Gesellschaftstheorie

Ganzheitliche Reproduktion des Lebens als Gegengewicht zur totalisierten Vermarktung (I)

Veränderungen in der unmittelbaren Reproduktion des Lebens als Herausforderungen und Chancen

Dezember 2004

Angesichts einschneidender Erfahrungen mit neoliberaler Politik wächst die Einsicht, dass auf diese Weise die tiefen Reproduktionskrisen (nicht allein der Ökologie, sondern weiterer unmittelbarer Lebensbereiche wie der Gesundheitsvorsorge, der Allgemein- und Berufsbildung, der Wissenschaften, der Existenzsicherung von alten Menschen und Massenlangzeiterwerbslosen) bereits nicht mehr oder nur um den Preis weiterer Polarisierungen und gesellschaftlicher Anomie zu „verwalten“ sind. Es stellt sich deshalb die Frage nach Umbewertungen und Umorientierungen, mit deren Hilfe gesellschaftliche Innovationspotenziale entdeckt, freigesetzt und erschlossen werden können. Handlungsspielräume wären schaffbar, wenn alternative Aktivitäten, die auf gegenwärtige Krisen und Umbrüche reagieren, zugleich allmählich über die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen hinausgehen. Das entspricht den Inhalten dieser Konflikte und es gehört nicht zuletzt zu den Erfahrungen aus der Implosion staatssozialistischer Systeme.

Weil patriarchal organisierte Kapitalverhältnisse nun bereits seit Jahrzehnten nur noch expandieren (können), indem sie Ressourcen und Beziehungen aus der unmittelbaren Reproduktion des Lebens dynamisch vermarkten, vertiefen sie die genannten Reproduktionskrisen und entziehen nicht nur immer mehr unmittelbar betroffenen Menschen, sondern schließlich der Kapitalverwertung selbst in sehr differenzierter Weise Grundlagen. Selbst manche Angehörigen früherer Managementgenerationen können und wollen eine Reihe postindustrieller Veränderungen nicht mehr mittragen, wie ein Klima von Unsicherheit im Gefolge sich herausbildender gesellschaftlicher Anomie und zunehmender Polarisierungen, eine Aushöhlung klassischer bürgerlicher ethischer Werte, eine Scheinblüte von spektakulärer und konstruierter Kreativität, ein verbreitetes Managementversagen in wissenschaftlich-technischen Bereichen und in Produktionsleistungen im Gefolge ungehemmter Shareholder-Value-Orientierungen. Kein Wunder, dass gegenüber dem Mainstream-Denken Menschen aus fast allen politischen Lagern eine Wiederherstellung von Solidarität, Berechenbarkeit, Vertrauensbeziehungen und eine Balance zwischen Markt, Staat, kulturellen und sozialen Beziehungen einfordern (u.a. Rifkin, Huber/Langbein, Poullain). Abgesehen von den ziemlich unterschiedlichen jeweiligen Interessenlagen wäre jedoch zu fragen, ob eine solche Balance tiefe Reproduktionskrisen lösen könnte. Eine Rückkehr zu klassischen industriekapitalistischen Verhältnissen mit ihren staatsbürgerlichen Rechten und Pflichten ist ohnehin nicht möglich. Bereits eine Erhaltung sozialer, ja zivilisatorischer Grundwerte erfordert angesichts postindustrieller Wandlungen zweifellos, dass sich diese ebenfalls verändern. Aber in welche Richtung? Zugunsten von emanzipatorischen Veränderungen müssten zunächst wenigstens teilweise die Grenzen des Systems überschritten werden, um Gestaltungsspielräume freizusetzen.

Reaktionen auf lebenszerstörende Wirkungen neoliberaler Politik bewegen sich jedoch derzeit überwiegend im Rahmen patriarchal kapitalistischer Verhältnisse selbst und gehen erkennbar kaum darüber hinaus. Das gilt für „Bürgerarbeit“ laut Beck u.a. ebenso wie für differenzierte Formen der „Subsistenzproduktion“, für die „Wiedereinbettung“ der „Wirtschaft“ in die „Gesellschaft“ wie auch für die Wiederentdeckung einer Eigenverantwortlichkeit (ohne Rechte), sprich: Jede/r ist sich selbst die/der Nächste! Es fehlen weitgehend die Hoffnung, der Wille und die Überzeugung, dass ein Darüber-hinaus­gehen möglich, lebensfördernd und freiheitlich sein könnte. Oder sehen wir vielleicht unter dem gleichschaltenden Druck neoliberalen Denkens und Handelns den alternativen Wald vor lauter Bäumen nicht? Nicht zuletzt aus neueren gesellschaftlichen Veränderungen erklärt sich jedoch, dass Hoffnungen auf emanzipatorische Alternativen keinesfalls auf Sand gebaut sind, weil sowohl ihre Notwendigkeit als auch die Motivationen und Ressourcen dafür heranreifen. So kann am Beispiel von Veränderungen des variablen Kapitals anschaulich gezeigt werden, dass hierbei ambivalente Prozesse ablaufen, welche nicht nur wachsende Risiken für die lohnabhängige Bevölkerung bereithalten, sondern auch reale Möglichkeiten erkennen lassen, wonach sich alle Individuen grundsätzlich eigene Ressourcen aneignen können, um sich damit gleichheitliche und allgemein freiheitliche gesellschaftliche Positionen zu erkämpfen. Damit kommen sie in die Lage, allgemeine Reproduktionskrisen zu entspannen und schließlich zugunsten emanzipatorischer Veränderungen zu lösen. Diese Möglichkeiten mehr und gezielter als bisher zu nutzen und noch dazu rechtzeitig – denn sie können sich mit weiterem Abwarten in der Zeit verringern –, stellt eine aktuelle Herausforderung dar.

