von Herrschaft und Macht ist allenfalls der Stand der technologischen Naturaneignung bedeutsam. Selbsterhaltung des Menschen durch Arbeit, ein grundlegender Gedanke des Marxismus, ist keine Fortsetzung des Natürlichen, sondern, im Gegenteil, dessen Aufhebung durch bewusst gesteuerte, an Zwecken orientierte gemeinschaftliche Aktion. Die Arbeit vorwiegend unter dem Gesichtspunkt instrumenteller Beherrschung der Natur zu sehen, wie das die Dialektik der Aufklärung tut, wird der kulturschöpferischen Rolle der Arbeit nicht gerecht. In der Arbeit, soweit sie nicht monoton-unschöpferisch ist, können sich kreative Potenzen des Menschen entfalten; war ihr geschichtlicher Ausgangspunkt auch die instrumentelle Beziehung auf die Natur zwecks Selbsterhaltung, so geht sie in der Folge weit darüber hinaus und wird zum Aktionsraum des menschlichen Wesens in seinem Reichtum, seiner Humanität.
W. Benjamin kritisierte mit Recht die Vorstellung einer Steigerung der Naturbeherrschung als Ziel des geschichtlichen Fortschritts und stellte ihr die Idee der Beherrschung des Verhältnisses zur Natur entgegen.[21] Damit setzte er auf gesellschaftliche Emanzipation, in die ein vernunftgeleitetes Verhältnis zur Natur einzubeziehen ist. Das Streben des Menschen, sich die Natur als Ausbeutungsobjekt zu unterwerfen, hat destruktive Konsequenzen. Was Not tut, ist eine an Freiheit und Humanität orientierte Gestaltung der sozialen Verhältnisse mit Einschluss derjenigen zur Natur. In der kritischen Theorie erscheint hingegen die Natur als eine die Gesellschaft bedrohende Macht, die es zu beherrschen gilt, während sie in Wahrheit ein nach objektiven Gesetzen sich selbst genügendes, organisierendes und erhaltendes System ist, das des Menschen nicht bedarf. Der Terminus „Naturbeherrschung“ wird dieser Tatsache nicht gerecht. Auch kann das Verhalten der Individuen nicht (nur) aus Naturtrieben entschlüsselt werden, denn es sind gesellschaftliche Bedingungen, die vorrangig Dasein und Tätigkeit der Menschen prägen.
In der kritischen Theorie wird die ihrer eigenen Tendenz-Gesetzmäßigkeit und evolutiven Ordnung unterliegende Natur mit sozialen, den Individuen gegenüber verdinglichten Zusammenhängen und Prozessen gleichgesetzt. Die Herrschaft gesellschaftlicher Mächte, konkret bestimmter Klassen, Gruppen und Personen über die Masse der Individuen ist jedoch keine „Naturverfallenheit“, sondern deren Unterwerfung unter gesellschaftliche Zwänge, die von Menschen exekutiert werden. Humanität bedeutet die dem menschlichen Wesen gemäße, von geschichtlichen Bedingungen abhängige rationelle Gestaltung der Verhältnisse der Menschen in und zur Gesellschaft sowie zur Natur. Sie ist nicht einseitig durch technologische Parameter bestimmt, sondern Resultat der Durchsetzungskraft progressiver sozialer Bewegungen. Der gesellschaftliche Prozess der Aneignung und Bearbeitung der Natur bedingt, vermittelt durch den Charakter der Produktionsverhältnisse, das geistig-kulturelle Leben der Gesellschaft, das seinerseits das soziale Leben formiert.
[1] P. Davies, Prinzip Chaos. Die neue Ordnung des Kosmos, München 1993, S. 202.
[2] A. Gierer, Im Spiegel der Natur erkennen wir uns selbst. Wissenschaft und Menschenbild, Reinbek 1998, S. 268.
[3] L. Lambrecht u. a., Gesellschaft von Olduvai bis Uruk. Soziologische Exkursionen, Kassel 1998, S. 16, 27.
[4] M. Godelier, Natur, Arbeit, Geschichte. Zu einer universalgeschichtlichen Theorie der Wirt-schaftsformen, Hamburg 1990, S. 31.
[5] A. Gierer, a.a.O., S. 268.
[6] J. Piaget, Probleme der Entwicklungspsychologie, Hamburg 1993, S. 121.
[7] St. Pinker, Der Sprachinstinkt, München 1998, S. 299.
[8] P. Baumann/D. Kaiser, Die Sprache der Tiere, Stuttgart 1992, S. 72.
[9] W. F. Aleman, Mammutjäger in der Metro. Wie das Erbe der Evolution unser Denken und Verhalten prägt, Heidelberg, Berlin 1999, S. 40.
[10] P. G. Zimbardo, Psychologie, Berlin (West) 1983, S. 23.
[11] W. Mc Dougall, Instinkte regeln das soziale Leben, in: H. Keupp (Hg.), Der Mensch als soziales Wesen. Sozialpsychologisches Denken im 20. Jh., München, Zürich 1995, S. 57f.
[12] R. Leicht in: M. Dönhoff/Th. Sommer (Hg.), Was steht uns bevor?, Berlin 1999, S. 255. Vgl. A. Gehlen: Der Mensch, 14. Aufl. 2004, S. 61.
[13] M. Horkheimer und Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt a. M. S. 4, 46.
[14] Ebd. S. 19.
[15] F. Engels, Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats, Berlin 1949, S. 97.
[16] Ebd. S. 111.
[17] M. Horkheimer und Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, a. a. O. S. 42.
[18] K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Berlin 1953, S. 389.
[19] M. Horkheimer und Th.W.Adorno, Dialektik der Aufklärung, a. a. O. S. 46.
[20] Th. W. Adorno, Negative Dialektik, zit. bei H.-E. Schiller: An unsichtbarer Kette. Stationen kritischer Theorie, Lüneburg 1993, S. 46.
[21] Chr. Görg, Gesellschaftliche Naturverhältnisse, Münster 1999, S. 117.