Angesichts der Tatsache, dass das noch junge 21. Jahrhundert schon als Jahrhundert gesellschaftlicher Anomie gezeichnet ist, als „haltlose“ oder „entfesselte Gesellschaft“ (Dahrendorf), wäre es wichtig, konkrete Utopien (im Bloch­schen Sinne) nicht zu verdrängen, sondern eher gezielt zu entwickeln. Ein dauerhafter sozialer Ausschluss zunehmender Bevölkerungsgruppen bedroht schließlich auch die noch integrierten. Das Verdrängen emanzipatorischer Alternativen befördert bereits jetzt gesellschaftliche Katastrophen (wie Bürgerkriege und Genozide, Gruppen- und Staatsterrorismus, aber auch wie die Abwanderung junger Menschen aus Ostdeutschland und den schleichenden Abbau sozialer, kultureller, bildungsmäßiger und wissenschaftlicher Infrastrukturen) und würde dies zukünftig noch mehr tun. Emanzipatorische Alternativen sind deshalb heute weder Träumerei, noch müssen sie zwangsläufig in totalitären Kontrollmechanismen enden. Dazu einige Überlegungen, die sich auf Veränderungspotenziale zugunsten konkreter Utopien für die Erhaltung von Lebensgrundlagen konzentrieren. Dabei wird versucht, sich abzeichnende Wechselbeziehungen zwischen äußerst vielgestaltigen Veränderungsprozessen wenigstens thesenhaft einzubeziehen, deren Komplexität allerdings nur bruchstückhaft Rechnung getragen werden konnte. Damit werden Schritte in einem etwas langwierigen Suchprozess zur Diskussion gestellt, der auf marxistische und feministische Herangehensweisen zurückgreift.

Entwickeln sich Voraussetzungen für emanzipatorische
Alternativen?

Inwieweit entwickeln sich mit der massenhaften Vermarktung der unmittelbaren Reproduktion des Lebens[1] Voraussetzungen für Widerstandspotenziale gegen den neoliberalen Mainstream und Motivationen zugunsten alternativer Aktivitäten? Diese Vermarktung schließt bekanntlich ein, dass unmittelbare Lebenstätigkeiten im großen Maßstab in Erwerbsarbeit verwandelt, damit also nicht mehr nur Arbeitskräfte, sondern auch unmittelbare Lebenskräfte[2] verkauft und gekauft werden. Rifkin beschreibt einprägsam, wie von den Unternehmen die Lebenszeit zunehmend als Vermarktungszeit (Rifkin, 114ff.) zugunsten des Profits angeeignet wird. Damit entwickelt sich eine schizophrene Desorientierung der Lebenszeit: So viel Lebenszeit wie möglich zugunsten der Vermarktung zu akquirieren – sowohl in der Erwerbsarbeit als auch in der Konsumtion – und desto weniger für selbstbestimmte nichtmarktwirtschaftliche Zwecke zur Verfügung zu haben. Unmittelbare Reproduktionsleistungen jedoch können allein mit Hilfe von Warenbeziehungen grundsätzlich nicht lebensfördernd gewährleistet werden, da ihre Erfordernisse durch den Warenwert nicht ausdrückbar sind: Ihre Bewertung wird adäquat nicht durch die in ihnen verkörperte gesellschaftlich notwendige Arbeit bestimmt, sondern durch die Erhaltung und Ausfüllung von unmittelbarer Lebenszeit, wie den Grad der Entfaltung von Fähigkeiten oder mentale Zuwendungen.

Eine unmittelbare Reproduktion des Lebens, soweit sie vorwiegend über den Markt erfolgt, realisiert sich deshalb letztlich in deformierten, einseitigen und zerstörerischen Formen. Das gilt nicht nur für sozial ausgegrenzte, sondern in davon unterschiedener Weise auch für „Wissensangestellte“ und andere privilegierte Bevölkerungsgruppen. Sehr deutlich zeigen das die von Huber/Lang­bein kritisierten Fehlentwicklungen im Gesundheitswesen. An die Stelle ganzheitlicher partnerschaftlicher Gesundheitsförderung treten der forcierte Einsatz von produzierten Waren (wie Arzneimittel, künstliche Gelenke, zukünftig vielleicht geklonte Organe, immer komplizierter und teurer werdende Medizintechnik in vereinseitigter Anwendung), Prävention wird oft mit Früherkennung verwechselt (mit der möglichen Option, gesunde Organe herauszuschneiden, weil sie später krank werden könnten; Huber/Langbein, 49ff.). Huber/Langbein, die eine mutige und streitbare Analyse und Interpretation von Strukturmängeln des derzeitigen Gesundheitswesens in Deutschland und Österreich vorlegen, plädieren für eine Gesundheitsrevolution (Huber/Langbein 269ff.). Sie fordern eine „Integrierte Medizin“, die „eine Medizin für den ganzen Menschen sein“ soll, die somatische, psychische und kulturelle Aspekte integriert (ebd., 171). „Integrierte Versorgung“ bildet einen weiteren, davon abgeleiteten Bestandteil ihrer Forderungen. „Die Vision: Sich selbst organisierende Netzwerke miteinander kommunizierender Bürgerinnen und Bürger lösen die mächtigen Räderwerke der Fürsorgebürokratie ab.“ (Huber/Langbein, 14). Ihr zutiefst humanistisches Anliegen beschneiden sie jedoch ungewollt selbst, indem sie ihr integratives Konzept in letzter Instanz faktisch als technisch-organisato­risches Vernetzungsproblem einer „wachsenden Gesundheitswirtschaft“ (Huber/Langbein, 280) behandeln. Sie fragen nicht nach den Voraussetzungen, unter denen ihre Vorschläge realisierbar würden. Dennoch wäre damit ein erster Schritt getan, denn es bliebe zu hoffen, dass im praktischen Prozess alle Beteiligten diese Voraussetzungen – wie gleichheitliche Beiträge aller zur Gesundheitssicherung durch reziproken unmittelbaren Austausch der „Reproduktionsarbeiten“ – einfordern und schaffen werden. Genau so ist aber auch eine Anpassung an tendenziell totale Vermarktung möglich, wenn die Voraussetzungen für solche an Lebensdauer und -qualität aller ausgerichteten Gesundheitsdienste nicht geschaffen werden.

Der grundsätzliche Widerspruch zwischen unmittelbaren Reproduktionserfordernissen des Lebens und ihrer Fassung in Warenwerten beeinflusst deutlich die aktuellen Richtungen emanzipatorischen Handelns. Solange das v-Kapital[3] hauptsächlich den – von den Lohnabhängigen selbst erwirtschafteten – Gegenwert ihres notwendigen Lebensmittelfonds wie den Anspruch darauf darstellte, solange konnte es im Rahmen einer stets erneut zu erkämpfenden Verteilungsgerechtigkeit zur, langfristig gesehen, reichhaltigeren Reproduktion der Arbeiterbevölkerung beitragen.

Heute jedoch beginnt das historische v-Kapital, das die Reproduktion der Arbeiterklasse unter industriekapitalistischen Bedingungen sicherte, sich aufzulösen. Die bisherige Organisation der Lebensmittelfonds über das v-Kapital wird somit zunehmend obsolet. Zu erkennen ist das z.B. an Polarisierungen innerhalb des v-Kapitals sowie daran, dass wichtige gesellschaftliche Bedingungen für den Verkauf der Ware Arbeitskraft – wie laut Marx die Existenz doppelt freier Lohnarbeiter ( MEW, Bd. 23, 183) – in der Tendenz immer weniger reproduziert werden (bspw. durch eine „Entgrenzung von Arbeit“). Indem der Einfluss des Marktes auf praktisch alle Lebensbereiche zunimmt („die Kassenlage bestimmt, was sozial geschieht“), werden nicht zuletzt vielen Menschen Kompetenzen, Fähigkeiten usw. entrissen, die sie benötigen würden, um staatsbürgerliche Rechte und Pflichten wahrzunehmen. Wenn mensch auf diese Weise quasi persönlich abhängig wird (Gorz, Pongratz/Voß), ist er zwar noch formal juristisch, aber nicht mehr tatsächlich frei.[4] Dadurch gerät auch die Reproduktion der Gattung in noch tiefere Krisen, denn die Vermarktung beansprucht Lebensbereiche, die bisher noch weitgehend von patriarchalen Beziehungen organisiert werden. Deren Auflösung mindert zwar unbezahlte Reproduktionsleistungen für einige Frauengruppen, versetzt aber die Mehrzahl der Frauen unter zusätzliche Abhängigkeitsverhältnisse und polarisiert zudem alle.

Im klassischen Industriekapitalismus umfasste das v-Kapital direkt materielle Voraussetzungen für die Reproduktion der Arbeitskraft, die als Endprodukte in der Tendenz die Warenform annahmen. Die Reproduktion der Arbeitskraft erfolgte aber weitgehend davon abgeleitet und indirekt über patriarchale Beziehungen, staatliche und gemeinnützige Institutionen usw. Die Produktion von Mitteln zum Leben – überwiegend kapitalistisch organisiert – dominierte zwar - über die Reproduktion der Arbeitskraft – die unmittelbare Reproduktion des Lebens, letztere war von ersterer abhängig. Die Reproduktion lohnabhängiger Menschen war aber nur teilweise über Warenbeziehungen organisiert, die unmittelbare Lebenskraft unterlag in der Regel direkt noch Nichtwarenverhältnissen, welche zerstörerische Wirkungen der Vermarktung der Arbeitskraft partiell ausgleichen konnten, wie über Gratisdienste der Reproduktionsarbeit, über den gewerkschaftlichen Kampf um Urlaub, Arbeitszeitverkürzung, gesetzliche Arbeitslosen- und Krankenversicherung, Bildung und Ausbildung usw. Entwickelt sich jetzt die unmittelbare Lebenskraft zunehmend zur Ware, so wird die Dominanz der profitorientierten Vermarktung der Produktion total: Tendenziell alle Lebensäußerungen werden patriarchalen, gemeinnützigen, natürlichen, sozialstaatlichen u.a. Rahmenbedingungen entrissen. Menschen werden frei von vermarktungshemmenden Reproduktionsbedingungen, um desto besser unmittelbar vermarktet – und mit ihren Lebensgrundlagen zerstört – zu werden.

Die eigene (vermarktete) Lebenstätigkeit richtet sich so zunehmend gegen die eigene Reproduktion der Mehrheit der Menschen. Die sich mit der weitgehenden Sättigung mit notwendigen Mitteln zum Leben grundsätzlich eröffnenden neuen (vor allem gleichheitlichen und freiheitlichen) Möglichkeiten für die unmittelbare Reproduktion des Lebens werden mit ihrer profitorientierten Vermarktung zu existenziellen Gefahren für die Reproduktion des Lebens (vgl. profitorientierte Entwicklung und Anwendung von Gentechnologien – u.a. dargestellt von Thomas Lemke). Die derzeit ablaufenden Prozesse gehen durchaus in diese Richtung. Wenn Wirtschaftswachstum für die notwendige Reproduktion des Lebens in der Tendenz nicht mehr erforderlich ist und im Großen und Ganzen auch nicht mehr als möglich erscheint, gewinnt für die Profiterzielung der direkte Raub an Lebensgrundlagen Bedeutung (z. B. die faktische Auflösung der solidarischen Krankenversicherung und die CDU-Vorstellungen über einen Pauschalbeitrag zur Krankenversicherung je Kopf). Viele Entwicklungen der Lebenskräfte überschreiten bereits die Grenzen der Kapitalverhältnisse und diese müssten tatsächlich überschritten werden, wenn sich unmittelbare Reproduktion des Lebens in förderlicher Weise für Menschen und äußere Natur entfalten soll. Mit der Vermarktung der unmittelbaren Reproduktion des Lebens differenzieren sich aber auch die unmittelbaren Lebenstätigkeiten aus, werden öffentlich sichtbar als notwendige Tätigkeiten, werden bewertet, organisiert und vernetzt usw. Damit entwickeln sich zugleich materielle Grundlagen für einen künftigen reziproken Austausch der Tätigkeiten.

Die in ambivalenten Vermarktungsprozessen enthaltenen Risiken, aber auch die versteckten Chancen emanzipatorischen Handelns werden sichtbar, indem die Ganzheitlichkeit in der Reproduktion des Lebens als Sichtweise dient. Damit erkennbare Möglichkeiten sollen anhand folgender wechselseitig zusammenhängender Prozesse diskutiert werden: der Aneignung eigener Ressourcen durch patriarchal und klassenmäßig abhängige Bevölkerungsgruppen, der Intensivierung der Lebenskräfte, der beginnenden Wandlungen in den Warenbeziehungen, der sich abzeichnenden Herausbildung von Nichtwarenverhältnissen durch emanzipatorisches Tun, der allmählichen Umorientierung der Produktion auf die Erfordernisse einer gleichheitlichen und allgemein freiheitlichen unmittelbaren Reproduktion des Lebens, der Problematik alternativer Bewertungen (vgl. dazu weiterführende Überlegungen in Teil II).

Aneignung eigener Ressourcen

Aus den beschriebenen Ambivalenzen zwischen Reproduktionserfordernissen des unmittelbaren Lebens und seiner tendenziell totalen Vermarktung können generell patriarchal und klassenmäßig abhängige Bevölkerungsgruppen Motivationen zugunsten emanzipatorischer Handlungen und zur Schaffung von dazu erforderlichen eigenen Ressourcen entwickeln Letztere basieren vor allem auf dem Erwerb von Qualifikation, Kompetenz sowie arbeitsfreier Zeit und deren Anwendung für allgemein freiheitliche zivilgesellschaftliche Beziehungen. Obwohl, formal-juristisch gesehen, heute bereits Jede/r Möglichkeiten besitzt, sich zu qualifizieren und weiterzubilden, bleiben diese nach wie vor vor allem von sozial unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen zu wenig genutzt (vgl. u.a. Ergebnisse der Pisa-Studie, Entwertung von Qualifikationen infolge von massenhafter Langzeiterwerbslosigkeit, „Spar-“Trends zugunsten von „anwendungsorientierten“ und großenteils geringer qualifizierenden – sprich: zunehmend auf Vermarktungserfordernisse ausgerichteten – Hochschulstudiengängen). Wie Bildungsergebnisse anderer Länder (Finnland) zeigen, lassen sich schon unter gegebenen Bedingungen bessere Bildungsleistungen erreichen. Ein gleiches Menschenrecht auf allseitige Entfaltung der Fähigkeiten einer/s Jeden jedoch – und damit ein allgemeines lebenslanges Lernen – erfordert einen allmählichen Übergang von der marktwirtschaftlichen Chancengleichheit als WarenkäuferInnen und -verkäuferInnen zu der Gleichheitlichkeit eines reziproken Austauschs von ganzheitlichen Reproduktionstätigkeiten (Braun, 1998: 44ff.). Gleichheitliche Möglichkeiten für eine allseitige Entfaltung der Fähigkeiten und deren Anwendung wiederum basieren auf der Aneignung eigener Ressourcen. Wenn Jede/r ihren/seinen gleichheitlichen Beitrag zur Reproduktionsarbeit leisten müsste, wären sie/er an dazu notwendiger Bildung, Ausbildung und Weiterbildung unmittelbar interessiert, um Kompetenzen zu entwickeln und um für sich freie Zeit zu gewinnen. Ein gleichheitlicher Beitrag zugunsten notwendiger Produktion und Reproduktion allerdings – und die Abhängigkeit der Existenzsicherung davon – würde darüber hinaus Voraussetzungen für allgemein freiheitliche Tätigkeiten erweitern. Sich in der Vernetzung mit Anderen eigene (individuelle und gesellschaftliche) Ressourcen schaffen zu können, gehört deshalb zu den Voraussetzungen wie zu den Hoffnungen auf emanzipatorische Alternativen.

Aneignungsprozesse eigener Ressourcen nachzuzeichnen, erweist sich jedoch wegen der überaus hohen Komplexität der dafür relevanten Zusammenhänge als sehr schwierig. Ohne ein Minimum an Komplexität werden emanzipatorische Veränderungen aber nicht zu Alternativen des Bestehenden. (Anhand einer faktischen Rückentwicklung nicht weniger ökologischer Maßnahmen, wie der stärkeren Nutzung von regenerativen Energieträgern zu profitorientierter Anwendung von Naturkräften lässt sich das deutlich erkennen.) Der Komplexität alternativer gesellschaftlicher Veränderungen kann hier nur in Ansätzen Rechnung getragen werden.

Alternative Aneignung gesellschaftlicher Überschüsse

Die Aneignung eigener Ressourcen stärker in Gang zu bringen und diese vermehrt zugunsten emanzipatorischer Entwicklungen anzuwenden, basiert zunächst auf anderen Nutzungsweisen bestehender Potenziale. Ausgangspunkt und ein wichtiger Schritt wäre die alternative Aneignung (derzeit in patriarchalen Kapitalverhältnissen gebundener und oft verdeckter) gesellschaftlicher Überschüsse – die über die Produktion von notwendigen Mitteln zum Leben hinausgehen – zwecks Erweiterung emanzipatorischer Ressourcen. Aneignung von gesellschaftlichen Überschüssen reagiert zunächst vor allem auf die derzeit ablaufende Vermarktung der unmittelbaren Reproduktion des Lebens. Dem liegt zugrunde, dass im Verhältnis zu den klassischen Warenbeziehungen sich die Entwicklungsdynamik auf die unmittelbaren Lebenskräfte zu verlagern beginnt. Dies vor allem, weil weitgehende Sättigung mit notwendigen Mitteln zum Leben erreicht oder wenigstens erreichbar geworden ist, weil vorwiegend extensives Wirtschaftswachstum deutlich an seine Grenzen stößt, weil die Einsparung von bloßer Arbeitszeit gegenüber ihrer kreativen, intensivierten Verausgabung an Bedeutung verliert, weil die Reproduktion der Gattung sich – zumindest in Industrieländern – verlangsamt und damit die weitere Herausbildung vorwiegend extensiver Wachstumsquellen begrenzt und verhindert.

Diese Überschüsse können grundsätzlich durch alternative Bewertungen, die sich an der Reproduktion des Lebens orientieren, aufgedeckt werden. Herausbildung emanzipatorischer Ressourcen setzt voraus, zunächst partielle und schließlich alle Mittel für Bildung, Wissenschaft, Kunst usw. anders zu verwenden als bisher; mit der Begründung, dadurch dem Substanzverzehr an Lebensgrundlagen und dem zunehmenden Hinausfallen von unmittelbaren Lebens-, Produktivkräften und Produkten aus der ganzheitlichen Reproduktion des Lebens (wie in Kriegen und Bürgerkriegen) entgegenzutreten. Einen springenden Punkt hierfür bildet die gezielte Ausweitung von Tätigkeiten außerhalb von Waren- und hierarchisch organisierten patriarchalen und staatlichen Verhältnissen, was zunächst durchaus aus diesen heraus geschieht und in Kombination mit ihnen. Den derzeit zunehmenden pragmatischen Entscheidungen laut „Kassenlage“ gilt es, emanzipatorisch geprägte Herangehensweisen und deren vernetzte Folgen gegenüberzustellen. Sie würden einschließen, schrittweise und ohne Abstriche an den Leistungen, den „Sozialstaat“ in Beziehungen der unmittelbaren Vergesellschaftung, d.h. sozialer Leistungen durch reziprok organisierte Tätigkeiten aller Individuen selbst zu überführen. Das würde Veränderungen in der Umverteilungspolitik und ihre Grenzüberschreitung bedeuten, nämlich in der Weise, dass sich allmählich patriarchal und klassenmäßig abhängige Bevölkerungsgruppen durch ihr eigenes reziprok ausgetauschtes Tätigwerden gesellschaftliche und individuelle Überlebenschancen schaffen und damit soziale Ausgrenzungen überwinden. Eine allgemeine soziale Grundsicherung könnte dafür Voraussetzungen entwickeln helfen, wenn sie durch das Recht auf eigenständige Existenzsicherung im Ergebnis eigener Tätigkeit (für alle arbeitsfähigen Individuen) ergänzt wird (vgl. Braun, in: Bleibaum u.a., 77-107). Diese eigene Tätigkeit wäre letzten Endes über eine Gleichstellung aller in der notwendigen Reproduktion des Lebens und über in diese Richtung zielende Maßnahmen realisierbar, keinesfalls aber mit Vorschlägen in einen Topf zu werfen, eine „aktivierende Sozialhilfe“ massenhaft anzuwenden, d.h. als „Aufwandsentschädigung“ zur Sozialhilfe oder auch als staatlicher Zuschuss zum (Niedrig)Lohn.

Eine eigenständige Tätigkeit aller arbeitsfähigen Mitglieder der Gesellschaft zwecks Befriedigung ihrer notwendigen Reproduktionsbedürfnisse wäre eine wichtige Voraussetzung, damit alle gleichgestellt an zivilgesellschaftlichen Aktivitäten teilnehmen können. Letzteres erst ermöglicht es, persönliche Freiheit und Freiheit der anderen miteinander zu verbinden, pluralistisch die natürlicherweise unterschiedlichen Reproduktionsbedürfnisse zu vermitteln und damit schließlich Lösungswege für angestaute Reproduktionskrisen zu finden. Eigenständige Existenzsicherung erwüchse also aus unmittelbarer Vergesellschaftung sowohl der Beziehungen in der unmittelbaren Reproduktion des Lebens als auch in der Produktion von Mitteln zum Leben – und unterschiede sich dadurch auch von einem illusionären und in sich selbst widersprüchlichen „Recht auf Arbeit“, das faktisch ein Recht auf Ausbeutung darstellt.

Allgemein freiheitliche zivilgesellschaftliche Aktivitäten

Emanzipatorische Veränderungen in der unmittelbaren Reproduktion des Lebens stützen sich in diesem Beitrag vor allem auf Vorstellungen von einer im Marxschen Sinne verstandenen Befreiung „allgemeiner Arbeit“ (MEW, Bd. 25, 113f.) aus den Fesseln von patriarchalen Kapitalverhältnissen. Das bedeutet eine Befreiung aus ihrer gesellschaftlichen Organisation als Erwerbsarbeit und ihre Umwandlung in freie allgemeine Tätigkeiten, die zusammengehalten werden durch einen die Lebenskräfte fördernden Austausch der Tätigkeiten, welcher durch reziproke Austauschbeziehungen in der notwendigen ganzheitlichen Reproduktion des Lebens begründet ist und zugleich in zunehmender Weise die ökonomische Unabhängigkeit der Individuen sichern könnte. Es handelt sich dabei um eine Umwandlung der Marxschen „allgemeinen Arbeit“, die den „general intellect“ verkörpert, einmal in Tätigkeit (also nicht mehr als „Arbeit“, d.h. als Zwang organisiert) und zum anderen in Allgemeinheit (d.h. freiheitliche Tätigkeiten, ausgeübt von allen Individuen). Allgemeine Tätigkeiten gingen von vornherein über ihre jeweiligen engeren Bereiche hinaus; sie wären allgemein vernetzt, grenzüberschreitend, innovativ, zivilgesellschaftlichen Charakter tragend und eröffneten perspektivisch gesehen, besonders mit tendenziell steigenden Intensivierungspotenzialen[5] je Zeiteinheit, Freiheitsspielräume.

Die Erweiterung allgemein freiheitlicher zivilgesellschaftlicher Aktivitäten bildet eine Voraussetzung und eine Quelle, um in Richtung gleichheitlicher Umgestaltungen in der ganzheitlichen notwendigen Reproduktion des Lebens zu handeln. Dadurch entstehen intensive Entwicklungspotenziale, indem „allgemeines Tun“ eine vorwiegend intensive Entwicklung und Nutzung menschlicher Lebenskräfte sowie äußerer Naturkräfte bewirkt und sich damit selbst weiterentwickelt.[6] Auf diese Weise wären also eigene Ressourcen schaffbar. Dazu gehören Entstehung und Austausch vielfältiger unterschiedlicher Vorstellungen über Veränderungen in der ganzheitlichen Reproduktion des Lebens, deren mehrgleisige kritische Prüfung, Weiterentwicklung und Verknüpfung sowie der Kampf um eine veränderte öffentliche Meinung. Deshalb geht es nicht zuletzt darum, zivilgesellschaftliche Verhältnisse im Sinne von Gramsci zu intensivieren sowie zu demokratisieren, bis sie sich schließlich zu allgemein freiheitlichen herausbilden. Diese bisher höchstens in Ansätzen (wie in bürgerschaftlichen Bewegungen, selbstorganisierten Basisbewegungen) entwickelten Aktivitäten sind beileibe kein Selbstzweck (z. B. im Sinne des Denkens als höchstes Vergnügen des menschlichen Geschlechts), sondern beziehen sich vor allem auf pluralistisch selbstorganisierte Netzwerke von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, die ihre differenzierten vielfältigen Reproduktionserfordernisse des Lebens und ihrer natürlichen Umwelt austarieren. Sie ermöglichen ein gesellschaftliches Bewusstwerden dieser Erfordernisse, ihr Abwägen, Szenarien ihres Zusammenwirkens. Kurz gesagt, verändert in diesen Übergangsperioden das Bewusstsein das Sein.

Allgemein freiheitliche zivilgesellschaftliche Aktivitäten setzen voraus, dass alle gleichgestellt, ökonomisch unabhängig und kompetent in sie eintreten können und lösen damit grundsätzlich Veränderungen der gesellschaftlichen Arbeitsteilung (einschließlich der patriarchalen) zu Lasten einseitiger Fortschreibung von lebenslangen Funktionen an bestimmte Menschen aus. (Das gehört mit zu den Erfahrungen staatssozialistischer Entwicklungen. Denn das Festhalten an so genannten naturwüchsigen Arbeitsteilungen, wie der grundsätzlichen Verantwortung von Frauen – und zusätzlich von staatlichen Institutionen – für die Reproduktion der Gattung und die weitgehende Organisation „allgemeiner Arbeit“ in Form von gesonderten Intelligenzberufen, behinderten Demokratisierung und Entwicklung allgemein freiheitlicher zivilgesellschaftlicher Verhältnisse.) Dabei würden sich zunächst schrittweise Annäherungen an die Aufhebung der alten einseitigen Spezialisierung herausbilden: Die allgemein Arbeitenden würden durch Anwendung ihres Produkts an der unmittelbaren Reproduktion des Lebens teilhaben und zwar am reziproken Austausch der Tätigkeiten und sich dadurch für ihre eigene Reproduktion schrittweise eine Unabhängigkeit von Marktbeziehungen schaffen, welche es ihnen ermöglicht, ihre allgemeine Tätigkeit zunehmend als freiheitliche zu organisieren und immer mehr aus dem Verkauf der „allgemeinen Arbeit“ auszusteigen. Auf der anderen Seite würden sich allmählich die Netzwerke unmittelbarer Reproduktionsleistungen entfalten, so dass schließlich alle, die unmittelbare Reproduktionsarbeiten oder –tätigkeiten leisten und die diese beanspruchen, sich am reziproken Austausch der Tätigkeiten beteiligen können.

Die Herausbildung eines reziproken Austauschs von Tätigkeiten in der notwendigen unmittelbaren Reproduktion des Lebens wäre also ermöglicht im Gefolge der Befreiung „allgemeiner Arbeit“, zugleich aber ein Ausgangspunkt sowohl für eine lebensfördernde Umorientierung der Produktion als auch zwecks ökonomischer Unabhängigkeit derjenigen, welche freiheitliche Tätigkeiten ausüben, und zugunsten einer Selbsthilfe der von sozialen Ausgrenzungen betroffenen Menschen.[7] Sowohl die Verletzlichkeit derzeitiger hochkomplexer Infrastrukturen, Industrie- und unmittelbarer Lebensbereiche im Gefolge vor allem der Globalisierung und neuer Technologien sowie unübersehbar zunehmender gesellschaftlicher Anomie in vielen Regionen der Welt als auch die Ansprüche an die ganzheitlichen und allseitigen Fähigkeiten einer/s Jeden von Seiten der Aufrechterhaltung und Wiederherstellung moderner Produktiv- und unmittelbarer Lebenskräfte erfordern allgemeine Gleichheitlichkeit in den gesellschaftlichen Beziehungen. Voraussetzung hierfür wäre allerdings eine andere Ausgestaltung (mit allgemein lebensfördernden Zielen) der notwendigen unmittelbaren Reproduktionsleistungen, veränderte Strukturen und ein allgemeiner Zugang zu ihnen auf reziproker Grundlage. Hierzu gehören die Aufhebung patriarchaler Abhängigkeiten sowie der Unterbewertung von Pflege- und Betreuungsarbeiten, der Zugang aller zu notwendigen unmittelbaren Reproduktionsleistungen, wie Gesundheitsversorgung und Alterssicherung. Dass dieses angesichts der meist jahrtausendelangen Privilegierung jeweils einiger Bevölkerungsgruppen und der Verankerung von Privilegien im Alltagsbewusstsein und in den gesellschaftlichen Normen und Organisationsweisen nicht ohne deutliche Brüche für alle Menschen (privilegierte und weniger oder nicht privilegierte) abgeht, zählt zu den Herausforderungen, die auf irgendeine Weise auf alle handelnden Menschen zukommen, wenn sie versuchen, Lebensgrundlagen doch noch zu erhalten.

Alternative Systemlösungen

Eine andere Aneignung gesellschaftlicher Überschüsse erweist sich somit als ein Ausgangspunkt und als eines der Elemente von damit ermöglichten weiteren emanzipatorischen Umwälzungen. Vor allem wäre es dadurch möglich, alternative Systemlösungen für allgemeine Reproduktionskrisen zu finden (Beispiele: Gesundheitsversorgung, Allgemein- und Berufsausbildung), indem reziproke Austauschbeziehungen mit allgemein zivilgesellschaftlichen Tätigkeiten zusammenwirken. Dabei werden Szenarien von Systemlösungen durch ein sich befreiendes Tun in Gang gebracht, d.h. durch Aneignung gesellschaftlicher Überschüsse und deren Umwandlung in alternative ganzheitliche Reproduktionspotenziale des unmittelbaren Lebens. Letztere basieren auf allgemein freiheitlichen und gleichheitlichen Beziehungen, welche sich im Zuge genannter Aneignungen herausbilden. Diese Veränderungsprozesse können sich auf herangereifte Überlebens- und Entwicklungserfordernisse der unmittelbaren Lebens- und der Produktivkräfte stützen und beruhen keineswegs auf bloßen Wünschen oder irgendwelchen Idealvorstellungen. Aus ökonomischer Sicht in einem weiteren Sinne vollziehen sie sich vor dem Hintergrund längst sich entwickelnder, bisher gehemmter, mit Rückschlägen behafteter und deformierter Übergänge zu vorwiegend intensiven Reproduktionsrichtungen des Lebens. Das gilt unter patriarchal kapitalistischen Bedingungen für beide (stofflichen) Reichtumsquellen, den Menschen und äußere Natur (MEW, Bd. 23, 58, 530). Sie wären umzuorientieren auf eine allgemeine allseitige Entwicklung der Fähigkeiten und deren ebenfalls allgemeine Umsetzung in wirksamere, d.h. lebensfördernde unmittelbare Reproduktions- und Produktionstätigkeiten. Das sind solche Tätigkeiten, welche die äußere Natur überwiegend intensiv nutzen (d.h. Naturressourcen und -kräfte nicht mehr vorwiegend quantitativ erweitert einbeziehen, sondern deren Kräfte je Ressourceneinheit intensiver nutzen, wieder verwendbar gestalten und eine nachhaltige Reproduktion der natürlichen Umwelt der Menschen gewährleisten) und je Zeiteinheit der unmittelbaren Lebenstätigkeiten aller Individuen reichhaltigere unmittelbare Lebenskräfte, darunter erweiterte allgemein freiheitliche hervorbringen. Ein gleichheitliches notwendiges und ein allgemein freiheitliches Tun bedingen sich hierbei wechselseitig, mit dem Zweck einer ganzheitlichen Reproduktion des Lebens. Es geht hierbei um nichts weniger als um eine Neuorganisation des „Reichs der Notwendigkeit“ aus der Sicht einer ganzheitlichen Reproduktion des Lebens auf Grundlage gleichheitlichen Tuns und damit gleichheitlicher Beiträge aller. Das ermöglicht es, ungleiche Eigenschaften, Fähigkeiten usw. aller Individuen reichhaltig zu entfalten – auch zugunsten lebensfördernder „Spitzenleistungen“ – und hat nichts mit einem naturalistischen Gleichsein oder einer Gleichmacherei zu tun. Diese Neuorganisation würde allgemein freiheitliche Betätigungen erlauben. Sie würde zugleich zur Ökonomisierung im ganzheitlich gesehenen „Reich der Notwendigkeit“ motivieren.[8] Mit der Entfaltung von Fähigkeiten erhalten schon seit Längerem erhobene entsprechende Menschenrechtsforderungen politisches Gewicht (u.a. Nussbaum, Sen).

Freiheit wird hier im Anschluss an Aristoteles (vgl. auch M. Nussbaum) auf die Art und den Inhalt einer „allgemeinen“ Tätigkeit bezogen, die aber hierbei allen zugänglich ist und alle unbegrenzt geistig-kulturell bereichern kann. Unter Bedingungen einer allgemeinen sozialen Gleichstellung bezöge sich Freiheit logischerweise auf die Tätigkeiten selbst, auf ihre potenziell grenzüberschreitende Entfaltung – im Vergleich zur begrenzenden und begrenzten notwendigen Tätigkeit. Allgemeine Freiheit begründet ein universelles Menschenrecht auf allgemeine Tätigkeit. Sie grenzt sich zur Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit gemäß den Normen der bürgerlichen Gesellschaft (Kant) ab, ist auch ungleich der Unverbindlichkeit bis hin zur Leerformel, welche sie z. B. bei Dahrendorf annimmt. Die angestrebten gleichheitlichen und allgemein freiheitlichen Beziehungen bilden eine Voraussetzung, damit vorwiegend intensive Entwicklungsfaktoren sich frei entfalten können. Mit denen wiederum wären die Individuen in der Lage, oben genannte lebensfördernde Beziehungen hervorzubringen, auszubauen und nachhaltig zu gestalten. Systemlösungen, welche die Lebenskräfte reichhaltig entwickeln und intensivieren, wären faktisch das Ergebnis, mit dem allgemein freiheitliche zivilgesellschaftliche Beziehungen auf die Fortsetzung der Reproduktion wirkten. Systemlösungen entstünden zu einem Netzwerk, in dem Zugang erhält, wer reziproke Leistungen hinsichtlich der ganzheitlichen notwendigen Reproduktion des Lebens einbringt, d.h. die unmittelbare Reproduktionszeit und die allseitigen Fähigkeiten je Zeiteinheit erweitert.[9] Solche Netzwerke würden zugleich befördern, dass der Anteil allgemein freiheitlicher Tätigkeiten bei denen steigt, die heute noch weitgehend davon ausgeschlossen sind.

Literatur

Beck, U. (1997): Erwerbsarbeit durch Bürgerarbeit ergänzen, in: Kommission für Zukunftsfragen der Freistaaten Bayern und Sachsen. Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit in Deutschland. Entwicklung, Ursachen und Maßnahmen – Teil III, S. 146-168.

Braun, A. (2000): Soziale Grundsicherung. Entkopplung von Arbeit oder Arbeitspflicht?, in: Bleibaum, B./Braun, A./Drauschke, P. u.a.: Die Arbeit als Menschenrecht im 21. Jahrhundert. Beiträge zur Debatte über einen alternativen Arbeitsbegriff, Berlin, S. 77-107

Braun, A. (1998): Arbeit ohne Emanzipation und Emanzipation ohne Arbeit, Berlin

Dahrendorf, R. (2003): Auf der Suche nach einer neuen Ordnung. Vorlesungen zur Politik der Freiheit im 21. Jahrhundert, 3. Aufl., München

Esping-Andersen, G. (1990): Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge/Oxford

Giddens, A. (2001): Die Frage der sozialen Ungleichheit, Frankfurt/Main

Gorz, A. (2000): Arbeit zwischen Misere und Utopie, Frankfurt a. M.

Gramsci, A. (1991ff.): Gefängnishefte. Berlin/Hamburg, Bde. 2,3,5,6,7.

Hardt, M. /Negri, A. (2002): Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt/New York

Holloway, J. (2002): Die Welt verändern, ohne die Macht zu übernehmen, Münster

Huber, E./Langbein, K. (2004): Die Gesundheitsrevolution. Radikale Wege aus der Krise – was Patienten wissen müssen, Berlin

Lemke, Th. in: Bröckling, U. u.a. (Hg.) (2000): Gouvernementalität der Gegenwart, Frankfurt am Main

Marx, K.: Das Kapital, Bd. I-III, MEW, Bd. 23, Berlin 1962; Bd. 24, Berlin 1963; Bd. 25, Berlin 1964

Nussbaum, M. C. (1999): Gerechtigkeit oder Das gute Leben, Frankfurt/Main

Pongratz, H. J./Voß, G. G. (2003): Arbeitskraftunternehmer. Erwerbsorientierungen in entgrenzten Arbeitsformen, Berlin

Poullain, L. (2004): Bank und Ethos? Maxime oder Lästigkeit? – Dokumentation einer ungehaltenen Rede, in: Berliner Zeitung Nr. 162 v. 14. Juli 2004, S. 9

Rifkin, J. (2000): Access. Das Verschwinden des Eigentums, Frankfurt/Main

Sen, A. (2000): Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München

[1] Zur Abgrenzung der Reproduktionsbereiche vgl. Braun 1998, 20/21.

[2] Die „Lebenskräfte“ setzen sich aus den „Produktivkräften“ und den „unmittelbaren Lebenskräften“ zusammen.

[3] Das variable Kapital, d.h. der in Arbeitskraft umgesetzte Teil des Kapitals, der seinen Wert im Produktionsprozess verändert. Er reproduziert sein eigenes Äquivalent und einen Überschuss darüber, Mehrwert (vgl. MEW 23, 224) – Anm. d. Red.

[4] Wenn mensch über seine unmittelbare Lebenskraft kaum noch selbst verfügen kann, wie soll er dann Besitzer seiner Arbeitskraft bleiben und diese verkaufen können?

[5] Intensivierungspotenziale umfassten hierbei: Zunahme der unmittelbaren Reproduktionszeit (einschließlich der Einflüsse der äußeren Natur) und besonders des Anteils allgemein freiheitlicher unmittelbarer Reproduktionszeit, bei Zunahme der Fähigkeiten je Zeiteinheit.

[6] Zeitlich und räumlich erweist sich das als überaus differenzierter Prozess, zersplittert, mit Rückschlägen; ein Prozess, der bereits mehr oder weniger ausgeprägt zunächst als Begleitung vorwiegend extensiver Entwicklungen mit Beginn patriarchal kapitalistischer Reproduktion einsetzte und sich im Übergang zu postindustriellen Trends verstärkte.

[7] „Gratisökonomie“ in Projekten gegenseitiger Hilfe, in der die Selbstentfaltung und Bedürfnisbefriedigung von Einkommen losgelöst sei und damit die Erwerbsarbeit von praktischer Seite aus kritisiert werde, stellt sich noch nicht als eine gesellschaftliche Umorientierung dar. Sie ist an ein profitorientiertes gesellschaftliches Umfeld gebunden. Unter gleichgestellten Beziehungen gäbe es gar keine „Gratisökonomie“, sondern Jede/r hätte seinen tendenziell gleichheitlichen Beitrag zu leisten. Befreiung von patriarchalen und Klassenbeziehungen bildet dafür eine wichtige Voraussetzung und damit auch die Befreiung von Warenbeziehungen. „Naturwüchsige Impulse des Gebens und Nehmens“ können Reziprozität nicht ersetzen. Im „Reich der Notwendigkeit“ gibt es grundsätzlich keine Wahl zwischen Tun oder Nichttun, denn es geht hierbei um das Überleben. Notwendigkeit der Reproduktion des Lebens kann und wird zwar gemildert, aber nie abgeschafft werden.

[8] Würden die Tätigkeiten in der ganzheitlichen notwendigen Reproduktion des Lebens keine Ökonomisierungen zustande bringen (also Einsparungen von Zeit und weitere Entfaltung der Fähigkeiten), dann würden Möglichkeiten für allgemein freiheitliche Tätigkeiten reduziert. Damit würde auch die erneute Reproduktion von Intensivierungsquellen gehemmt, was rückwirkend ebenfalls das Niveau der notwendigen Reproduktion des Lebens beeinträchtigen würde. Da der Austausch von Tätigkeiten grundsätzlich auf reziproker Grundlage erfolgte, stünden also weniger Potenziale für freiheitliche zivilgesellschaftliche Tätigkeiten zur Verfügung, was wiederum Quellen für neue Hierarchisierungen beförderte. Schließlich könnten auch die notwendigen Bedürfnisse weniger befriedigt werden. Da niemand von den jeweils aktiven Menschen mehr anderen notwendige Tätigkeiten abnimmt – „Arbeit“ wird ja zu „Tätigkeit/Tun“ -, müssten also alle motiviert sein, weitere Intensivierungsquellen zu erschließen.

[9] Weitergehende Vergesellschaftungsprozesse sind hierbei, wie z. B. in der Gesundheitsversorgung, sowieso angesagt, da der Staat sich zunehmend seinen Verpflichtungen entzieht und zudem Pharmaindustrie und Teile der Ärzteschaft bereits heute nicht mehr auf Beförderung des Wohlbefindens und seine Wiederherstellung bei Kranken orientieren. Auf Dauer wird eine profitorientierte „Gesundheitsindustrie“ für die Mehrzahl der Menschen nicht mehr tragbar sein und es werden sich Formen unmittelbarer Vergesellschaftung entwickeln (in Tauschringen sind bereits heute partiell therapeutische Leistungen angeboten) und so könnten sich an Geld arme Menschen mit ihren speziellen Arbeiten potenziell eine gesundheitliche Versorgung erarbeiten.